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Die Bedeutung der Jahrsiebte
Man kann die Lebensmittekrise auch als eine Konsequenz aus der Wirkung der Jahrsiebte erachten. Bei dem Rhythmus der Jahrsiebte handelt es sich um eine aus der Ebene der Lebenskräfte, des Biologischen stammenden Gliederung der biographischen Entwicklung. Er ist ein Entwicklungsrhythmus, der von innen kommt – im Gegensatz zum Beispiel zum Mondknotenrhythmus, der von außen, aus kosmischen Abläufen auf den Lebensgang einwirkt. Er konstelliert nicht die zeitliche Gliederung äußerer Ereignisse wie der Mondknoten oder wie die bereits erwähnten Zeitstrukturen. Vielmehr ist die Sieben eine ursprünglich aus der Entwicklung des Organismus selbst hervortretende Zahl. Sie bewirkt von innen her, sowohl beim Kind wie beim Erwachsenen, im Verlauf von jeweils etwa sieben Jahren einen Bewusstseinswandel. Diesen Bewusstseinswandel kann man auffassen als eine stufenweise Annäherung des aus der geistigen Welt kommenden Ich an die irdischen Verhältnisse bis zur Lebensmitte und ein wiederum stufenweises Zurücktreten des Ich von den äußerlichen Verhältnissen ab der Lebensmitte. So sind die Jahrsiebte Inkarnationsstufen bis zur Lebensmitte, hingegen Exkarnationsstufen nach der Lebensmitte.
Es hat also keinen Sinn, die Wirksamkeit der Jahrsiebte in äußeren Ereignisabfolgen zu suchen. Die Jahrsiebte gliedern die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins von innen her. Die Rhythmen dagegen, die in Kapitel 3 besprochen wurden, sind kosmische Rhythmen, keine biologischen. Sie bilden Kräfteverhältnisse der geistigen Welt im Irdischen ab, indem sie sich in der zeitlichen Struktur der äußeren Ereignisabfolgen vergegenwärtigen. Die Aussage: »Alle sieben Jahre hatte ich einen Unfall«, mag genauer Beobachtung entsprechen, hat aber nichts mit diesem Jahrsiebte-Rhythmus zu tun. Ebenso tritt der jeweilige Bewusstseinswandel auch nicht abrupt, als umschriebenes Ereignis ein, sondern er kommt allmählich, findet in der Mitte eines Jahrsiebts einen Höhepunkt, und bereits im dritten Drittel eines Jahrsiebts kündigt sich dann schon das Bewusstseinsthema des nächsten an.
Die Siebenjahres-Zeiträume selbst, die Themen der jeweiligen Bewusstseinshaltung können auch als unterschiedliche und folgerichtige Interesse- oder Fragerichtungen aufgefasst werden. In jedem Jahrsiebt stehen andere Erlebnisqualitäten im Vordergrund. Es gibt hierfür bereits eine Reihe von Beschreibungen11, so dass hier die Jahrsiebte nicht noch einmal im einzelnen charakterisiert werden müssen. In vier Stufen gliedern die Jahrsiebte in der ersten Lebenshälfte das Einleben des Ich in die irdischen Verhältnisse. Im ersten Jahrsiebt geht es um den Aufbau, um die Ordnung des Leibes, die das Ich sich nach und nach zu eigen macht, damit sie ihm als Instrument dienen kann. Im zweiten steht die Ordnung des Gewohnheitslebens im Vordergrund: Klare und wissbare Verhältnisse geben dem Ich die Sicherheit, in der sozialen Welt Fuß zu fassen. Im täglichen Lebensvollzug verbindet sich das Ich mit der Erde. Im dritten Jahrsiebt wird die Ordnung der Seele als eigene erlebbare Ordnung gesucht. Diese Phase beginnt bekanntlich mit einem heftigen Protest gegen die bis dahin von den Eltern und Lehrern übernommene Ordnung. Der Jugendliche will jetzt eigene Wege gehen, die ihm selbst angemessene seelische Haltung zur Welt finden. Und im vierten Jahrsiebt geht es um die Ordnung des Handelns. Der junge Erwachsene versucht nun, ausgehend von seinem Verstand, berufliche und soziale Handlungskompetenz zu entwickeln.
