Kitabı oku: «Diese bescheuerte Fremdheit in meiner Seele», sayfa 3

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Hatatitla in Hude

Natürlich blieben die Fantasiegeschichten, die ich fortan meinen Freunden erzählte, nicht so ganz ohne Folgen.

Michael fing mich eines Sonntagmorgens, als ich nichtsahnend zum Gottesdienst radelte, auf halber Strecke an einer dichtbewachsenen Kurve ab und fauchte mich an: »Du bist überhaupt nicht der Sohn von Winnetou!«

Nachdem ich ihn fast über den Haufen gefahren hatte, weil er so plötzlich, wie aus dem Nichts, auf die Straße geschossen war, kam ich erst einmal zum Stehen und schaute ihn eine Weile lang fragend an.

Ich schwieg und tat einfach so, als wüsste ich überhaupt nicht, wovon er sprach.

»Du weißt ganz genau, wovon ich spreche!«, durchschaute er mich umgehend. »Meine Mama sagt, du spinnst!«

Ich lächelte und entschied mich dafür, auf gleichgültig zu stellen.

»Na, wenn du meinst.«

Das provozierte ihn noch mehr. Er funkelte mich an, sein Kopf war rot angelaufen.

»Und dann hat sie gesagt, dass du deine richtigen Eltern überhaupt nicht kennst! Und deine anderen Eltern, die kennen die auch nicht! Du lügst!«

»Wenn du meinst«, wiederholte ich betont entspannt.

Innerlich tobte es aber in mir. Ich suchte verzweifelt nach einer Lösung aus dieser verflixten, ziemlich peinlichen Situation.

Beim Lügen ertappt zu werden, war so etwa das Unangenehmste und Schlimmste, was einem Jungen meines Alters widerfahren konnte. Es gab mich komplett der Lächerlichkeit preis. Und das vor allen! Dem Hohn, dem Spott, dem Dorfgespräch – ich war Freiwild! Denn was wusste ich denn schon, mit wie vielen meiner Freunde oder Schulgefährten er sich in Zukunft über meine kleine, unbedeutende Story das Maul zerreißen würde? Sich kaputtlachen würde? Mich an den Pranger stellen würde?

Ich atmete tief durch, wischte mir mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und zwang mich dazu, über solche Horrorszenarien nicht weiter nachzudenken. Stattdessen versuchte ich, kühl und sachlich zu reflektieren: Wie verdammt nochmal komme ich da jetzt raus? Und gab mir sogleich die Antwort: Gar nicht. Keine Chance. Du bist im Arsch.

Trotzdem probierte ich es. Schließlich hatte ich nichts mehr zu verlieren.

»Du wirst schon sehen«, beharrte ich ganz einfach und ruhig auf meiner hanebüchenen Geschichte. »Du wirst staunen, wenn Old Shatterhand plötzlich hier in Hude einreitet, auf seinem Pferd Hatatitla und ich sitz dann da oben mit drauf! Dann werden dir die Ohren schlackern! Und dann kannst du deiner Mama ja gerne Bescheid geben, dass sie rauskommen soll aus ihrem Haus, um sich das dann einfach mal anzuschauen! Dann werden wir ja wissen, wer recht gehabt hat!«

Für einen Augenblick blitzte in seinen Augen so etwas wie Begeisterung auf. Vermutlich stellte er sich gerade vor, wie es denn wäre, wenn ich tatsächlich recht hätte und seine Mutter nicht. Und er dann vielleicht ja sogar selbst eine Runde auf Hatatitla mitreiten dürfte, weil er immer an mich geglaubt hatte. Wie wir dann gemeinsam mit Old Shatterhand durch den Ort trabten, unter dem Jubel des Dorfvolkes, das uns mit Palmenzweigen oder ähnlichem Kraut zuwinkte, als würden wir in Jerusalem einziehen.

