Kitabı oku: «Die Burnout Lüge», sayfa 2

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Burnout – aber wovon reden wir hier eigentlich wirklich? Der apokalyptische Reiter am Horizont

Markus ist gerade 38 Jahre alt geworden und hat alles erreicht, was man sich in diesem Alter wünschen kann und worauf man nach einem Abschluss summa cum laude und entsprechenden Postgraduate-Studien an einer amerikanischen Eliteuniversität hoffen darf. Ein schmuckes Innenstadtappartement in Frankfurt, weil dort das Hauptbüro seines Dienstgebers, eine global operierende Unternehmensberatung, stationiert ist, jede Menge maßgeschneiderter Anzüge, den obligaten Sportwagen, Vorgesetzte, die ihn rund um den Globus hetzen und dabei große Stücke auf sein Verhandlungstalent, seine Lösungskompetenz und seine „behavioural flexibility“ halten. Sein innerbetriebliches strategisches Beziehungsmanagement ist großartig und immer am Puls der Zeit. Nie sieht man ihn mit den „falschen Leuten“ ein Bier nach Dienstschluss trinken, der sowieso weit in den Nachtstunden liegt. Markus ist ein Mann mit Zukunft, nicht nur mit genagelten Schuhen.

Markus ist aber seit einiger Zeit auch ein Mann mit einem Problem, das so ernste Dimensionen anzunehmen droht, dass mich dieser Strahlemann, der jederzeit bei einer Football-Mannschaft anheuern könnte, nach einem Vortrag anspricht und um einen Termin in meiner Praxis bittet. In dem, was ich gerade beschrieben habe, würde er sich zu genau abgebildet wiederfinden, um noch weiter wegsehen zu können. Jedes Telefonat wäre schon längst eine Qual für ihn, jede Auslandsreise ein Martyrium, und das, wo er zumindest zweimal die Woche nach Wien und von dort oft noch weiter in den SO-europäischen Raum fliegen müsse. Zumindest hätten wir auf diese Weise keine Probleme bei der Terminfindung, wenn ich flexibel mit Randzeiten sein könnte, meint er. Außerdem würde ich das Ganze dann ja sozusagen gleich „live“ erleben und behandeln können.

Er befürchtet nämlich, dass er sich so etwas wie eine Flugneurose zugelegt hat. Er durchläuft immer ärger werdende Panikattacken, sobald er in den Flieger steigt. Bis jetzt ist es ihm gelungen, das Ganze zu verbergen, aber wenn er sein Grundgefühl beschreiben müsste, so ist es, als würde seine gesamte Energie aus ihm herausfließen. Er fühlt sich zunehmend leer, ausgehöhlt. Schon morgens beim Aufwachen kommt ihm der Tag wie ein unüberwindbarer Berg vor, der drohend vor ihm steht. Hartnäckige Rückenschmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule quälen ihn nahezu den ganzen Tag und haben ihm das Jogging verleidet. Aber auch das scheint bereits egal, er findet sowieso nicht die Kraft, sich dazu aufzuraffen. Eigentlich möchte er sich nur mehr verstecken, mit niemandem reden müssen, die Decke über den Kopf ziehen, keine Präsentationen mehr halten oder Verhandlungen führen und dabei noch souverän wirken. Natürlich hat er sich mit Aufputschmitteln beholfen und in den letzten Monaten auch eindeutig zu viel Koks konsumiert, aber dieses Sinnlosigkeitsgefühl, das aus der Tiefe in ihm aufzusteigen droht, ist so unerträglich …

Und da ist dann noch die Sache mit Sabine, ursprünglich eine bequeme erotische Freundschaft in Wien, ohne feste Bindungsabsicht mit wechselseitigem Einverständnis der sexuellen Gebrauchskultur schwer beschäftigter Karrieremenschen. Sabine ist jetzt schwanger und hat ihn davon in Kenntnis gesetzt, dass sie mit 36 Jahren und im Hinblick auf das Karriereplateau, das sie erreicht hat, den Zeitpunkt für günstig hält und das Kind bekommen wird. Gleichzeitig damit hat sie ihn, Markus, entsorgt-fairerweise ohne weiteren Alimentationsanspruch. Er ist also ein Samenspender ohne weitere Verwendung. Wenn er es genau bedenkt, hatte gerade damit sein Zustand eine dramatische Wendung zum Negativen erfahren …