Im gleichen Zuge, wie das Ich sich in diesen vier Stufen mit der Erde verbindet, löst es sich zunehmend von seiner geistigen Herkunft, so dass mit achtundzwanzig Jahren ein gewisser Endpunkt erreicht ist. Das Ich ist dann vollständig auf der Erde angekommen. Die sich von innen ergebende und wie selbstverständlich einstellende Entwicklung ist nun zu Ende. Das zeigt sich, subjektiv freilich gar nicht bemerkt, daran, dass der körperliche Abbau bereits zu diesem Zeitpunkt, mit achtundzwanzig Jahren also, einsetzt – und zwar ironischerweise zuerst im Gehirn, dem Organ, dessen Tätigkeit im vierten Jahrsiebt im Vordergrund stand, wo es um die intellektuelle Durchdringung und »Behandlung« der Welt ging.
Der Bewusstseinswandel im fünften Jahrsiebt, an dessen Ende die Lebensmittekrise eintritt, besteht nun darin, dass dieses Ende des Inkarnationsvorgangs und die damit verbundene Ferne von der geistigen Welt ganz allmählich ins Bewusstsein treten – subjektiv als der sich einschleichende Zweifel erlebt, wie oben beschrieben. So kann die Lebensmittekrise als eine Schwelle an der Stelle der Entwicklung aufgefasst werden, an der die Bewusstseinswandlung in eine andere Richtung umschlagen sollte. Die nun folgenden Jahrsiebte bringen, wenn der Lebensmittekrise nicht ausgewichen wird, eine zunehmende Bewusstseinserweiterung in Richtung übergeordneter, überpersönlicher, vielleicht auch spiritueller oder religiöser Gesichtspunkte und Erfahrungen.
Im Unterschied zur ersten Lebenshälfte handelt es sich in der zweiten um Entwicklungs-Möglichkeiten. Die Lebensmittekrise kann auch umgangen, »verdrängt«, gleichsam überschrien werden durch herbeigeführte dramatische äußere Ereignisse – spontane zweite Heirat, Wechsel der beruflichen Existenz et cetera. Dann können die anschließenden Jahrsiebte ihre bewusstseinswandelnde Kraft nicht in der richtigen Weise entfalten. Insofern handelt es sich beim Jahrsiebte-Rhythmus nicht um einen autonomen Rhythmus wie beim Mondknoten, dessen strukturierende Gestaltungskraft nicht vom Bewußtseinsniveau des Betreffenden abhängt.
Aus dem Zusammenhang zwischen den Jahrsiebten und der Lebensmitte ergeben sich verschiedene Spiegelungen, wenn man die Lebenskurve als u-förmige Kurve darstellt. Dann können verschiedene Entsprechungen zwischen den Seelenhaltungen der ersten und der zweiten Lebenshälfte deutlich werden – je nachdem, ob man den Spiegelungspunkt im fünfunddreißigsten oder achtundzwanzigsten Lebensjahr ansetzt. Aus der Kurve aber Spiegelungen äußerer Ereignisse entnehmen zu wollen, ergibt jedoch keinen Sinn. Falls es sich nicht um durch das biologische Alter vorgegebene äußere Ereignisse wie Schuleintritt, Pensionierung et cetera handelt, kann die Kurve nur Entsprechungen von Seelenhaltungen, Interessenrichtungen oder Bewusstseinsstufen zeigen. Die Kurve und die auf ihr sichtbaren seelischen Entsprechungen zwischen der ersten und zweiten Lebenshälfte haben deshalb auch nichts mit der in modernen Lebensläufen anzutreffenden Symmetrie zwischen Ereignissen der ersten und der zweiten Lebenshälfte zu tun.
Man findet eine solche Symmetrie besonders ausgeprägt bei dem ungarischen Musiker Béla Bartók12, aber zum Teil auch in »Jedermanns-Biographien«. Spiegelungspunkt ist dann immer ein Zeitpunkt oder eine Zeitspanne in der Lebensmitte, und die sinnhaft zusammengehörenden Ereignisse gliedern sich paarig um ihn – zum Beispiel zehn Jahre vor dem Spiegelungspunkt erste Heirat, zehn Jahre danach zweite Heirat. Hier geht es also nicht um die Jahrsiebte, sondern um ein übergeordnetes Gestaltungsprinzip, das sich ebenfalls ganz unabhängig vom Bewusstseinsniveau eines Menschen durchsetzt.
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Die vierfache Ich-Frage – zur biographischen Bedeutung der Pubertät
Viermal im Lebensgang steht der Mensch vor der aus dem Innern erwachsenden Frage: Wer bin ich eigentlich?