Doch dann hatte Michael sich wieder gefasst und seine Nüchternheit, die er von seinem Papa geerbt haben musste, der Postbeamter war, hatte die Schlacht gewonnen.

»Ja, ja, ja, erzähl du mal!«, winkte er ironisch ab. »Ich glaub dir kein Wort! Und dass ich mit dir zusammen weiter messdienere: Vergiss es! Das kannste knicken. Mit einem Lügner steh ich doch nicht vorm Altar! Heute ist das letzte Mal!«

Es wurde dann doch nicht das letzte Mal – so viele Messdiener gab es in unserer kleinen Kirchengemeinde schließlich auch nicht, als dass man sich seine Partner hätte aussuchen können. Wir beide waren halt die Kleinsten und wurden sowieso immer ungefragt zusammen eingeteilt.

Aber er sprach eine ganze Weile (gefühlte Monate, wahrscheinlich waren es aber nur Tage) kein weiteres Wort mehr mit mir, stellte sich stur, obwohl ich ihm ansah, dass er mir verflucht gerne geglaubt hätte.

Wahrscheinlich war er ja gerade deswegen so sauer auf mich: Er hatte mir die Story, als ich sie ihm erzählt hatte, fraglos abgenommen. Und wenn ihm seine Mutter da nicht so übel hineingefunkt hätte, würde er das wohl auch immer noch tun. Eigentlich war nämlich sie die Schuldige. Sie hatte nicht nur meine harmlose Lügengeschichte, sondern obendrein Winnetous Macht entzaubert. Seine Macht, etwas mit unserem kleinen, beschaulichen Leben zu tun haben zu können.

Und so lauteten dann auch die ersten Worte, welche Michael nach langer, langer Funkstille eines Sonntagmorgens endlich wieder an mich richtete: »Sag mal, wann kommt er denn nun endlich, dein Old Shatterhand?« Und ich bin mir sicher, dass er diese Frage nicht scherzhaft meinte.

Nicole allerdings war nicht so blauäugig. Sie konnte sich weiterhin »Sindbad« mit mir anschauen, ohne mich dabei zu fragen, wie es denn nun wirklich in Bagdad sei. Sie wusste, dass ich geflunkert hatte, nahm mir das aber weder übel, noch sprach sie mich jemals darauf an. Wir spielten auf unserem Rasen einfach weiter, als wäre nichts gewesen.

Und Markus? Der glaubt mir die Geschichte mit dem Prinzen aus Italien wohl heute noch. Und auch im Fußball dribbelte er mich nie wieder so aus, wie er es davor immer getan hatte. Das hätte sich auch nicht geschickt, schließlich war ich ja auch von blaublütiger Herkunft!

Ich hatte ihm Respekt eingeflößt. Insgeheim war ich Zeuge, wie er ein ums andere Mal anderen Kindern stolz erzählte, dass er jemanden kenne, der als Baby in einem Korb in unser Örtchen geschwemmt worden sei. Und er hatte ja auch recht! Anders konnte man sich das ja auch nicht erklären. Denn wie bitteschön sonst kam ein ausländisch aussehender Junge Anfang der siebziger Jahre ausgerechnet nach Hude? Die meisten Gastarbeiter zog es schließlich in die Stadt. Da war dann doch ein kleines bisschen mehr für sie los.

So kam es, dass ich ganze neun Jahre alt werden musste, um meinen allerersten Ausländer zu sehen. Live und in Farbe! Und der ging dann sogar noch in meine Klasse.

Schuhcreme und Pampelmusen

Erdal war schon fast elf, als er uns in der 3a der Katholischen Grundschule zum ersten Mal beehrte.