Manuela ist eine bildhübsche junge Frau. Nur dieser etwas leere Gesichtsausdruck, der auf eine langfristige Psychopharmakaeinstellung hinweist, um möglichst emotionsbereinigt durch den Alltag zu kommen, rückt ihre äußere Erscheinung und Geschichte in ein Licht, das die Ereignisse der letzten Monate glaubwürdig erscheinen lässt. Sie hat es nämlich von außen betrachtet total fein getroffen, das große Los gezogen, wie alle ihre Freundinnen sicher neidvoll zugeben müssten. Manuela ist mit Paul verheiratet, der knappe fünfzehn Jahre älter als sie, dafür ein Immobilienmagnat der Wiener Innenstadt ist. Sie genießt mit ihm und ihren beiden Kindern ein sorgenfreies Leben. Eine Nanny, eine Haushälterin und ein Gärtner bilden eine stabile entlastende Organisationsstruktur, Paul ist für Männer seiner Finanzklasse vergleichsweise aufmerksam und, von situativen Ausrutschern abgesehen, treu, und Manuela kann sich neben der Betreuung ihrer Kinder und dem Gesellschaftsleben mit Paul der eigenen Instandhaltung ohne wesentlicher Einschränkung widmen. Wie kann also jemand mit einem derartig sorgenfreien Leben von zunehmenden Überforderungsgefühlen, gehäuften Attacken von Herzrasen, die von den besten Internisten vermessen und als nicht somatisch begründet attestiert sind, gravierenden Schlafstörungen, die ohne entsprechende Medikation unbeherrschbar anmuten, und einem generellen Gefühl steigenden Lebensüberdrusses berichten. Burnout – oder doch eher „Bore-out“, aber vielleicht liegt das ja nicht zu weit voneinander entfernt. In den letzten Wochen ist es Manuela erst um die Mittagszeit gelungen, ihr Bett zu verlassen und die Morgentoilette zu bewältigen. Wenn die beiden Kinder aus der Schule gebracht wurden, löste deren Lebendigkeit und Wunsch nach Kommunikation nur Verzweiflung bei ihr aus. Paul hatte, was als ein durchaus ernstzunehmendes Problem gesehen werden muss, bereits mehrere Abendveranstaltungen ohne sie wahrnehmen müssen, da sie der Gedanke, auf so viele fremde Menschen zu treffen, in unstillbare Weinkrämpfe gestürzt hatte.

Dabei fühlt sich Manuela nicht wirklich deprimiert. Ihr vorherrschendes Gefühl ist einfach totale Erschöpfung, bleierne Gliedmaßen, unendliche Müdigkeit, als wäre sie ihr ganzes Leben durch eine Wüste geirrt und würde jetzt nicht mehr können. Endlos lange ist ihr unerklärliches Verhalten für Paul sicher nicht mehr tragbar, so denkt sie selbst …

Process in progress

Friedrich ist ein 46-jähriger, etwas ängstlich strukturierter Postbeamte. Ein hartnäckiges, feinschlägiges Zwinkern hat sich in seinem rechten Oberlid eingenistet. Es mutet fast so an, als würde er mit mir in eine Art nonverbalen konspirativen oder gar auffordernden Dialog treten wollen, während er seine Geschichte erzählt. Aber Friedrich ist alles andere als zu Scherzen oder Anmache aufgelegt. Immer wieder blickt er sich hastig nach imaginärer Bedrohung in meinem Sprechzimmer um, um dann wieder den Kopf wie eine Schildkröte zwischen seinen hochgezogenen Schultern zu verstecken. Begonnen hat alles, wie er zu diesem Zeitpunkt unseres ersten Anamnesegesprächs noch glaubt, mit dieser verdammten Umstrukturierung und seiner damit unvermeidlichen Versetzung von der Paketverwaltung zum Schalterdienst. Die Verantwortlichkeit für die Kassaführung stresst ihn so, dass er in einem Kreislauf von Angst, Schlaflosigkeit und Auslieferungsgefühlen versinkt. Längst hasst er alle Schalterkunden aufs Tiefste. Er fühlt sich von ihnen feindselig beobachtet und von ihrer Ungeduld unter Druck gesetzt. Dazu kommt, dass er sich, immer schon zur körperlichen Selbstbeobachtung neigend, physisch sehr angegriffen fühlt. Ein Infekt löst den anderen ab. Den ganzen Winter und Frühling über leidet Friedrich unter nie wirklich ausheilenden grippalen Infekten, die er dem Schalterdienst zuschreibt. Aber auch im Frühsommer wird es nicht besser. Das grundsätzliche Gefühl von Schwäche, Auslieferung und hohem Stress schon am Morgen zu Arbeitsbeginn sind ihm zu viel. Immer wieder muss er unter den verschiedensten Vorwänden und körperlich vielgestaltigen, diffusen Beschwerdebildern, die eine ausgedehnte ergebnislose Gesunden-Untersuchung nach sich ziehen, Pausen im Rahmen von Krankenständen einlegen.