In stiller Art prägt diese Frage zum ersten Mal das Erleben des fünfjährigen Kindes. Im fünften Lebensjahr entsteht dem Kind ein Bewusstsein von der Polarität der Geschlechter. In sein Erleben tritt die Tatsache, dass die elterliche Hülle aus zwei verschiedenen Menschen besteht, die polar aufeinander bezogen sind. Es wächst ein feines Empfinden dafür, dass, was bisher als einheitliche elterliche Hülle erlebt wurde, einen leichten Riss, eine Aufspaltung in ein weibliches und ein männliches Element zeigt. Natürlich weiß das Kind schon zuvor, dass es Männer und Frauen gibt, aber Geschlechtsunterschied und Geschlechtspolarität treten noch nicht in sein Erleben. Das vierjährige Kind kann die Oma noch fragen: Oma, bist du ein Junge, oder bist du ein Mädchen? Das sechsjährige nicht mehr.
Als Folge dieses leisen Verlustes der Ureinheit und Wahrnehmung einer grundsätzlichen Spaltung der Menschen in männliche und weibliche tritt die Frage auf: Und was bin dann ich? Bin ich männlich oder bin ich weiblich? – Selbstverständlich weiß das Kind die Antwort. Aber dieses Wissen tangiert noch nicht das Bild, das es von sich selbst hat. Noch der knapp fünfjährige Knabe kann nach einem Marktbesuch zu Hause verkünden: Wenn ich groß bin, werde ich Marktfrau! – Der Junge, der über diese erste Identitätsfrage hinaus ist, will jetzt Obstverkäufer werden. Und er wird dann immer, wenn er auf den Markt zum Einkaufen mitgenommen wird, genau beobachten, was die Männer und was die Frauen auf dem Markt tun.
Damit ist also im fünften Lebensjahr – in der Psychoanalyse als ödipale Phase bekannt – ein erster Schritt zur Bestimmung der eigenen Identität getan. Ich bin ein Junge. Ich bin ein Mädchen.
Im neunten Lebensjahr ist das Kind wieder, jetzt aber mit anderem Akzent, vor die Frage nach der eigenen Identität gestellt. Jetzt beschäftigt es sich mit der Frage, inwieweit es eine Verlängerung oder Fortsetzung der Eltern ist und inwieweit eine eigenständige Person. Das nimmt häufig die Form der Findelkindphantasie an: »Eigentlich stamme ich aus einem Königshaus. Meine Eltern, Könige in einem fernen Land, mussten mich aussetzen. Die Leute, die vorgeben, meine Eltern zu sein, haben mich gefunden und großgezogen. Ich muss herausfinden, wo meine eigentliche Heimat und was, demzufolge, meine eigentliche Aufgabe ist, worin mein eigener Lebensweg liegt.«
Dahinter steht die Wahrnehmung eines Widerspruchs: Ich stamme zwar angeblich leiblich von meinen Eltern ab, aber im Kern meiner Person bin ich ein ganz eigener. Woher kommt mein Ich? Mein Ich kann nicht einfach eine Fortsetzung meiner Eltern sein. – Diese sich oft nur unterschwellig abspielenden Überlegungen wirken sich vorübergehend im Bewusstsein des Kindes so aus, dass es etwas auf Distanz von seinen Eltern geht. Diese werden jetzt kritisch betrachtet. Das Kind hat Einsamkeitserlebnisse. Manche Kinder beschäftigen sich nun mit der Möglichkeit des Todes und stellen sich vor, wie es wohl wäre, wenn sie allein leben würden, ohne die Eltern.
Auch hier geht die Frage »Wer bin ich?« von einem Verlusterlebnis aus: Eltern, Familie, die häuslichen Abläufe, das täglich Erlebte – all das wird nicht mehr mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie zuvor gesehen. Das neunjährige Kind tritt seiner Welt gegenüber. Bislang hat es darin gestanden. Ich und die Welt sind zweierlei. Es gibt einen Riss, einen Spalt zwischen mir und der Welt – konkret: den Eltern und Lehrern. Wer in diesem Zusammenhang bin ich? Ich bin offenbar ein eigenes Individuum, bin letztlich nur auf mich gestellt.