Das Erste, was mir an ihm auffiel, war sein Haarschnitt: Die Seiten waren kurz, in der Mitte hob sich das Haar, streckte sich, wohl mit Klebstoff gestützt, wie ich damals dachte, in die Höhe, und mündete hinten in einem kleinen Pferdeschwanz. Experten hätten das vielleicht auch 1982 schon als eine Art verunglückten Irokesen bezeichnet, ich selber aber überlegte: So sehen die da im Ausland also aus, wenn sie mal ihren Turban ablegen! Obwohl es draußen regennasser Frühling war und bei Gott noch kein Hochsommer, trug er kurze Hosen und ein dünnes Polohemd, sodass ich auf seinem rechten Unterarm ein seltsames Zeichen entdecken konnte: ein eckiges Doppel-S, in schwarzer Schrift. Das hatte er sich wohl selber dran gemalt, anders konnte ich mir das nicht erklären. Es sah ziemlich brutal aus, wie bei einem japanischen Krieger, welche sich in Zeichentrickfilmen ja auch immer mit unleserlichen Lettern bemalten, bevor sie angriffen. War der Junge etwa ein »Halbstarker« wie mein Bruder Axel, der sich manchmal mit Gleichaltrigen prügelte? Ein bisschen sah er jedenfalls danach aus.

Aber was mich an dem Typen vor allem faszinierte: Er war genauso braun wie ich!

Erdal stand neben Frau Koslowski, unserer Klassenlehrerin, etwas verdruckst, verlegen an seinem rosafarbenen Tornister fummelnd, der vor seinen Beinen baumelte, und diese Verlegenheit passte so gar nicht dazu, dass er bereits größer war als sie. Und eigentlich die ganze Zeit grinste. Ein richtiges Grinsegesicht war dieser Neue.

Ich fragte mich: War das ebenfalls typisch für Ausländer? Grinsten die da unten alle so? Ich überlegte, dass ich das in einer Neuauflage meiner Herkunftsgeschichte dann unbedingt einbauen musste.

»Das ist Erdal!«, stellte uns Frau Koslowski den Grinserich vor und war dabei bemüht, sich durch Rückenstreckung größer zu machen, als sie eigentlich war.

Ein Giggeln, Grunzen und Kichern breitete sich in unseren Reihen aus, als wir diesen sonderbaren Namen hörten, und auch ich konnte mir ein unterdrücktes Lachen nicht verkneifen.

Wie hieß der Kerl da? Erdal? Das klang doch irgendwie nach Fernsehwerbung!

»Vielleicht ist das ja gar nicht seine Hautfarbe«, flüsterte mir Andreas von hinten zu. »Vielleicht ist das ja Schuhcreme in seinem Gesicht!«

Ich verstand nicht sofort. »Häh?« Andreas schlug sich an die Stirn.

»Mann, bist du bescheuert! Erdal! Damit machst du dir doch die Schuhe sauber!«

»Ruhe, gefälligst!«, zischte Frau Koslowski und schob sich ihre Nickelbrille auf die Nasenspitze. Das wirkte.

Wenn ihre Nickelbrille auf der Nasenspitze landete, wusste jeder: Ein weiterer Pieps und es hagelte Hausarbeiten, Nachsitzen, in der Ecke stehen und manchmal sogar Linealschläge auf die Fingerspitzen.

Eigentlich war zu dieser Zeit die Prügelstrafe in Schulen bereits abgeschafft worden. Nur waren wir halt leider eine katholische Schule, und da lebte die bewährte Tradition noch munter ein paar Jahre weiter.

Frau Koslowski verharrte ein paar Sekunden in ihrer Pose, bis auch der leiseste Anflug von Flüstern, Kichern, Stuhlrutschen oder sonstigen Geräuschen endgültig aus dem Klassenraum entschwunden war.

Sie war schon eine recht betagte Dame, hager bis auf die Knochen, etwas bucklig, mit grauer Dauerwelle und für uns Kinder ohnehin nicht mehr weit vom Friedhof entfernt – heute weiß ich, dass sie damals gerade mal Anfang Fünfzig war.