Dann wird bei seiner Frau, die eine besonders stützende Funktion für seine Persönlichkeit übernommen hatte, eine chronische Autoimmunerkrankung festgestellt. Der Fokus der Aufmerksamkeit verschiebt sich zwangsweise. Aufwändige Untersuchungen, Krankenhausaufenthalte, eine Operation und ein längerer Kuraufenthalt folgen. Friedrich allein zu Haus erlebt eine völlige Dekompensation seiner Beschwerden. Abends konsumiert er größere Mengen Alkohol, um seine Ängste vor dem nächsten Tag niederkämpfen zu können. Auf der Fahrt mit der U-Bahn zum Arbeitsplatz häufen sich plötzlich auftretende Attacken von Panik und Atemnot, die ihn zwingen, vorzeitig auszusteigen. Schließlich kommt es bei ihm zu einem Gesamtzusammenbruch, der eine achtwöchige Stationierung auf einer neurologischen Abteilung nach sich zieht. Jetzt sitzt er zur Nachbetreuung bei mir …

Sonja ist 44 Jahre alt und Verkaufstrainerin in der hausinternen Schulungsakademie eines internationalen Wäschekonzerns. Eine große, schlanke Frau mit grundsätzlich äußerst gepflegtem Auftreten, das jedoch nun einige Zeichen von „Verwilderung“ trägt und gerade noch von der Selbstverständlichkeit jahrelanger Disziplin vor dem Abrutschen in die Ungepflegtheit bewahrt wird. Disziplin in ihrer eisernen Form zählt sicher zu Sonjas lebensbestimmenden Grundkompetenzen.

Als sie nach einer kargen, von Verlusterlebnissen geprägten Kindheit als Lehrmädchen für den Einzelhandel in den Konzern eintritt, erscheint ihr dies die erste wirkliche Chance in ihrem Leben auf Anerkennung und eine selbständige Zukunft. Die Dienstkleidung verleiht ihr Zugehörigkeit, ihre Filialleitung schätzt sie wegen ihres unermüdlichen Einsatzes, ihrer schnellen Auffassungsgabe und hohen Teamfähigkeit. Rasch gelingt ihr – entsprechend der Politik des Konzerns, Identifikation mit dem Unternehmen zu honorieren – der Aufstieg zur Leitung einer eigenen Filiale an einem prestigereichen, stark frequentierten Standort. Als Führungsverantwortliche zeigt sie auffallende Umsicht und ist bei ihren Mitarbeiterinnen wegen ihrer stark prosozialen Haltung enorm beliebt. Es wundert niemanden, dass Sonja in das kleine Entwicklungsteam geholt wird, dem auf Vorstandsbeschluss der Auftrag zuteil wird, eine interne Schulungsakademie aufzubauen. Sonja ist in ihrem Element und wirft sich mit einer weiteren Kollegin und einer älteren Vorgesetzten voll Elan in die Gestaltung dieser Aufgabe. Inzwischen ist sie 34 Jahre alt, bei ihren Schwestern und Freundinnen hat sich längst Nachwuchs eingestellt, und auch Sonjas Ehemann Bernhard fühlt sich für die Vaterrolle bereit.