Das Kind beantwortet die Identitätsfrage jetzt aber noch nicht inhaltlich. Noch will es sich nicht selbst inhaltlich bestimmen. Vielmehr geht es um das Urerlebnis, dass ich überhaupt ein Ich bin, und zwar ein anderes als alle anderen. – Die Identitätsfrage versinkt dann wieder. Was aber zurückbleibt, ist ein Spielen und Experimentieren mit dem Unterschied von Innen und Außen, von Ich und Welt. Mein Ich ist innen, die Welt ist außen. Man kann also Geheimnisse haben, kann lügen und sich verstellen. Darin bekräftigt sich und wird handhabbar das elementare Trennungserlebnis, das das Ich der Welt gegenüber hat.
Sodann setzt mit zwölf Jahren die inhaltliche Frage nach der eigenen Individualität mit einem Paukenschlag ein: Alles, was bisher vertraut war, nicht nur Eltern, Lehrer und familiäre Gewohnheiten, auch der eigene Körper, wird fremd. Nichts mehr ist selbstverständlich. Eine tiefe Kluft trennt auf einmal von allem, was bisher getragen hat, selbst von der eigenen Leiblichkeit. Wer bin ich also? Wer bin ich, wenn sich mein Ich offenbar nicht von meiner Familie, nicht von meinen Lehrern, nicht einmal von meinem Leib her bestimmt und trägt, so wie bisher? Mein Ich ist offenbar nur äußerlich und allenfalls in einer für die Vergangenheit gültigen Weise an Familie, Schule und Leib gebunden. Was kann also stattdessen und eigentlich meine Individualität werden?
Es ist charakteristisch, dass der junge Mensch diese Frage nicht aus der Vergangenheit beantworten will, sondern radikal aus der Zukunft. Das jetzt erst in sein eigenes Bewusstsein eintretende Ich sieht betont ab von der Vergangenheit – mein Elternhaus ist verstaubt und verknöchert, meine Schule ist muffig, und in meinem Leib bahnen sich ungeahnte Dinge an – und will sich ganz in die Zukunft hinein orientieren. Jetzt erst beginnt ein eigenes Schicksalswollen, und von nun an sucht der Mensch bewusst Schicksals- und Beziehungsgestaltung aus eigenem Vermögen. Vorher waren Schicksal und Beziehungen vorfindlich. Jetzt kann man sie wollen und – vor allem – nicht wollen. Bislang hat man mit den Kindern gespielt, die in der Nachbarschaft wohnten. Jetzt will man sich seine Freundschaften aussuchen. Bislang hat man weitgehend desinteressiert und tatenlos zugesehen, wenn die Eltern das Kinderzimmer renoviert und neu eingerichtet haben. Jetzt will man das selbst machen, jetzt hat man dazu eigene Vorstellungen. Bislang hat die Mutter mich eingekleidet, und mir war nur wichtig, ob es zweckmäßig war. Jetzt stelle ich mir meine Kleidung selbst zusammen.
Natürlich ist es aus der Sicht des Erwachsenen eher amüsant, manchmal nervenaufreibend, dass der junge Mensch seine Individualität nun über Kleidung und Bilder an der Wand finden will. Es ist eben ein Anfang, unbeholfen, aber deshalb nicht ungültig. Die vehemente Art, mit der sich der pubertierende Mensch oft gegen alles stellt, was Vergangenheit ist – und deren Repräsentanten sind in erster Linie die Eltern –, enthält einen richtigen Kern. Ich weiß zwar noch nicht genau, wer ich bin, aber ich weiß, dass ich nicht das bin, was bisher selbstverständlich so erschien, auch wenn es von meinen Eltern so geprägt worden war. Ich bin Zukunft.
So kann man die Pubertät als den eigentlichen Beginn der bewussten Biographie betrachten. Erste, unbeholfene, oft unrealistische Lebensentwürfe tauchen auf. Erste biographisch bedeutsame Entscheidungen werden getroffen – man möchte bald aus der Schule gehen, um Handwerker zu werden, man möchte den und den Vereinssport betreiben. Das Individuum fängt an, sein Leben selbst zu leben. »Fängt an« heißt, es ist wie beim Laufenlernen: Man fällt tausendmal hin, bevor man wirklich laufen kann. Aber anders kann man nicht laufen lernen. Der junge Mensch tut sicher viel Unbedachtes und Unausgegorenes, setzt sich Gefährdungen aus, radikalen Tendenzen, wechselt täglich seine jeweils absolut richtige Meinung. Aber anders kann der bewusste Griff nach dem eigenen Schicksal nicht ruhig und sicher werden.