Die Hitlerjahre und die Vertreibung aus Schlesien hatte sie einigermaßen gefasst überstanden, wie sie uns oft erzählte, doch nun merkte man ihr an, dass sie diesem seltsamen Geschöpf da neben sich etwas befremdlich gegenüber stand. Sie rieb ihre Hände aneinander, als würde sie sie in der Luft waschen wollen, und trippelte von einem Fuß auf den anderen.

»Erdal wird ab heute Schüler in unserer Klasse sein«, erklärte sie mit dem breitesten Lächeln, zu dem sie fähig war, aber das wirkte ziemlich angespannt. »Vorher hat er in Oldenburg gelebt und da ist er auch in die eine oder andere Schule gegangen. Aber eigentlich kommt er aus Anna … Anna …« Sie wandte sich Erdal zu und griff ihm an den Unterarm und – ob zufällig oder nicht – genau auf sein Doppel-S. »Wie heißt das noch gleich?«

»Anatolien!«, skandierte Erdal, mit dunklem Timbre (er war tatsächlich schon im Stimmbruch!), brüllte fast dabei, sichtlich stolz, etwas besser zu wissen als eine Lehrerin.

Ich konnte mir vorstellen, dass es nicht das erste Mal war, dass jemand Probleme hatte, dieses eigenartige Wort auszusprechen.

Und er fügte hinzu: »Da kommen aber nur meine Eltern her. Ich selber komm aus Kreyenbrück.«

Frau Koslowski lachte verlegen und ließ Erdals Arm wieder frei.

»Genau, Anatolien«, bestätigte sie.

Auf seine letzten Worte aber ging sie nicht ein. Vermutlich hatte sie sie überhaupt nicht gehört.

»Das ist gaaaanz weit weg von hier. Weiß denn jemand, wo das ist?«, fragte sie in die Runde, wahrscheinlich, um davon abzulenken, dass sie wohl selber nicht so viel darüber wusste.

Ich meldete mich.

»Spanien!«, rief ich siegessicher und meinte das einmal in einer Dokumentation im Fernsehen aufgeschnappt zu haben.

Frau Koslowski schüttelte den Kopf.

»Nein, Mathias, das verwechselst du vermutlich mit Andalusien, wo die Pampelmusen herkommen. Andalusien klingt so ähnlich, ist aber ganz woanders. Anatolien ist in der Türkei. Das ist so weit weg, dass es schon gar nicht mehr in Europa ist. Und von dort kommen viiiele, gaaanz viele Leute her zu uns, die ein bisschen so aussehen wie Erdal und so ähnliche Namen tragen.«

Wieder machte sich ein Giggeln in der Klasse breit, diesmal aber um einiges verhaltener, sodass es Frau Koslowski vermutlich gar nicht mitbekam.

Katja meldete sich, von uns immer nur »Katjes« genannt. Sie war unsere Klassenbeste und trug braune Zöpfe, eine dicke Brille und eine Zahnspange. »Und wieso sind dann Erdals Eltern hierhergekommen, wenn es so weit entfernt von hier ist?«

Frau Koslowski lächelte ihr milde zu.

»Eine gute Frage, Katja. Eine sehr gute Frage.« Sie wandte sich wieder an uns.

»Ja, wer kann uns das sagen?«, fragte sie in die Klasse. »Weiß das etwa jemand?«

Markus wusste es, mein alter Fußballfeind: »Da unten ist es so heiß, da können die alle vor lauter Hitze überhaupt nicht arbeiten. Deswegen verdienen die kein Geld und müssen zum Geldverdienen zu uns kommen. Sonst können sie sich ja nichts kaufen.«

Da Frau Koslowski leise zu lachen begann und zu Erdal blickte, der dann wohl mehr aus Höflichkeit in ihr Lachen einfiel, lachten auch alle anderen, ich eingeschlossen. Ohne genau zu wissen, worüber. Nur Markus lachte nicht, der das doch vollkommen ernst gemeint hatte.

