Kitabı oku: «Diese bescheuerte Fremdheit in meiner Seele»

Yazı tipi:

Für M.

Struktur

1  Titelseite

2  Impressum

3  Widmung

4  Inhaltsverzeichnis

5  Vorspann

6  Textanfang

7  Seitenzahlen im gedruckten Buch

Inhalt

1  Traumhaus und Glupschaugen

2  Streuselkuchen mit Nachschlag

3  Im Auftrag des Kalifen

4  Hatatitla in Hude

5  Schuhcreme und Pampelmusen

6  Nazi mit Samenerguss

7  Spiegeleier ohne Mama

8  Skateboards und Datteln

9  Hüpfende Lineale

10  Himmelfahrtskommando

11  Gene und Glockenspiel

12  Große Klöten

13  Mulattenhuder

14  Wassereis und Ranzen

15  Im Seelöwengehege

16  Schwein mit Cordhose

17  McEnroes Sohn

18  Prinzessin vom Plattensee

19  Tinnitus mit Haaren im Arsch

20  Kuss auf die Stirn

21  Nur Türken pinkeln auf Mopeds

22  Otthusen und die »Brother Deluxe«

23  Eingemauert an der Ostsee

24  Kaffee, der nicht schmeckt

25  Zerbrochenes Holz

26  Omar Ali Ben Salem

27  Kanak Power

28  Gib’s mir, Moslem!

29  Auferstehung der Toten

30  Currywurst im Volvo

31  Sindbad und Esmeralda

32  Epilog

33  Über den Autor

34  Impressum

Wo bist du?

Und wenn ich dich finde: Werde ich mich finden?

Wer bist du?

Und wo in mir hast du dich versteckt?

Pubertätsgedicht von Omar Ali Ben Salem

Ich habe nichts gegen Fremde.

Einige meiner besten Freunde sind Fremde.

Aber diese Fremden da sind nicht von hier!

Methusalix in »Asterix – Das Geschenk Caesars«

Traumhaus und Glupschaugen

Ich war fünf Jahre alt, als Steffen mir die Unschuld raubte.

Er ließ keinen Stein auf dem anderen und hinterher (um es mal pathetisch auszudrücken) war so ziemlich gar nichts mehr wie zuvor. Aber das begriff ich erst einige Zeit später.

Wir schrieben das Jahr 1978, und Steffen, mein zehnjähriger Bruder, war schlecht gelaunt. Er hatte sich mit seinen Freunden gestritten, was einigermaßen oft vorkam, und meist war das auch gleichbedeutend mit dem Ende ihrer Freundschaft.

Steffen, schon damals ein blonder Sonnyboy, den alle liebten, weil er gute Witze riss und einen einnehmenden Charme besaß, ein dünner Schlaks mit dicker Hornbrille, aber einem Zahnpastalächeln, das Felsbrocken erweichen ließ, hatte nämlich einen immensen Freundeverschleiß.

Die wenigen Tage jedoch zwischen diesen oft nur ein oder zwei Wochen dauernden »Freundschaften« hatten es wahrlich in sich. Da verzog sich mein Bruder sofort nach der Schule, ohne sein Mittagessen auch nur anzurühren, auf den Dachboden, wo der größte Teil seiner Spielsachen lagerte, und war für die kommenden Stunden nicht eine Millisekunde lang ansprechbar.

Falls man dann aber doch einmal gegen diese unausgesprochene »Steffen-auf-gar-keinen-Fall-ansprechen-Klausel« verstieß, und sei es auch nur, um ihn ein wenig zu trösten, bekam er umgehend einen Wut- und Heulanfall, aus dem die Worte: »Könnt ihr mich nicht alle mal in Ruhe lassen!« mehr schlecht als recht herauszuhören waren, und stürzte in die nächste freie Ecke, in der er dann die kommenden Stunden nahezu unbewegt kauerte. Mit dem Gesicht zur Wand, gern noch zusätzlich bedeckt von Teppichen, Handtüchern oder ähnlichem Weichkram, welcher weitere Annäherungen an ihn komplett verhinderte.