Doch der Moment scheint Sonja äußerst ungünstig für Schwangerschaft und nachfolgende Karenz, wenn sie das Entwicklungsprogramm für das Verkaufspersonal ins Kalkül zieht, das es umzusetzen gilt. Das bleibt auch so, sodass sie, als sie zwei Jahre später durch einen Verhütungsfehler schwanger wird, gegen den Protest ihres Mannes und aus dem Gefühl heraus, ihre Kolleginnen und die ganze Aufbauarbeit sonst zu verraten, eine Abtreibung vornehmen lässt. Sie tut das, obwohl sie ihren eigenen Kinderwunsch stark wahrnimmt und nachfolgend monatelang unter Alpträumen und Schlafstörungen leidet. Längst lebt Sonja nur mehr für ihre beruflichen Ziele. Ein zunehmender Energiemangel, der im krassen Gegensatz zur Forderung steht, als Trainerin eine stets perfekte, optimistische und mitreißende Aura zu besitzen, höhlt sie zunehmend aus. Sie zieht sich von ihren Freunden zurück, erlebt sich von ihnen missverstanden. In der Beziehung kommt es zu einem beginnenden Abrücken der Partner von einander. Als sie anlässlich ihres vierzigsten Geburtstags auch das Thema „Kinder“ für abgeschlossen erklärt, entsteht ein endgültiger Riss in der Paarbeziehung. Es wird noch knapp zwei Jahre dauern, bis ihr Mann sie eines Abends mit der Eröffnung überrascht, dass eine andere Frau von ihm schwanger sei und er nun die Scheidung möchte. In der Zwischenzeit hatte sich zwischen dem Ehepaar eine Decke zunehmenden Schweigens über den darunter liegenden Schwelbrand gebreitet.

Der Konzern expandiert und Sonja fällt die Personalentwicklung in den neuen Filialen im Ausland zu. Ein weiterer Höhepunkt ihrer Karriere, den sie allerdings nur mehr mit Medikamenten und verschiedenen Aufputschmitteln durchhält. Abends, in den immer gleichen Hotelzimmern, befällt sie ein dumpfes Sinnlosigkeitsgefühl, das sich nur mit großen Mengen von Alkohol dämpfen lässt. Zu diesem Zeitpunkt verlässt sie ihr Mann endgültig. Nur die zufälligerweise von ihrer Vorgesetzten gegebene Versprechung, ihr die Leitung der Schulungsakademie zu übergeben, die diese selber wegen einer soeben diagnostizierten Krebserkrankung zurücklegen muss, scheint sie vor dem Absturz in den gähnenden Abgrund zu retten.

Doch der Vorstand entscheidet anders. Die inzwischen prestigeträchtige Schulungsakademie soll eine akademische Leitung erhalten. Sonja ist aus dem Rennen und muss sich einer jüngeren, in Führungsfragen unerfahrenen Vorgesetzten unterordnen. Das Verhältnis zwischen den Frauen ist von Beginn an starken Spannungen ausgesetzt. Sonja leidet das erste Mal in ihrem Leben unter Schwierigkeiten, sich für Ihre Arbeit zu motivieren. Sie verpasst ihre Flüge, reagiert unbeherrscht in den von ihr moderierten Gruppen, bekommt erstmalig negative Feedbacks zu ihrer Schulungstätigkeit und entwickelt hartnäckige Schlafstörungen. So kommt es, als Sonja einmal völlig übermüdet einnickt, zu einem durch einen Adventkranz verursachten Zimmerbrand, bei dem sie mittelgradige Verbrennungen an einer Hand und an einem Oberschenkel erleidet und hospitalisiert werden muss. Bereits während des Spitalsaufenthalts treten massive Angst- sowie Versagensgefühle auf. Der Gedanke, nach dem Krankenstand wieder in ihr Unternehmen zurückzukehren, erscheint ihr unerträglich. Weinattacken und ein nachfolgender gänzlicher psychischer Zusammenbruch führen noch während des Spitalsaufenthalts auf der Dermatologie zur Einleitung der psychiatrischen Behandlung.

Wenn der Vorhang fällt

Margret ist 46 Jahre alt und am Ende, wie sie gleich zu Beginn festhält. Ihr Blick spricht von Flucht vor einem unsichtbaren Feind, dem sie sich schon längst ergeben hat. Zur Konsultation kann sie nur in Begleitung ihres Mannes Robert erscheinen, der drei Jahre älter als Margret ist und die Terminvereinbarung an ihrer Stelle getroffen hat. Sie hätte, so erklärt sie, das nicht mehr geschafft. Auch besteht sie darauf, dass Robert sie ins Sprechzimmer begleitet, ein Wunsch, den er ihr etwas widerstrebend erfüllt.