Anschließend räusperte sich Frau Koslowski und sagte: »Naja, so ganz Unrecht hast du ja nicht damit, Markus.«

Obwohl keiner mehr etwas sagte, klatschte Frau Koslowski in die Hände und rief: »Ruhe jetzt!« – wahrscheinlich, weil sie nicht wusste, was sie denn noch zu diesem Thema erzählen sollte, weder zu Anatolien, Andalusien, den Pampelmusen, noch zu Erdals seltsamem Aussehen, das sie immer wieder verstohlen von der Seite betrachtete.

Um die Sache abzuschließen, schob sie ihn ein Stück weiter von sich weg, der Klasse zu, und sagte: »Erdal wird sich bestimmt gut bei euch einfügen. Nehmt ihn nett auf. Wenn er Fragen hat, beantwortet sie ihm. Aber er ist ja auch nicht mehr ganz so klein. Immerhin ist er ja schon viel älter als ihr, nicht wahr, Erdal?«

Sie blinzelte ihm zu.

»So, dann setz dich jetzt. Neben Mathias ist noch ein Platz frei.«

Nazi mit Samenerguss

Wie Frau Koslowski ausgerechnet darauf kam, Erdal neben mich zu setzen, war mir ein Rätsel. Schließlich gab es viele andere freie Plätze.

Tatsächlich tat ich mich schwer mit diesem seltsamen Typen an meiner Seite. Ich fühlte mich beengt von ihm und irgendwie bedroht. Er war so groß, so breit, seine Ellbogen legte er stets auf meiner Tischhälfte ab und sein Haarlack stank zu mir herüber. Und dann dieses dämliche Dauergrinsen, das ich sogar wahrnahm, wenn ich ihn nicht ansah. Dieser Junge machte mich eindeutig nervös. Manchmal kippelte ich absichtlich nach hinten, um ihn von der Seite unbeobachtet betrachten zu können. Dann bemerkte ich erst, wie ähnlich er mir war – wenn man von seinem bescheuerten Haarschnitt einmal absah.

Seine Nasenflügel waren so breit wie meine, er hatte ebenfalls einen Stiernacken und genau wie ich einen kleinen Buckel. Nur seine schwarzen Locken waren nicht so ausgeprägt wie meine, es waren eher Wellen, und ich hätte sie gerne gegen meine störrischen Filzdrähte eingetauscht, die mir jeden Morgen das Kämmen zur Folter machten.

Die ersten zwei Tage sprach ich überhaupt nicht mit ihm, ich glaube auch nicht, dass jemand anderes aus der Klasse das tat.

Das lag aber nicht daran, dass sich keiner für ihn interessierte. Im Gegenteil: Wir schienen alle eine gewisse Ehrfurcht vor ihm zu haben. Wir wussten halt nicht, was geschehen würde, wenn wir einfach mal so, aus heiterem Himmel, das Wort an ihn richteten.

Für uns war er ein bisschen wie der biblische Goliath aus dem Religionsunterricht, so groß, so breit, so alt – jemand, den man aus der Ferne bestaunte, aber dem man besser nicht zu nahe kam.

Und dann seine ganze Erscheinung: wie aus einer anderen Welt. Genau das stimmte ja auch irgendwie. Zudem wirkte er nicht gerade so, als würde er sich unbedingt mit einem von uns abgeben wollen. Er hing stets gelangweilt über seinem Tisch, den Kopf meist auf seine Handflächen gestützt, und starrte dabei ins Leere.

Da aber dieses dämliche Grinsen wirklich keine einzige Sekunde lang aus seinem Gesicht wich, fragten wir anderen uns dann doch gegenseitig in der Pause auf dem Schulhof, was in diesem eigenartigen Kerl eigentlich so vorging.