Eigentlich hatte ich ja schon gelernt, dass ich ihm in solchen Stimmungen besser nicht begegnete, aber da gab es etwas, das war stärker: Ich wollte ran an die Puppen. Steffen besaß nämlich ein mehrstöckiges Barbie-Traumhaus mit voller Ausstattung, größer als ich, welches er sich von dem Geld, das er von den zahlreichen Verwandten zu seiner Kommunionsfeier geschenkt bekommen hatte, im letzten Jahr gekauft hatte. Es war sein ganzer Stolz, sein meistgehüteter Schatz, der wie ein Altar im Zentrum des staubigen Dachbodens prangte – aber seltsamerweise eines seiner wenigen Besitztümer, die er den wechselnden Freundesgruppen akribisch vorenthielt.

In dieser rosa Villa wohnten nicht nur Ken und Barbie, sondern auch ihre Schwester Skipper, ihre Kusine Francie und die Zwillinge Tutti und Todd, die selbstverständlich alle ihr eigenes Zimmer besaßen. Das faszinierte mich ganz besonders, da wir drei Brüder uns im richtigen Leben zwei kleine Zimmerchen im Obergeschoss mit Dachschräge teilen mussten.

Axel, mein größter Bruder, neun Jahre älter als ich und damit stolze pubertierende vierzehn (also ein »Halbstarker«, wie mein Papa das gerne abschätzig formulierte, obwohl dieser Ausdruck schon damals etwas aus der Mode gekommen war), durfte das sechs Quadratmeter umfassende kleine Zimmer allein frequentieren und Steffen und ich zu zweit das große (acht Quadratmeter).

Ansonsten gab es eigentlich nicht so viele Gründe, warum ich unbedingt an Barbies Plastikvilla ran wollte, mit seinen langweiligen Bewohnern, diesen unförmigen Gummigeräten, die nicht einmal richtig sitzen konnten.

Außer, dass ich grundsätzlich mit Sachen spielen wollte, mit denen mein bewunderter großer Bruder gerade spielte. Und sei es auch nur mit dämlichen Puppen, die mich ansonsten herzlich wenig interessierten.

Ich schlich mich also auf Socken über die ausgefahrene Schiebeleiter auf den Dachboden und versuchte, keine Geräusche dabei zu machen, als ich mich von hinten an Steffen heranpirschte.

Der kniete etwa zwei Meter von der Luke entfernt auf dem knarzenden Holzboden und versank gerade mit seinem Oberkörper, vor sich hin murmelnd, im geräumigen Puppenhaus.

Ich beobachtete ihn von hinten, still auf eine Gelegenheit wartend, wenn schon nicht mit Ken, Barbie oder deren »großen« Verwandten, dann doch wenigstens mit einem ihrer Kinder, den Zwillingen Tutti und Todd, eine Zeitlang herumspielen zu dürfen, ohne eigentlich genau zu wissen, was ich mit denen überhaupt anfangen sollte.

Steffen, in sein Spiel vertieft, brabbelte in aller Seelenruhe in unterschiedlichen Stimmlagen, die er seinen Püppchen zuteilte. Doch so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte keine vollständigen Worte, geschweige denn Sätze heraushören.

Nach einer Weile begriff ich, dass das Puppenpärchen in der Küche wohl gerade Essen für die versammelte Familie kochte und sich angeregt über die Zutaten unterhielt – was umso skurriler war, da Steffen ja gerade auf sein eigenes Essen verzichtet hatte.

Ich, ein Allesvertilger, dem Appetitlosigkeit völlig fremd war, der sich aber nicht ansatzweise für das Zustandekommen von Mahlzeiten interessierte, hatte plötzlich das immer heftiger werdende Verlangen, Steffen, Barbie und Ken beim Kochen behilflich zu sein.