Etwa zur Mitte der Sitzung schicke ich ihn hinaus. Es wird deutlich, dass Robert von der Situation mit Margret bereits sehr konsumiert ist, ihm das Ganze selber schon gehörig zugesetzt hat und ganz dringend etwas geschehen muss, weil er sonst nicht mehr weiter mitspielt. Dabei wirken die beiden auf den ersten Blick wie ein durchschnittliches Paar in den mittleren Jahren. Ein Paar, das sich einen gewissen Lebenswohlstand und fast schon Unabhängigkeit von den beinahe erwachsenen Kindern erarbeitet haben könnte, in gesicherten beruflichen Positionen ohne Turbulenzen untergebracht erscheint und dessen größte Herausforderung nun in einer optimalen Gestaltung dieser mittleren Jahre liegen könnte. Auch wenn vieles diesen ersten Eindruck zu bestätigen scheint, ist es bei näherer Betrachtung doch ganz anders und beinhaltet viel mehr als eine Krise zwischen Margret und Robert.

Dabei war Margret, die Frau, die mir jetzt mit fettigen, ungewaschenen Haaren gegenübersitzt, eigentlich immer eine „brave“ Frau gewesen. Genauso, wie sie zuvor ein „braves“ Kind war, das seinen Eltern wenig Probleme bereitet und nach der Matura rasch begriffen hatte, dass es viel aussichtsreicher ist, in den Staatsdienst einzutreten, statt ihrem brennenden Interesse für Pflanzen mit einem Botanikstudium oder ähnlich wirren Ideen nachzugeben. Das bestätigte sich auch durch die recht frühe Ehestandsgründung mit Robert und die rasch aufeinanderfolgenden Geburten der beiden ersten Söhne, die heute beide sehr erfolgreich studierten. Als Finanzbeamtin trug Margret zwar unspektakulär und freudlos, jedoch planbar und zuverlässig zum Familieneinkommen bei, seit der jüngere Sohn in die Schule eingetreten war.

Erwartungen zu erfüllen, war immer Margrets oberste Maxime. Das lässt sie nach außen zielorientiert bis ehrgeizig sowie genau und zuverlässig wirken und bereitet ihr im Inneren beständigen Stress. Im Amt nimmt sie eher eine Außenseiterposition ein. Ihre Rolle als „Finanzprüferin von Unternehmen“ setzt ihr enorm zu. Nirgends fühlt sie sich willkommen, beständig hat sie das Gefühl, dass man ihr ausweichen, etwas vor ihr verbergen will. Ihre Arbeitsbelastung steigt beständig an, da es ihr äußerst schwer fällt, sich gegen Kollegen abzugrenzen, ebenso der „Erfolgsdruck“ und die Vorgabe, unnachgiebig zu sein. Die Organisation des Familienlebens lastet zusätzlich nahezu vollständig auf ihren Schultern, die Erziehung von inzwischen drei Söhnen inklusive. Robert hat seinerseits mit dem Thema Abgrenzung keine Probleme, seine Hobbys sind ihm heilig und, wie Margret meint, wichtiger als sie. Als der jüngste Sohn eine sehr schwierige Pubertät durchlebt, in der Maturaklasse vorzeitig ohne Abschluss von der Schule geht und sie dafür von Robert wegen ihrer Nachgiebigkeit als Verantwortliche gesehen wird, beginnt ihr Leben aus den Fugen zu geraten. Der Finanzdruck, um die Kreditraten für das Einfamilienhaus, die Lebenskosten der drei noch wirtschaftlich abhängigen Söhne und die Erhaltung von Roberts Segelboot, das an der kroatischen Küste ankert, zu bestreiten, ist die Eintrittspforte für einen Kreislauf von Ängsten, Schlafstörungen und zunehmenden Überforderungsgefühlen. Im Amt fühlt Margret sich ihren Anforderungen nicht mehr gewachsen. Ihre Genauigkeit, ja ihr Perfektionsstreben, konsumiert zu viel Zeit. Sie beginnt, offene Akte mit nach Hause zu nehmen, ursprünglich, um diese in der Freizeit zu bearbeiten. Doch daraus wird nichts. Auch daheim scheinen die Wogen des Unerledigten immer mehr über ihr zusammenzuschlagen. Ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Leere macht sich in ihr als Grundeinstellung breit. Beständig oszilliert sie zwischen Krankenstand und ein paar wenigen Tagen im Amt hin und her. Daneben quälen sie nervöse Durchfälle und Zitteranfälle. Der Stapel der unerledigten Akten wächst auf ihrem Nachttisch und neben ihrem Bett. Schließlich erträgt sie es nicht mehr und lagert die Finanzakten in den Gartenschuppen aus, wo sie von Robert knapp vor unserem ersten Termin gefunden werden….