»Er nimmt uns überhaupt nicht ernst!«, klagte Martin. »Der denkt doch, wir sind alberne Kinder, und das nur, weil er schon fast elf ist!«

»Ich hab mal gehört, dass die Ausländer im Kopf nicht so ganz dicht sind, jedenfalls nicht so dicht wie wir«, berichtete Klara, unser pausbäckiger Rotschopf, der, ob Sommer oder Winter, immer mit Strickpullovern in die Schule kam. »Und deswegen ist er wahrscheinlich auch sitzen geblieben und musste die Schule wechseln. Habt ihr bemerkt, dass er sich noch kein einziges Mal im Unterricht gemeldet hat?«

Ein paar nickten, doch keiner sagte etwas. Jeder überlegte angestrengt.

»Ich glaube, er ist ein Nazi«, sagte ich mitten in die Stille hinein.

»Ein was?«, fragte Andreas, der mich vor ein paar Tagen wegen der Schuhcreme zurechtgewiesen hatte. Diesmal war nun er es, der sich schwer mit dem Verstehen tat, und ich es, der sich voller Genugtuung ob seiner Unwissenheit an die Stirn schlagen konnte.

»Ein Nazi, Mensch! Weißt du nicht, was das ist? Das ist einer, der zum Frühstück Menschen verspeist! Habt ihr nicht auf seinem Arm dieses Zeichen bemerkt? Da steht ›SS‹! Ganz groß! Und das ist das geheime Erkennungszeichen der Nazis! Wenn ein anderer Nazi das sieht, dann freut er sich und zeigt ihm dann sein eigenes Zeichen. Und dann sind sie schon zu zweit, und wenn sie irgendwann ganz viele sind, dann fallen sie über uns her und fressen uns!«

»Du hast sie doch nicht alle!«, urteilte Martin, der Winzling unserer Klasse. Doch merkte ich an seiner gekräuselten Stirn und den leicht geweiteten Pupillen, dass er bei meiner Erzählung ein wenig Furcht bekommen hatte. »Woher willst du das denn alles wissen?«

Das konnte ich ihm natürlich nicht beantworten. Wie meistens bei mir bestanden meine felsenfest behaupteten und mit voller Inbrunst dargebrachten Informationen aus einer Mischung aus Halbwissen, das ich in Büchern, im Fernsehen oder von Erwachsenengesprächen aufgeschnappt hatte, und meiner manchmal allzu sehr auf Panik getrimmten Fantasie. Aber das durfte ich selbstverständlich nicht zugeben. Lieber schwieg ich und nickte nur wissend, während sich die anderen schon wieder dem Klettergerüst zugewandt hatten, da ihnen das Gespräch mittlerweile zu abstrus geworden war.

Doch um für die nächste große Pause einen Trumpf im Ärmel zu haben, nahm ich mir vor, Erdal einfach mal auf meine These hin anzusprechen. Vielleicht gab er es ja zu, dass er ein Menschenfresser war. Als wir alle wieder in den Klassenraum zurückgekehrt waren, saß er wie immer gelangweilt auf seinem Platz und kaute die Reste seines Brötchens. Wahrscheinlich hatte er den Raum in der Pause gar nicht verlassen, wie er es eigentlich niemals tat – zumindest sah ich ihn nie auf dem Schulhof.

Ich ließ mich neben ihn auf meinen Sitz fallen, tat unbeeindruckt, raschelte ein wenig mit meinen Heften herum, doch innerlich kratzte ich all meinen mir möglichen Mut zusammen. Auch auf die Gefahr hin, dass ich gerade mit meinem Leben spielte, wandte ich mich ihm zu.

»Bist du ein Nazi?«, fragte ich, nachdem ich eine Weile vergeblich darauf gewartet hatte, dass er meinen durchdringenden Blick erwiderte.

Doch plötzlich drehte er ganz langsam, als könnte er ihn nur unter großer Anstrengung bewegen, seinen Kopf in meine Richtung. So langsam, dass ich nun wirklich Angst bekam, ihm die falsche Frage gestellt zu haben. Und jetzt sofort, auf der Stelle, sozusagen als Strafe dafür, von ihm verspeist werden würde.