Fast hätte ich meinen Arm ausgestreckt und ihm einfach in die Küche gegrapscht, mitten hinein in den Herd und die kleinen Töpfe, aber im letzten Moment konnte ich mich gerade noch zusammenreißen. Die Zeit war noch nicht reif.

Ich übte mich weiter in Bewegungslosigkeit, tatenlos wie eine Sphinx hockte ich hinter seinem Rücken, obwohl es mir zunehmend schwerfiel. Ich hatte dabei das sichere Gefühl, dass mein Bruder mich bisher noch nicht bemerkt hatte.

Doch da täuschte ich mich: Auf einmal schob er seinen Oberkörper aus dem Spielgestell und drehte sich zu meinem Entsetzen direkt zu mir um.

»Hau endlich ab!«, giftete er mich an. »Ich will alleine spielen!«

Augenblicklich kräuselte ich meine Unterlippe zu einem »Flunsch«, wie es meine aus Schlesien stammende Mama immer so treffend formulierte. Ich sah ihn mit aufgerissenen Augen an, mit schwerem Atem, die Stirn zu einer Leidensmiene hochgezogen. Meist genügte das, um schließlich doch noch sein Mitleid zu erwecken und aus Gnade eines seiner Püppchen überlassen zu bekommen. Aber heute nicht. Heute leider nicht. Zumindest keines von denen, die ich gerne gehabt hätte.

»Du willst also mitmachen, was?«, fauchte er mich an. »Kannst du haben!«

Er kramte in seiner Stofftier- und Puppenkiste, einem mit zahlreichen Stickern übersäten ehemaligen Umzugskarton, den er in jahrelanger Sammelarbeit nach und nach gefüllt hatte, und zog eine (Achtung Vokabel-Polizei: So hieß die damals wirklich!) Negerpuppe heraus.

Die war aus Plüsch, schokoladenbraun, hatte rote, wulstige Lippen, schwarze, dichte Locken aus Wollkringeln und riesige, dunkle Knöpfe als Augen.

Er warf sie mir vor die Füße.

»Das da«, rief er. »Das bist du!«

Die Puppe starrte mich an, aus voluminösen Glupschaugen, und sie machte mir Angst.

Ich berührte sie nicht, auf keinen Fall, sorgsam hielt ich meine Arme auf dem Rücken verborgen, als würde auch nur der kleinste Kontakt mit ihr eine ansteckende Krankheit auslösen, betrachtete das Stoffungetüm nur verstohlen von der Seite, wie eine Frucht, von der man weiß, dass sie giftig ist, die einen aber trotzdem auf magische Weise anzieht.

Und als hätte mich mein Bruder mit dieser seltsamen Puppe und seiner bescheuerten Äußerung nicht schon genug irritiert, wies er mit ausgestrecktem Zeigefinger auf sein Traumhaus und die versammelte Barbie-Familie in der Puppenküche. Dabei imitierte er den Tonfall eines Show-Moderators, der seine Gäste ankündigte: »Und das hier sind …« Er zog die Worte in die Länge, um die Spannung zu steigern, auf das, was jetzt kommen würde: »Wir!« Nacheinander zeigte er auf Barbie, Ken, Todd und Tutti. »Das sind Mama, Papa, Axel und ich!«

Er grinste mich erwartungsvoll an, als hätte er mir gerade seine allerneueste Erfindung offenbart, und wäre gespannt, wie ich darauf reagieren würde.

Ich zuckte mit den Achseln. Ich hatte keinen Schimmer, was er mir damit sagen wollte.

Mir fiel an seiner eigenartigen Argumentation eigentlich nur auf, dass, wenn Axel Todd, der Junge sein sollte, dann ja wohl Steffen Tutti, das Mädchen war, und das fand ich lustig. Also begann ich zu lachen.