Anka, 52 Jahre alt, im Hauptberuf Stationsschwester auf einer chirurgischen Abteilung und ansonsten, wie sie meint, 24-Stunden-Pflegekraft für ihren Partner, bringt Michael, 56 Jahre alt, in meine Praxis. Nach zehn Jahren Beziehung mit ihm kann sie einfach nicht mehr weitermachen und gleichzeitig weiß sie nicht, wie sie aussteigen soll. Sie selbst fühlt sich schon seit geraumer Zeit dem eigenen Zusammenbruch nahe. Eigentlich hätte das eine Paartherapie werden sollen…

Michael war praktischer Arzt, bis er vor zehn Jahren, gerade als er Anka kennenlernte, in Konkurs ging. So wie er vor mir sitzt, mutet es an, als müsse dies in einem anderen Leben gewesen sein. Wir sind per Du, entscheidet er kurzerhand und fällt sofort in einen Ton kollegialer Vertrautheit. Sein Haar ist dünn und strähnig und gibt den Blick auf ein breitflächiges Hautekzem auf der Kopfhaut, das sich bis auf die Stirn ausgebreitet hat, frei. Auch auf den Armen und seinen nackten Beinen, die aus knielangen Shorts ragen, stehen zahllose Pusteln und entzündete Kratzspuren eines juckenden Ausschlags in Konkurrenz miteinander. Während er mit einem etwas singenden Tonfall spricht, tauchen immer wieder ein paar verbliebene dunkle Zahnstummel auf. Die Zeige- und Mittelfinger beider Hände sind tief nikotingelb verfärbt und haben hartnäckige Schmutzspuren unter den Nägeln. Anka hat sich sicher Mühe gegeben, ihn auf Vordermann zu bringen und ihn in sauberes Gewand gesteckt. Aber der Mann ist ungepflegt, hat seine Körperhygiene im Sinne eines eigenen Anliegens längst abgeschrieben. Er ist ein eindeutig „Verloschener“. Egal, was er einmal war, heute sind nur mehr ausgebrannte Ruinenreste auf dem Weg zum endgültigen physischen Kollaps geblieben. Unruhig nestelt er an seiner Kleidung oder der Polsterung meines Sprechzimmersofas herum, während er erzählt. Eine Riesenpraxis hat er geleitet, die größte im Bezirk, bis zu 120 Patienten pro Tag, drei Ordinationshilfen. Ich nicke anerkennend, und er traut mir zu, einschätzen zu können, was das bedeutet. Daneben Rettungsarzt, Schularzt, als Konsilar die Betreuung eines Pensionistenheims und ein paar andere Nebentätigkeiten. Was sich eben so anbot. Dreimal verheiratet. Das kostet. Er macht eine Pause, bevor er die Details des Scheiterns dieser Ehen und die damit verbundene Kostenschätzung ausrollt. Ein Sohn, noch aus der Turnuszeit. Eine der üblichen Krankenschwesterngeschichten, winkt er ab, nichts Fixes, aber er hat immer pünktlich seine Alimente gezahlt, bis vor wenigen Jahren. Der Sohn hat schließlich lange studiert. Dreimal hat er ihn in seinem Leben gesehen. Früher wollte er nicht, war zu beschäftigt, jetzt hat der Sohn zu viel zu tun.

Sein Zustand ist Michael bewusst. Aber da kann man nichts mehr machen, meint er. Er fühlt sich wie ein leerer Sack, auch wenn er mehr nach dem Gegenteil aussieht, wobei er auf seinen aufgeschwemmten Bauch klopft. Das ist der Alkohol, gibt er freimütig zu. Braucht er zum Schlafen, gemeinsam mit einer Latte von entsprechenden Medikamenten. Er kennt sich da aus und ein paar Apotheker im Umkreis geben ihm, was er braucht. Schließlich haben die Knaben ja viele Jahre gut an seinen Verschreibungen verdient. Mit mir geht’s bergab, meint er in einer seltsam sich selbst entfremdeten Art. Drei Lungenentzündungen vergangenen Winter, keine Widerstandskraft mehr, die Niere spielt auch nicht mehr lange mit und die Ekzeme vergehen selbst unter antibiotischer Dauermedikation, die er sich selbst verordnet hat, nicht mehr. Er kratzt sich aufwändig und ungeniert am Kopf, und Hautschuppen und Teile der Verkrustungen landen auf der Polsterung. Im Prinzip geht gar nichts mehr. Bis er aus dem Bett kommt, ist früher Nachmittag, dann zwei Stunden bis er sich so einigermaßen betriebsfähig fühlt, vielleicht ein Einkauf bei einem Diskonter, dann warten auf Anka, aber da hat er schon lange die erste Flasche aufgemacht…