In dieser Phase tauchen auch die Ideale auf. Der junge Mensch sucht Ideale – nicht als abstraktes Gedankengut und bloß Gepredigtes. Vielmehr hat er die Sehnsucht, dass es Menschen geben möge, die für sie angefeindet werden und schließlich mit ihnen obsiegen. Das Ich sucht sich in der Pubertät im Idealischen. Das äußerlich sperrig Auffallende ist oft nur das Geheimzeichen für etwas Idealisches. Die Lederstiefel stehen für Freiheit, der Lippenstift für Hingabebereitschaft, die Rockmusik für Gelassenheit im Sturm und der kurze Haarschnitt für Autonomie, zum Beispiel. – Es ist eine tiefe Tragik, dass der Erwachsene den Pubertierenden so wenig ernst nimmt. Eltern, Lehrer und die Tante aus dem Fränkischen sind nur entrüstet über das Aussehen des bis dahin so adretten Kindes. Und sie betrachten die Pubertät als eine Art vorübergehende Krankheitserscheinung. Danach ist, hoffentlich, alles wieder gut. Würde man ansprechen, bestätigen und aufgreifen, was der junge Mensch an Idealen sucht, wie er konkret-sinnlichen Anschluss daran sucht, wie er Schicksalsentwürfe ausprobiert, so könnte mancher biographische Umweg, manche Einengung des Lebenshorizonts, manche Klischeefixiertheit in den Lebensabläufen vermieden werden. Selbst der Erwachsene noch nimmt sich in der Erinnerung daran nicht ernst. Die eigene Pubertät wird teils verschämt, teils belustigt als eine Art verlängerte Faschingszeit angesehen. Dann erst wurde es ernst.
Das täuscht. Ernst war es oft schon vorher; ständigen Entwertungen und Anfeindungen ausgesetzt zu sein, wenn man gerade begonnen hatte, etwas zu entwickeln, von dem man selbst noch nicht weiß, worauf es hinausläuft. Es ist etwa so, als wollte man einem einjährigen Kind, das gerade laufen lernt, einreden, es sei eine spinnige Idee, laufen zu wollen. Es sollte dies besser unterlassen, und im übrigen sei es einfach lächerlich und ärgerlich, immer diese unbeholfenen Gehversuche mit ansehen zu müssen. Die Pubertät ist ein Beginn – und häufig schon ein Ende. Viele trauen sich später nicht mehr, eigenes zu wollen, Ideale zu suchen, die es zu leben lohnt.
Erst beim vierten Mal, in der Lebensmitte, wenn noch einmal die Frage auftaucht: »Wer bin ich eigentlich?« ergibt sich oft ein Rückgriff auf Pubertätsideale. Wie im Kapitel über die Lebensmitte beschrieben, stellt sich in dieser Phase die Identitätsfrage als nagender Zweifel ein: Ist das denn alles, was ich bisher erreicht habe? Soll darin mein Leben auch weiterhin bestehen? Bin ich schon das, was ich mir bisher an Besitz, Fähigkeiten und Einfluss erworben habe? Oder bin ich noch etwas grundsätzlich anderes?
Und wie in der Pubertät sieht auch jetzt diese Frage nach dem eigenen Ich betont ab von der Vergangenheit und sucht die Zukunft. Bis jetzt war ich der, der sich dies und jenes erworben, erarbeitet und erobert hat. Aber wer bin ich morgen? Was bin ich darüber hinaus? Das Ich beginnt jetzt, seine geistige Dimension zu suchen.
Und wieder ergibt sich die Ich-Frage aus einem Verlusterlebnis: Ein Riss ist eingetreten zwischen meinem innersten Ich und dem äußeren Kleid, das dieses Ich sich bisher geschaffen hat. Und eine Ahnung davon kommt auf, dass das eigentliche Wesen des Ich nicht seine irdisch-äußere Erscheinung ist, sondern die Sphäre des Übersich-hinaus-Gehens sucht.
Viermal also fragt das Ich nach sich selbst. Es fragt aus sich heraus – Identitätsfragen und -zweifel, die durch äußere Ereignisse angeregt sein können, kommen natürlich hinzu. Jedesmal geht dem ein Riss, ein Bruch im Verhältnis zur Welt voraus. Und jedesmal ist die Ich-Frage an die Zukunft gestellt. Das Ich hat Zukunftscharakter.