Das brachte ihn erst recht zur Weißglut. Er riss die Negerpuppe hoch und hielt sie mir direkt vor die Augen. Sie glotzte mich mit unveränderter Miene an.

»Fällt dir was auf?«, schrie er. »Was ist das? Was ist das?«

Ich sah abwechselnd zu ihm und zu der Puppe, mit offenem Mund und konnte nichts erwidern. Mein Bruder machte mir Angst.

»Das da, das ist braun! Und die da drinnen, die sind weiß!«, erklärte er mir mit erhobener Stimme, als wäre ich geistig zurückgeblieben. Und fuhr fort: »Du bist überhaupt nicht mein Bruder! Und das Kind von Mama und Papa, das bist du auch nicht!«

»Und du … du bist nicht Tutti!«, schrie ich umgehend zurück. Schließlich konnte ich seine lautstarken Beleidigungen und seine dummen Negerpuppen-Vergleiche nicht einfach so auf mir sitzen lassen.

Ich sprang auf und stapfte heulend über die ausgefahrene Holzleiter zurück nach unten. Mir war die Lust vergangen. Steffen war böse zu mir gewesen.

Ich verkroch mich in meiner Zimmerhälfte im Obergeschoss und spielte auf dem Kinderbett mit den Sachen, die mir gehörten, mir allein, meinem Playmobilschiff, meiner Playmobilkutsche und meinen Matchbox-Autos. Da würde ich Steffen nämlich nie und nimmer ranlassen, schwor ich mir, auch, wenn er noch so sehr darum bettelte. Ich war stinksauer.

Dabei ging es im Grunde nicht darum, was er mir da eigentlich gesagt hatte, das hatte ich eh nicht verstanden. Er hatte mich einfach nicht mitspielen lassen, wollte mich mit dieser hässlichen Negerpuppe abspeisen und hatte mich angeschrien. Er hatte mich angeschrien und mir Angst gemacht.

Obwohl mir der tiefere Sinn dieser Aktion auf dem Dachboden so überhaupt nicht einleuchtete, beschäftigte er mich zunehmend. Ich musste immer daran denken. Ob ich wollte oder nicht: Während ich spielte, kehrten seine Worte zurück und setzten sich in mir fest, so sehr ich auch versuchte, sie als dummes Geschwätz abzutun und darüber abfällig zu lachen: »Du bist nicht mein Bruder! Und das Kind von Mama und Papa, das bist du auch nicht!«

Hmm. Ich wusste ja bereits, dass ich ganz anders aussah als meine Eltern und meine Brüder. Das hatte ich auf Fotos entdeckt und auch im Spiegel. Aber ich hatte das immer als eine Besonderheit angesehen, eine Auszeichnung, und so war es mir von allen anderen auch verkauft worden: »Na, du bist aber ein Süßer, mit deinen schwarzen Locken und dunklen Augen! Ein ganz ein Schöner!« So oder so ähnlich klang es, wenn Verwandte oder sonstige Erwachsene auf mich zutraten, mich begutachteten, begrapschten, hochhoben und bestaunten. Das kannte ich nicht anders. Ich galt als besonders braun, besonders exotisch, besonders hübsch. Nicht im Traum wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass das damit zu tun haben könnte, kein korrektes Mitglied dieser Familie zu sein.

Meine Eltern waren beide brünett, genauso wie mein Bruder Axel, nur Steffen war blond. Äußerlich hatten sie miteinander auch nicht so viel gemeinsam, außer vielleicht, dass sie alle vier eine Brille trugen. Ich dagegen nicht. Aber waren sie deshalb nicht meine Eltern und Brüder?

Als mich meine Mutter am selben Abend ins Bett brachte, und mir mit zarter Stimme »Weißt du wie viel Sternlein stehen« als Gute-Nacht-Lied vorgesungen hatte, wagte ich es einfach mal, sie zu fragen.