»Häh?«, quiekte er, wobei seine Hasenzähne hervorblinkten. Jetzt ist es soweit, dachte ich. Jetzt frisst er mich! Aber das Dauergrinsen hatte sein Gesicht nicht verlassen. Im Gegenteil. Es war noch breiter geworden. Seine Augen leuchteten in mildem Glanz und der ganze Kerl wirkte nun plötzlich überhaupt nicht mehr so bedrohlich.

Da er immer noch fragend zu mir herüberschaute, wies ich mit dem Finger auf seinen rechten Unterarm. Sein Blick folgte meinem Finger. Es dauerte ein paar Sekunden, dann prustete er los.

»Du Idiot!« Er knuffte mir mit der Faust in die Brust. Und das kitzelte eher, als dass es schmerzte. »Das ist doch Kiss!« Damit zog er den Stoff seines Polohemdes nach oben und ich entdeckte zwei ähnlich gezeichnete Buchstaben wie das Doppel-S: »K« und »I«.

Ich zuckte hilflos mit den Schultern. Kiss?

Was wollte er mir denn damit sagen? War das eine anatolische Geheimorganisation? So etwas wie die Nazis der Türken?

Er griff in seinen Tornister und zog eine Zeitschrift heraus, auf der vorn in gelbroten Lettern das Wort »Popcorn« prangte.

Diese Zeitschrift kannte ich bereits von meinen Brüdern, und für mich war sie eines von den Dingen, die das Reich der Kinder von dem der Jugendlichen trennte. Und von denen waren es auch nur die »Coolen«, die »Popcorn« oder auch »Bravo« lasen und sich so etwas wie »Disco« oder »Musikladen« im Fernsehen anschauten. Aha, dachte ich. Zu denen gehört also auch Erdal!

Er blätterte eine Weile angestrengt – es war das erste Mal, dass ich ihn so engagiert erlebte – und schließlich hatte er gefunden, was er suchte.

»Kiss!«, rief er mit unverhohlenem Stolz und schob die Zeitschrift auf meine Tischhälfte.

Mein Blick fiel auf ein Foto mit einer Gruppe langhaariger Männer, deren Gesichter weiß angemalt waren, die ihre Zungen herausstreckten und eckige Gitarren umgehängt hatten.

»Das sind Rocker!«, erklärte er mir. »Und was für welche!«

»Kommen die auch aus Anatolien?«, fragte ich zurückhaltend.

Sein Grinsen wurde breiter.

»Nein, aus Andalusien.«

Das war eine Anspielung auf meinen Fauxpas an seinem ersten Tag bei uns, aber für Ironie war ich noch ein bisschen zu jung, und so nahm ich das selbstverständlich für bare Münze.

Umgehend stellte ich mir eine Gruppe Männer vor, die ständig Pampelmusen aßen und dadurch im Gesicht immer weißer und weißer wurden.

Dass ich ihm glaubte, schien ihn noch mehr zu belustigen.

»Wenn du mich mal besuchen kommst«, schlug er mir vor, »hören wir uns Platten von denen an. Ich schwör dir, Alter, von Kiss kriegst du ’n Samenerguss!«

Ich erschrak.

»Einen was bitte?« Er lachte auf.

»Na, so ’n richtig fetten Abspritzer! Da wird dein Pimmel zum Wolkenkratzer, Mann! Zur Wasserstoffbombe!«

Er setzte sich breitbeinig hin und fuhr mit beiden Händen in Schritthöhe gleichmäßig in der Luft hin und her.

Dabei stöhnte er, sein Stöhnen wurde lauter und lauter, schließlich verharrte er in der Bewegung, als hätte er einen plötzlichen Krampf und spuckte anschließend kräftig nach oben.

Ein paar Spritzer landeten auf meinem Tisch und der aufgeschlagenen »Popcorn«, der Rest verteilte sich auf Erdal und dem Fußboden.

»Wie war das?«, fragte Frau Koslowski.