Sechs, zugegeben ausgesuchte, Fallgeschichten aus meiner Praxis. Sechs Lebensgeschichten nenne ich das lieber, obwohl ich mit dem Nomenklaturwechsel von „Fallgeschichte“ zu „Lebensgeschichte“ das professionelle Terrain der Ärztin und Psychotherapeutin zu verlassen drohe und auf etwas schlüpfrigen Boden gelange, wenn ich nicht mehr in erster Linie die Person als Fallgeschichtenträger sondern auf sehr persönliche Art einen Menschen mit seinem Erleben vor mir sehe.

Wenn wir Mediziner uns einem Sachverhalt nähern, und das kann dann auch eine Erkrankung, ein ganzer Körper, beziehungsweise ein Teil davon sein, oder auch ein Patient, so erfolgt dies auf beschreibende Art. Diesem deskriptiven Modell haftet der Nimbus von Objektivität, Mess- und Wägbarkeit, also nach landläufiger Meinung von Wahrheit an. Außerdem schafft es Distanz zum Gegenüber. Auf diese Art bringen wir Licht ins Dunkel des Geschehens, denn diesem reduktionistisch-mechanistischen Ansatz liegt die Idee zu Grunde, dass, wenn wir alles immer weiter bis in seine Einzelteile, möglichst bis ganz runter auf atomare oder gar subatomare Ebene zerlegen und beschreiben, es also katalogisieren, wir die letztendliche Erkenntnis zum „So-sein“ des vorliegenden Dings vor uns liegen hätten.

Diese Überzeugung hält eine Menge Vorteile bereit, allerdings auch ein paar gravierende Nachteile. Doch es ist wie mit Versicherungsverträgen. Auf den ersten Blick eröffnet sich alles als gefügt und sicher, nahezu ideal, die deckungsfreien Eventualitäten finden sich nur im Kleingedruckten, das man erst dann liest, wenn es zu spät ist. Der Faszination, mithilfe dieses Denkmodells Kontrolle und Sicherheit, ja letztendlich Macht über Erkrankungen zu erlangen, entzieht man sich als Arzt nicht leicht, noch dazu wo doch die meisten von uns in ihrer psychischen Grundstruktur in der einen oder anderen Art eine vergleichsweise hohe Sehnsucht gerade nach dieser Macht mitbringen.

Außerdem kann man sich Fallsammlungen anlegen, über die Liebe zur Klassifikation scheinbare Ordnung schaffen, eine gemeinsame kollegiale Fachsprache entwickeln, an den Kanten dieses Modells immer weiter forschen und sich dabei habilitieren und bei Kongressen zum Wohl der versammelten Ärzteschaft und der abwesenden Patienten berichten. Es wundert also nicht, dass das Studium der Medizin, die ja bekanntlich heute unbestritten zu den Naturwissenschaften zählt, sein Jungvolk bereits vom ersten Tag an genau auf dieses Modell einschwört. Auf die Bibel des reduktionistischen Mechanismus muss der unbedingte Treueeid abgelegt werden. Wer hier zweifelt ist ein Ketzer, der die Klippen hinuntergestoßen wird. Und dabei hat die Medizin doch einmal ars medicinae geheißen…

In anderen Worten gesprochen: der Anilinarbeiter, der gegen Ende seiner Berufslaufbahn Hodenkrebs bekommt oder der schwere Raucher mit seinem Emphysem, das die Zielsetzung in den ersten Stock zu gelangen einer Mount Everest Besteigung gleichsetzt, sind uns lieber als die 38-jährige schlanke Nichtraucherin, deren plötzliche Beschwerden von einem Lungenkarzinom herrühren, obwohl wir bei ihr nicht einmal eine genetische Prädisposition ausmachen können. Die beiden ersten Fälle entsprechen unserem Kausalverständnis und Denkmodell von Krankheitsverursachung, der letzte Fall lässt uns ratlos zurück und ist uns peinlich. Burnout ist deshalb eine harte Herausforderung an unser Medizinestablishment, ja, wie keine andere Erkrankung eine laute und deutliche Infragestellung des unserem Denkmodell zu Grunde liegenden Paradigmas.