»Steffen war heute böse zu mir. Er hat gesagt, dass du nicht meine Mama bist und er nicht mein Bruder. Stimmt das?«

Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Vermutlich, dass sie darüber lachte und »Blödsinn« und »Vertragt euch« sagte, wie sie es ja meistens tat, wenn irgendeiner von uns irgendeinen beleidigt, gehauen oder sonst irgendetwas Dummes getan hatte. Aber ich hatte nicht geahnt, was dieser kleine Satz bei ihr auslösen würde.

Eben noch hatte ihr wundervoller Sopran mich sanft an die Pforte der Traumwelt geführt, wo ich nicht mal mehr anklopfen, sondern nur noch eintreten musste, so wie er das jeden Abend tat, und normalerweise Erfolg damit hatte. Nur nicht heute, wo mich etwas Anderes beschäftigte.

Eben noch hatte sie gelächelt, hatte mir liebevoll die Decke bis ans Kinn gelegt, damit ich in der Nacht nicht fror.

Doch nun bekam ihr Gesicht von einem Moment auf den anderen einen eigenartig verzerrten Ausdruck, so als hätte sie was Schlechtes zum Abendbrot gegessen und wäre kurz vorm Übergeben. Sie musste sich von mir wegdrehen, starrte auf den Teppich und faltete ihre Hände. Sie atmete schwerfällig und langsam und stöhnte beim Ausatmen.

Nach einer Weile hatte sie sich gefasst, wandte sich wieder meinem Gesicht zu, blickte mir tief in die Augen und sagte mit fester Stimme: »Nein, Mathias. Steffen hat Unrecht.«

Dann warf sie mir noch ein Lächeln zu, das allerdings einen Tick zu angestrengt wirkte, als dass ich es ihr hätte glauben können, drückte mir einen Kuss auf die Stirn und verschwand aus dem Zimmer.

Mein Herz wummerte. Ich konnte nicht einschlafen.

Das, was mir mein Bruder heute gesagt hatte, und die komische Reaktion meiner Mama arbeiteten immer noch in mir weiter, vermischten sich mit seltsamen Fantasien, in denen Geister und Monster vorkamen, die aussahen wie eine Kreuzung aus Ken und Barbie und der Negerpuppe, die mich aus dem Bett reißen und aus dem Haus ziehen wollten.

Als Soundtrack dazu erklang »Weißt du wie viel Sternlein stehen« mit dem glockenhellen Sopran meiner Mama in Endlosschleife, der sich immer schriller, verzerrter in meinem Kopf ausbreitete und mich so gar nicht mehr beruhigte.

Das lag vielleicht auch an dem sehr realen, lautstarken Streit, der eine Etage tiefer in unserem Wohnzimmer stattfand.

Ich vernahm die aufbrausende Stimme meines Vaters, die besorgten, beschwichtigenden Töne meiner Mutter und das Heulen und Kreischen von meinem Bruder Steffen.

Seine Worte hörte ich am deutlichsten: »Ihr Lügner! Ihr seid solche Lügner!«

Plötzlich ließ mich das Knallen einer Tür zusammenfahren und das Brüllen meines wutentbrannten Papas, der sie umgehend wieder aufriss: »Na warte! Du sollst mich kennenlernen!«

An der Treppe zum Obergeschoss, in welchem ich mittlerweile zitternd, schwitzend und mit panisch aufgerissenen Augen in meinem Bettchen lag, prügelte er endlose Minuten lang auf meinen wimmernden Bruder ein.

Streuselkuchen mit Nachschlag

Als mich meine Mama am nächsten Tag zu Fuß vom Kindergarten abholte, trat sie mit mir völlig überraschend in die kleine Konditorei, die sich auf halbem Wege nach Hause befand und aus der es morgens immer so gut roch. Sie bestellte sich einen Tee und mir einen Streuselkuchen, den ich so sehr liebte, am liebsten aber von ihr selbst gebacken.

Ich war noch nie im Innern dieser Bäckerei gewesen, immer nur dran vorbeigelaufen, Essen gab es bei uns zu Hause und sonst nirgends.