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Der Doppelgänger I
Seine Entstehung
Die Substanz des Doppelgängers ist unbewusste Gewohnheit, die unbemerkt entsteht, die sich einschleicht und unbemerkt auswirkt. Diese Art der Gewohnheit wirkt sich immer einengend, verhärtend, festlegend aus. Das können wir aus Distanz, als Unbeteiligte oder hinterher so bemerken. Was wir selbst erleben, wenn solche Gewohnheiten in unserem Denken und Tun am Werk sind, ist Sicherheit und Selbstverständlichkeit. Es ist oft sehr schwer, beratend einem Menschen erkennbar zu machen, wie sehr er eingeengt und festgelegt ist von Gewohnheiten des Denkens, Fühlens oder Handelns, die ihm – wie man sagt – in Fleisch und Blut übergegangen sind.
Man sagt zu Recht: Die Gewohnheiten haben eine übergroße Neigung zur Verfestigung, zur Verhärtung, ja zum Erstarren. Es gibt bei jedem Menschen geradezu einen Leib aus Gewohnheiten. Er ist fast physisch. Man kann ihn in der Biographieberatung eigentlich nur anpacken, indem man Vorschläge macht, bestimmte Gewohnheiten vorübergehend, und sei es nur für zwei Wochen, zu ändern. Dann können Bewusstsein und Wille in eine Gewohnheit kommen, die sich vor Jahren eingeschlichen haben mag. Die bewusst und willentlich gesetzten Gewohnheiten befreien geradezu aus der Einengung durch die einschleichend entstandenen. Sie befreien an dieser Stelle vom Doppelgänger.
So sieht ein Lehrer, ein ganz harmonischer und gefühlvoller Mensch, sich zu Hause zunehmend in Konflikte zwischen der Tochter und seiner zweiten Frau hineingezogen. Jeden Tag, wenn er nach Hause kommt, hat es wieder Streit gegeben zwischen den beiden, und immer wieder übernimmt er die Position des Schiedsrichters und Schlichters. – Ihm wird in der Biographieberatung die Übung vorgeschlagen, möglichst genau, bevor er den Streit zu schlichten sucht, den Streitanlass zu erfragen und für sich kurz aufzuschreiben. Nach zwei Wochen mit dieser einfachen Übung wird ihm klar, was weder er noch die beiden streitenden Frauen bisher gesehen haben: Streitanlass war immer ein Satz, ein Einwurf von ihm am Vortag. So hat er zum Beispiel einmal einen Streit zu schlichten versucht, indem er unter anderem sagte, beide sollten doch am Nachmittag einmal etwas getrenntere Wege gehen – die Tochter, sie war siebzehn, sollte ihre Schularbeiten in ihrem Zimmer machen und die Frau im Garten arbeiten. Am nächsten Tag – er ist, wohlgemerkt, gar nicht anwesend – entsteht genau hierüber wieder ein Streit: Die Tochter geht gleich nach dem Essen in ihr Zimmer, die Stiefmutter rennt ihr hinterher und beschimpft sie, weil sie sich zurückziehe. – So stellt sich heraus, dass der gemeinsame Nenner der Konflikte zwischen Tochter und Stiefmutter er war. Er erkannte nun, dass er, vordergründig schlichtend, immer neuen Zündstoff in die Beziehung zwischen den beiden Frauen brachte. Und er erinnerte sich, dass es in ihm schon immer eine ungelebte Streitlust und Aufmüpfigkeit gab, die er aber in dem sehr harmonischen Elternhaus nie ausleben durfte, auch als Jugendlicher nicht. Er war es, der sich – unbewusst – die Gewohnheit gebildet hatte, Tochter und Ehefrau statt seiner zum Streit zu bringen.
Dieses Beispiel zeigt erstens, wie geschickt solche Inszenierungen des Doppelgängers sein können. Es zeigt zweitens, dass es nicht irgendwelche Gewohnheiten sind, die ein Eigenleben entwickeln und sich verfestigen, die man mit dem Doppelgänger in Verbindung bringt. Vielmehr handelt es sich um Gewohnheiten, die damit zu tun haben, dass man etwas meidet – eine Erkenntnis, eine negative Konsequenz, eine Selbsteinsicht et cetera. Besonders in der Kindheit und Jugend, wenn der Einfluss von erziehungsehrgeizigen Erwachsenen noch stark ist, aber auch im Erwachsenenleben ernährt sich der Doppelgänger von dem, was wir an uns nicht wahrhaben wollen oder dürfen.