Ich hatte sie weder kommen gehört noch gesehen, ich denke, Erdal noch weniger. Doch trotzdem stand sie da, ins Klassenzimmer gebeamt wie Captain Kirk, kerzengerade vor unserem Tisch, und stierte direkt auf diesen großen Jungen mit dem komischen Haarschnitt, der immer noch in breitbeiniger »Samenerguss«-Pose auf seinem Stuhl saß und sich nicht zu rühren wagte.

Sie wiederholte ihre Frage, mit bedrohlicher Langsamkeit. Dennoch zischten ihr die Worte nur so über die Lippen: »Was hast du da gesagt, Erdal Özgür?«

Es war das erste Mal, dass ich Erdals vollständigen Namen hörte. Und ich merkte, wie Frau Koslowski diese fremden, exotischen Worte bewusst in die Länge zog, jeden Buchstaben auf das Genaueste betonte, als hätte sie vor, sie Erdal Silbe für Silbe um die Ohren zu hauen.

Mir stockte der Atem. Auch ich wagte mich nicht zu bewegen. Ich glaube, niemand in der Klasse tat das.

Ein paar Augenblicke zuvor war es im Raum noch turbulent zugegangen, der Geräuschpegel war am Limit, es wurde getobt. Doch davon war nun nichts mehr zu spüren. Erdal erwiderte Frau Koslowskis Blick, ohne sein Dauergrinsen zu verlieren.

»Häh?«

Frau Koslowski Augen zogen sich immer mehr zusammen, schienen jetzt bloß noch aus zwei engen Schlitzen zu bestehen. Und nun, beinahe in Zeitlupe, ohne auch nur für eine Sekunde Erdal aus ihrem Killerblick zu befreien, schob sie ihre Nickelbrille auf die Nasenspitze. Was, wie ja schon gesagt, normalerweise nichts Gutes verhieß.

»Das heißt nicht ›Häh‹«, zischte sie »Das heißt: ›Wie bitte‹!«

»Wie bitte?«, wiederholte Erdal kleinlaut. Sein Grinsen hatte sich etwas zurückgezogen.

»Ich will wissen, was du da eben gesagt hast, dieses Wort mit S!«

»Kiss?«, kam es immer leiser und schüchterner aus ihm heraus. Dabei deutete er auf die »Popcorn« auf meinem Tisch.

»Solche Sachen wollen wir hier nicht sehen!«

Frau Koslowski riss das Heft hoch, rollte es zusammen und wedelte mit ihm umher.

»Die werde ich behalten, bis dein Vater zum Elternsprechtag kommt. Dann wird er mir beantworten müssen, wieso sein Sohn solches Zeug liest und solche Wörter in den Mund nimmt!«

Sie wandte ihm den Rücken zu, das Gespräch war für sie beendet. Doch ich spürte, dass es im Vergleich zu anderen ihrer Ausraster diesmal lange dauern würde, bis sie sich wieder beruhigt hatte.

Am Lehrerpult angekommen, fuhr sie noch einmal herum. Sie heftete einen letzten Mörderblick an Erdal, der langsam wieder aus seiner Bewegungsstarre erwacht war, weil er wohl glaubte, das Schlimmste hinter sich zu haben, und zischte: »Dir werden wir schon Manieren beibringen. Schließlich sind wir hier in Deutschland, nicht in Anatolien.«

Es war immer noch mucksmäuschenstill in der Klasse. Keiner traute sich, auch nur in die Richtung von Erdal zu schauen.

Der saß wieder stocksteif auf seinem Stuhl und sah mit verdecktem Gesicht zu Boden.

Als ich versuchte, einen Blick darauf zu erhaschen, merkte ich, dass sein Dauergrinsen immer noch nicht verschwunden war.

»Anna … Anna … Anatolien«, flüsterte er vor sich hin, und seine Augen funkelten verschmitzt.

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22 aralık 2023
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9783943709919
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