Doch mir sollte der Abstecher recht sein. Ich hatte nach dem Kindergarten und dem ganzen Gespiele mit meinen Freunden sowieso meist einen Kohldampf, der mit Mittag- und Abendessen allein schwerlich gestillt werden konnte.

Ich kaute zufrieden meine Streusel, die ich vom Teigboden löste, und separat verspeiste, weil sie so schön süß waren und wunderbar zart im Vergleich zum trockenen Boden, den man endlos lang kauen musste. Und ich merkte, wie meine Mama mich lächelnd beim Futtern beobachtete.

Doch plötzlich fror ihr Lächeln ein. Sie räusperte sich und hob zu sprechen an. »Weißt du, Mathias, wir haben euch alle drei sehr, sehr lieb, und wir wollen niemals andere Kinder haben als euch drei«, sagte sie und blickte mir tief in die Augen, wie sie es gestern Abend ja auch schon getan hatte.

Ich kaute vor mich hin, blickte sie ebenfalls an, allerdings verdutzt. Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte, da sie plötzlich wieder so unheimlich ernst wurde.

Sie fuhr fort: »Was Steffen da gestern zu dir gesagt hat, … das stimmt … zum Teil … ein wenig …«

Ich hörte auf zu kauen. Eigentlich hatte ich diese Sache mit den Puppen längst zur Seite geschoben, am Tage hat man schließlich andere Sorgen als in der Nacht. Aber nun interessierte mich natürlich schon, wieso Steffen mit seiner dämlichen Aktion auf dem Dachboden denn auf einmal doch Recht gehabt haben sollte. Und wenn es auch nur »zum Teil« war.

»Nun ja«, fuhr sie fort. »Jedes Kind hat Papa und Mama, genau wie du, wir sind Mama und Papa für dich, und das werden wir auch immer bleiben. Aber weißt du, Mathias, da gibt es andere Menschen, die dafür gesorgt haben, dass du zur Welt kamst. Und da gab es wieder andere Menschen, die haben Axel zur Welt gebracht. Und noch einmal ganz andere, die sind dafür verantwortlich, dass es den Steffen gibt.«

Ich starrte sie aufmerksam an und wagte nicht zu atmen. Obwohl ich nicht viel von dem, was sie da sagte, begriff, wusste ich intuitiv, dass es jetzt nicht angebracht war, irgendetwas anderes zu machen, als ihr zuzuhören.

»Diese anderen Menschen«, fuhr sie fort, und ich merkte, wie schwer sie sich damit tat; sie sprach die Worte langsam, gedehnt und machte lange Pausen, »die haben dann irgendwann gemerkt, dass sie nicht gut für euch sind. Und haben euch lieber zu uns gegeben, zu Mama und Papa Kopetzki, wo ihr – wahrscheinlich – ein besseres Zuhause bekommt als bei ihnen. Verstehst du?«

Ich schüttelte den Kopf. Sie nickte.

»Irgendwann wirst du alles mal verstehen. Aber jetzt noch nicht. Und bis dahin ist das, was Steffen dir da gestern gesagt hat, eine große Dummheit gewesen. Denn wir sind genauso Eltern für dich wie für Steffen. Und das unterscheidet sich kein bisschen davon, wie andere Eltern zu ihren Kindern sind. Im Gegenteil: Wir haben uns für euch entschieden. Und ich sage es dir noch einmal: Wir wollen keine anderen!«

Hunger hatte mich wieder erfasst, ein entsetzlicher Hunger. Er verdrängte den guten Willen, ihrer Erzählung zu folgen, ohne mit so etwas Profanem wie Kuchenessen beschäftigt zu sein.

Ich schob mir nach den süßen Streuseln auch noch den trockenen Boden Stückchen für Stückchen in die Mundöffnung. Nur schwerlich ließ er sich zerbeißen. Wie Lehm klebte er hartnäckig am Gaumen und an den Milchzähnen.