Der Doppelgänger ernährt sich von dem, was das Ich nicht wahrhaben will, und kann es gerade deswegen zur unbemerkten Gewohnheit werden lassen. Erst dadurch bekommt er seine für jeden Menschen individuelle Gestalt. Im Laufe des Lebens zieht er alles an sich, was das Ich nicht wahrhaben will, was es meidet, was es verdrängt. Was vom Ich nicht durchdrungen ist, verselbständigt sich im Unbewussten. Seelenvorgänge, in denen das Ich nicht anwesend sein möchte, gerinnen, verhärten, werden Teil des Gewohnheitsleibes und damit verfügbar für den Doppelgänger. Auch mitgebrachte Prägungen wie die persönliche Temperamentsmischung werden als primäre Teile des Gewohnheitsleibes dann Nahrung für seine verfestigende Tendenz, wenn sie im weiteren Leben nicht vom bewussten Ich durchdrungen werden. So heftet sich der Doppelgänger an alles, was in der Versenkung verschwinden will, und er wird zum Gegenbild unseres Bewusstseins und bewussten Selbstbildes. Er ist ein Wesen, das seine Physiognomie aus unserer Selbsttäuschung gewinnt. Der Begriff »Schatten«, wie er in der Jungschen Psychologie verwendet wird, scheint hier zutreffend, weil der Doppelgänger tatsächlich darin lebt, dass das Licht unseres Bewusstseins nicht überall hinleuchtet. Sein Wesen liegt in der Verdichtung und Erstarrung von seelischen Vorgängen.
Von dieser Ebene aus kann der Doppelgänger Krankheiten bewirken. Das aus dem Bewusstsein abgespaltene Seelische wird verdichtet und in die biologischen Abläufe des Leibes eingearbeitet – ein Feld der Psychosomatik.
Der Doppelgänger wirkt sich in vielfältiger Weise aus. Fragt man, wie er eigentlich erlebt wird, ist zunächst zu sagen: gar nicht. Darin lebt er ja, dass er nicht direkt als solcher erlebt wird. Und gerade deswegen, weil er dieses Merkmal des Verborgenen besitzt, kann er so wirksam sein. Er versucht, in alles hineinzuschlüpfen, was vom bewussten Ich nicht durchdrungene Gewohnheit ist; daher führt die Tendenz der Gewohnheiten zur Verfestigung. Ferner lebt der Doppelgänger in den uns selbst ursprünglich unangenehmen Teilen unseres Temperaments, die wir in unser Selbstbild nicht aufnehmen wollen. Und er tobt sich besonders gern in Beziehungen und Partnerschaften aus, also gerade da, wo sich im Zwischenmenschlichen unbemerkt Gewohnheiten bilden. So kann, was man als störend am Partner erlebt, eine Wirkung des eigenen Doppelgängers sein. Man projiziert Aspekte des eigenen Doppelgängers auf den Partner – oder auf das eigene Kind, die Kollegin et cetera – und reagiert auf ihn genauso, wie man ursprünglich in sich selbst auf ihn reagiert hat: Man bekämpft ihn, hasst ihn, will ihn nur weg haben. So kommt es im Extremfall geradezu zu »Doppelgängerehen«: Zwei Menschen vertreten füreinander den Doppelgänger des anderen und bekämpfen sich deshalb jahrelang gegenseitig. Aber eigentlich bekämpfen sie sich selbst.
Solche Doppelgängerehen sind ohne fremde Hilfe meist nicht auflösbar. Man fragt sich, warum diese beiden Menschen sich nicht trennen, da sie sich doch nur noch hassen. Aber tatsächlich kann man sich ja von seinem Doppelgänger nicht trennen. Man braucht in einer solchen Konstellation den anderen als Leinwand für den eigenen Film. Die Beziehung zwischen zwei solchen Menschen verfestigt sich immer mehr. Der Gewohnheitsleib kann von sich aus den Griff nicht lockern. Man ist solange in diese Verhältnisse festgezurrt, wie man kein Bewusstsein in die tatsächlichen Zusammenhänge bringt. Das klar urteilende, nicht selbstbezogen urteilende Bewusstsein ist das einzige, was diesen erstarrenden Griff lockert.
Aber nicht nur in Beziehungen mit anderen, auch im Umgang mit sich selbst kann man das Wirken des Doppelgängers erleben. In allem, was ängstigt, seelisches Erleben angstvoll einengt, in allem Sicherheitsdenken liegt eine Wirkung des Doppelgängers. Auch in der Depression, im ständigen Kranksein kann er sich auswirken – er ist in allem, was uns, aus uns selbst heraus, systematisch einengt, und er hat eine besondere Nähe zur »kalten« Intelligenz. Das materialistische Denken, die mechanische Intelligenz sind besonders vom Doppelgänger geprägt. Das ist erkennbar an der Neigung der mechanischen Intelligenz zur Verfestigung, zum Sichern, zum Sicher-haben-Wollen, zum Sicher-wissen-Wollen, zur definitorischen Festlegung. Es geht hier um ein Denken, das abschließt, statt beweglich zu machen.