Das beginnt schon mit der Diagnose, also dem Versuch einer eindeutigen Feststellung, was Burnout wäre und was etwas anderes, zum Beispiel eine Depression sei. Der britische Taxonom John S. Kendall soll einmal gemeint haben, dass die Taxonomie (die systematische Erfassung der in der Natur vorkommenden Lebewesen und Strukturen, vergleichbar mit einem riesigen Karteikasten, in dem alles sein systematisiertes Fach erhält) die Kunst wäre, die Natur an ihren Gelenken zu zerteilen. Um in diesem Bild zu bleiben, stellt sich beim Burnout ganz rasch die Frage: Wie zerteilt man eine Qualle an ihren Gelenken?

Abgerichtet nach der verbindlichen Denkstruktur aller jungen Ärzte, wenn auch mit heimlichen Zweifeln, die mich immer ein wenig in den Gärten der neuen psychotherapeutischen Schulen grasen ließen, näherte ich mich ursprünglich dem Verständnis von Burnout mit der geforderten logischen, deskriptiven Methodik. Das heißt, ich stellte mir bei meinen PatientInnen die Frage, ob die „richtigen Symptome“ zu erheben wären, die die entsprechenden Kriterien eines Burnouts befüllen konnten, verglich, was bei den einzelnen Fällen gleich und was anders und eventuell ein Ausdruck von Variabilität wäre, ohne damit schon aus dem Diagnosekatalog herauszuragen, und versuchte das Phasenhafte, das mir besonders wesentlich im Hinblick auf die Prognose erschien, zu erfassen.

Ein genauso faszinierendes wie gleichzeitig frustrierendes Unterfangen, denn immer wieder schienen mir die mühsam herausgearbeiteten Gesetzmäßigkeiten anhand eines „neuen Falls“ zwischen den Fingern zu zerrinnen. Es war wie Spiegelfechterei. Kaum hatte ich scheinbar eine verbindliche Regelmäßigkeit isoliert und beim Schopf gepackt, entwand sie sich meinem Zugriff wie ein Aal und es blieben wieder nur unspezifische Gemeinplätze, wie die „Arbeitsüberlastung“ über. Gleichzeitig war die Diagnose Burnout bei jedem Patienten eindeutig zu stellen. Es ging mir genauso wie Richard Bolles, der einmal zugab: „Burnout ist wie Pornographie. Ich weiß nicht genau, ob ich es wirklich definieren kann, aber wenn ich es sehe, erkenne ich es sofort.“

Doch warum dieser Mensch und warum an diesem Arbeitsplatz? Wenn man einen Faden einer gewissen Zugkraft aussetzt, die seine Tragfähigkeit übersteigt, so reißt er irgendwann planmäßig. Das lässt sich todsicher immer wiederholen und zwar mit jedem Fadenstück desselben Knäuels beim immer selben Belastungsmaximum. Das galt aber nicht für alle Beschäftigte ein und desselben Unternehmens. Und was der eine als Arbeitsüberlastung beschrieb, bedeutete für den nächsten noch gar nicht einmal richtig in die Gänge gekommen zu sein. Eine klare Dosis-Wirkung-Beziehung war also nicht auszumachen.

Zumindest schien sich für mich in meiner persönlichen Hypothesenbildung ein nachvollziehbarer und erwartbarer Stadienablauf abbilden zu lassen. Warum wer wann und in welchem Berufskontext an Burnout erkrankte, blieb mir zu diesem Zeitpunkt wie allen anderen, die nicht bereit waren, sich mit Schnellschüssen zufriedenzugeben, zwar weitgehend noch ein Mysterium. Aber wie diese Erkrankung verlaufen würde, welche Phasen sie durchlief und wo ihr Endpunkt liegen würde, das und eine damit verbundene Ernsthaftigkeitseinschätzung für den Therapieansatz ließ sich wenigstens immer deutlicher umgreifen.

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