Wie meine Mama schon richtig erkannt hatte: Ich verstand tatsächlich wenig von dem, was sie gesagt hatte – sehr, sehr wenig. Von welchen anderen Leuten redete sie denn da? Und wie, bitteschön, sollten diese komischen Leute »dafür gesorgt« haben, dass wir »auf die Welt kamen«? Warum waren sie »nicht gut« für uns? Und schließlich: Wie kamen wir dann überhaupt zu unserer Mama und unserem Papa? Zu Fuß? Mit dem Flugzeug?

Das einzige, was ich verstand, war, dass, was auch immer mir da mit diesen komischen Leuten passiert sein sollte, meine Brüder etwas Ähnliches mit anderen komischen Leuten erlebt hatten. Axel hatte es erlebt, und vor allen Dingen auch Steffen.

Ja, auch Steffen kam später zu Mama und Papa! Er gehörte also genauso viel oder genauso wenig zu unserer »Barbie-Familie« wie ich. Und das würde ich ihm tüchtig aufs Brot schmieren, wenn er mir das nächste Mal wieder diese bekloppte Negerpuppe entgegenschleudern sollte.

Doch ich verstand auch etwas von diesem Gespräch, das mich sehr stolz machte: Nämlich, dass es für das, was sie mir da sagte, wert gewesen war, in eine Konditorei einzukehren – was wir ja sonst niemals taten – und Streuselkuchen zu essen.

Für immer sollte nun der Geschmack von Streuselkuchen mit dieser ersten, wichtigen Unterredung mit meiner Mutter verbunden bleiben.

»Darf ich Capri-Sonne?«, wagte ich nach einer nicht enden wollenden Pause zu fragen, in der wir uns schweigend begutachtet hatten, weil wir wohl beide nicht so recht wussten, wie wir diese Unterhaltung denn nun ordentlich zu Ende führen sollten.

Mama lächelte.

»Natürlich.«

Sie stand auf, ging zum Kühlschrank, der neben der Brötchentheke stand, nahm eine bunt bedruckte Kunststoffpackung heraus, bezahlte sie an der Kasse und stellte sie auf meinen Teller.

Kirsche.

Ich betrachtete die Packung und verzog das Gesicht. Eigentlich mochte ich Orange viel lieber, aber das traute ich mich dann doch nicht zu äußern. Schließlich wollte ich nicht die Stimmung dieser so heilig anmutenden Erwachsenen-Unterredung kaputtmachen; im Grunde war ich ja ziemlich glücklich, sie mit meiner Mutter führen zu dürfen. Ich war halt schon ein großer Junge.

Stattdessen fummelte ich den eingeschweißten Strohhalm von der Rückseite der Getränkepackung und rammte ihn mit ein wenig Fingerspitzengefühl in die Kunststoffhülle.

Dann fiel mir etwas ein.

»Kommen die Leute, die mich auf die Welt gebracht haben, aus Afrika?«

Augenblicklich verfinsterte sich das Gesicht meiner Mama und sie lehnte sich erschrocken zurück.

»Wie kommst du denn darauf?«, fragte sie entsetzt.

»Na, wegen der Negerpuppe!«, rief ich, strotzend vor Stolz, ihr auch mal etwas erklären zu können, was sie vorher nicht gewusst zu haben schien. »Die Neger kommen doch aus Afrika und da kommt doch auch die Negerpuppe her! Und wenn Steffen sagt, ich sehe aus wie eine Negerpuppe, und Eltern sehen doch meistens so aus wie ihre Kinder, dann müssen meine früheren Eltern doch aus Afrika sein!«

Ich war zufrieden mit meiner wasserdichten Argumentationskette, doch meine Mama hatte von Wort zu Wort entsetzter gewirkt.

Ich spürte, dass sie schwer um ihre Fassung rang. Sie holte das Brillenetui aus ihrer Handtasche hervor und wedelte sich Luft zu.