Es gibt aber auch noch direktere, dem Erlebnis nähere Wirkungen des Doppelgängers. Da er aber auch hier – mit einer Ausnahme, von der sogleich die Rede sein soll – als solcher nicht erkannt wird, sinkt er sofort wieder zurück in die indirekte Wirksamkeit, wie sie oben skizziert wurde. Der Doppelgänger nistet sich besonders in alles hinein, was vom bewussten Ich nicht durchdrungene Gewohnheit ist. In Situationen nun, in denen solche Gewohnheiten plötzlich nicht mehr greifen, plötzlich aussetzen, kann der Doppelgänger auf einmal wie entblößt vor uns stehen. Das ist dann ein Schreckerlebnis, als würde man wie ein Dieb auf frischer Tat ertappt.
Eine Angestellte geht mit einem Kollegen immer besonders harmonisch – man könnte auch pointierend sagen: süßlich – um, kritisiert an ihm aber ständig seine Aggressivität und seinen Zynismus. Eines Tages wird es dem Kollegen zu bunt, und er schleudert ihr entgegen: »Du bist ja selbst so destruktiv mit deiner Süßlichkeit.« In diesem Moment hat die Angestellte ein Erlebnis wie bei einem elektrischen Schlag. Sie spürt physisch, wie kurz, nur für einen Moment, sich etwas von ihr löst, und sie sieht, fast sinnlich wahrnehmbar, sich selbst in hässlicher, zynischer, aggressiver Fratze. Es ist ein Schock. Sie sieht auf einmal ihren Schatten und erlebt, wie dieser Schatten nach ihr greift. Möglicherweise erfasst sie, dass sie das selbst ist. Es kann aber auch beim Eindruck eines unbestimmt Dämonischen bleiben. Nach wenigen Sekunden ist das Erlebnis vorbei, und zurück bleibt eine tiefe Erschütterung und Verunsicherung.
Eine andere Situation, in der der Doppelgänger, wenn auch nicht so dramatisch und plötzlich, hervortritt, ist die Lebensmitte-Situation (siehe Kapitel 4). Sie ist ja dadurch charakterisiert, dass, was bislang selbstverständlich, sicher und gewohnt war, hinterfragt wird, dass sich Zweifel einschleichen, ob man sich eigentlich in dem, was man bisher gelebt hat und von sich kennt, schon erschöpft, oder ob man im Tiefsten vielleicht noch gar nicht vollständig ist. Und hier kann nun, mehr schleichend als plötzlich, wiederum der Doppelgänger vor das innere Auge treten: Die eigenen Versäumnisse werden zunehmend bewusst. Man sieht sich in immer klareren Umrissen von seiner Schattenseite. – Auch dies kann ein niederschmetterndes Erlebnis sein, das möglicherweise zu Depressionen und chronischen Krankheiten führt, wenn man sich nicht bewusst und gezielt damit auseinandersetzt.
Von diesem Beispiel aus ergibt sich ein Blick auf die eigentliche Funktion des Doppelgängers. Er hat die Funktion eines »Hüters der Schwelle«. Was in der Lebensmitte von allein geschieht, wird auf dem Schulungsweg, wenn man sich durch gezielte Selbsterziehung für das Geistige zu öffnen versucht, bewusst und mit Willen erreicht.13 Auf dem Schulungsweg nähert man sich bewusst dem eigenen Doppelgänger und setzt sich, wie es auch Aufgabe der Lebensmitte ist, willentlich mit ihm auseinander. Man erkennt ihn als solchen, man anerkennt, dass man auch diese hässliche Figur voll Selbsttäuschung und Versäumnisse ist, und anerkennt sie als Teil des eigenen Erdenwesens. Dies ist so eine Art Eintrittskarte in das Verstehen des Wirkens der geistigen Welt. – Und es mag einsichtig erscheinen, dass in diesem Zusammenhang vom »Hüter der Schwelle« gesprochen wird, denn die Anerkennung des Doppelgängers als Teil des eigenen Wesens macht den Menschen vollständig, und erst aufgrund dieser Vollständigkeit kann sich der Blick für das Wirken der geistigen Sphäre öffnen.
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