»Also, erstens«, stellte sie fest, nachdem sie eine Weile wieder mal die richtigen Worte gesucht hatte, »siehst du nicht aus wie ein Neger. Ganz und gar nicht. Die sind viel brauner als du. Das, was Steffen da gesagt und getan hat, war sehr gemein, und das solltest du so schnell wie möglich vergessen. Mag sein, dass deine … diese …« Sie ruderte mit den Händen in der Luft herum, als müsste sie sich die korrekte Formulierung regelrecht herbeiwinken. Dann hatte sie es geschafft. »… also die Menschen, die dafür gesorgt haben, dass du zur Welt kamst«, fuhr sie fort, »und die dir vielleicht auch ein ganz klein wenig ähnlich sehen, aus einem anderen Land kommen als diesem, aber …« Sie machte eine Pause, atmete langsam ein und dann schnaufend wieder aus. »Aber wir wissen es nicht. Damit müssen wir alle leben. Und außerdem …« Jetzt sah sie mir erneut tief in die Augen, »möchte ich nie wieder, dass du diese Menschen deine Eltern nennst. Nie wieder. Hast du mich verstanden? Wir sind deine Eltern. Wir sind Mama und Papa. Da gibt es keine anderen!«

Ich hatte die Hälfte der Capri-Sonne ausgetrunken, mich eben mit dem ekelhaften Kirschgeschmack so halbwegs arrangiert, als diese Worte meiner Mama in meine Ohren drangen und dort geradezu schepperten. Sie hatten Gewicht, diese Worte, bleiernes Gewicht, das spürte ich. Sie klangen wie die, die ich im Gottesdienst hörte, in den meine Eltern mich seit einigen Wochen immer sonntags mitnahmen.

Da stand dieser Mann mit der bunten Kutte hinter dem Steintisch und sprach lauter so wichtiges Zeug, das in dem riesigen, hallenden Raum meistens echote und dadurch noch größere Wichtigkeit bekam.

»Aus einem anderen Land«, »Du siehst ihnen ähnlich«, »Wir wissen nicht, woher. Damit müssen wir leben«, »Aber niemals diese Menschen deine Eltern nennen!«, echote es nun auch in meinem Kopf, und ich fühlte mich ganz plötzlich unendlich müde.

Meine Mama hatte nie zuvor so mit mir gesprochen. Zwar war sie natürlich streng zu mir, wenn ich meine Spielecke nicht aufräumte, mit meinem Roller zu weit auf die Straße fuhr oder einen meiner Brüder zuweilen »Furzknoten« oder »Kackgesicht« nannte, aber das klang alles anders. Und es sollte auch noch Jahre dauern, bis sie wieder so oder so ähnlich mit mir sprechen würde.

Doch diese wichtigen, schweren, nachhallenden Worte, die ich ja im Grunde besser verstand, als ich mir eingestehen wollte, schufen Raum in mir, Raum für Gedanken und Gefühle, die sich nach und nach in mir breitmachten. Sie sorgten dafür, dass ich mir immer, wenn ich einem erwachsenen Menschen begegnete, der so schwarze Locken besaß wie ich, so dunkle Augen und eine so dunkle Haut, so dicke Lippen und eine so dicke Nase, vorstellte, er oder sie könnte »dafür gesorgt haben, dass ich auf die Welt gekommen war«.

Ganz tief in mir drin, in einer verborgenen Ecke meines Wunschdenkens, wartete ich mit einer Mischung aus angsterfülltem Schaudern und nervös gespanntem Kribbeln auf den Moment, in dem zwei dieser dunklen Menschen auf mich zutreten und zu mir sagen würden: »Hallo, Mathias. Wir sind deine richtigen Eltern. Komm mit. Wir gehen nach Hause.«

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
212 s. 4 illüstrasyon
ISBN:
9783943709919
Yayıncı:
Telif hakkı:
Автор
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