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Teil 2 Das Phalansterium

Kapitel 3: Im Tiefraum

Lucio ließ sich schwer auf seine Seite des Bettes fallen. Die gravimetrische Matratze sprach selbsttätig an und fing ihn auf. Lange Zeit lagen sie nebeneinander in der Dunkelheit. Die Stille wurde von ihrem Atemzügen interpunktiert, die sich langsam beruhigten.

Jill tastete nach Lucios Hand und fasste sie. Sie schliefen immer so, dass sie auf seiner rechten Seite lag. Seine Linke war ihr unheimlich.

»Dein Arm«, sagte sie leise in die Finsternis ihrer spartanischen Unterkunft, die nur von ein paar kleinen Kontrollleuchten erhellt war.

»Was ist damit?«

»Er quietscht.«

Obwohl Lucio auf dem Rücken lag, die Augen schläfrig geschlossen, sah er ihr Gesicht vor sich, das eine ihrer typischen Grimassen zog, halb komisch, halb angewidert.

»Tut mir leid«, brummte er schwer.

Sie kicherte.

Er richtete sich auf und schob sich über sie.

»Bei Gelegenheit werde ich mich mit diesen Tloxi ins Benehmen setzen.«

»Tu das!«

Es war so dunkel in der Kabine, dass er sie selbst jetzt nicht sehen konnte. Er ließ sich von ihrem warm gehenden Atem zu ihrem Mund führen und küsste sie.

»Vielleicht können sie die Gelenke ölen«, sagte sie noch.

»Ich geb dir!« Er packte sie, und sie rangelten eine Weile. »Soll ich dir sagen, was bei dir alles knackst und knirscht!«

Mitten in der Bewegung hielt sie inne. Sie wollte sich von ihm losmachen, und als er sie nicht freigab, rollte sie sich unter ihm zusammen.

»Jill!«

Sie stellte sich tot. Ein nacktes, hageres, schweißnasses Bündel zitterte zwischen seinen Armen.

»Entschuldige.« Lucio richtete sich auf. »So war es doch nicht gemeint!«

Er holte tief Luft und wandte sich an die Automatik. »Licht!«

»Nein, lass!«

Es wurde hell. Ein warmer, gedämpfter Schein, so wie sie ihn sich als Privatsphäre programmiert hatten.

»Nicht!« Sie angelte mit der Hand nach der zerknüllten Decke, um sie über sich zu ziehen, aber er riss sie schneller fort, als sie sich damit bedecken konnte.

»Lass das!«

»Was ist denn?«

»Ich will nicht, dass du mich so siehst!«

»Wie?«

»So!«

Sie wies ihm den Rücken und presste sich bäuchlings auf die Matratze, als wolle sie in das intelligente Innenleben des Bettes hineinkriechen.

»Du bist wunderschön«, sagte Lucio ruhig. »Und ich liebe dich!«

Jill stieß ein frustriertes Stöhnen aus. »Ich bin ein vertrocknetes altes Weib!«

Lucio packte sie am Handgelenk und drehte sie mit sanfter Gewalt herum. Dann fasste er ihr Kinn mit der mechanischen linken Hand, in der surrend die Tloxi-Servos ansprachen, und zwang sie, ihn anzusehen. Sie blinzelte und schnitt eine weitere ihrer Grimassen, die er so hinreißend fand und deren Vorrat trotz allem nie zur Neige ging.

»Jill Lambert«, sagte er, jedes Wort betonend. »Du bist wunderschön, und ich liebe dich!«

»Ich könnte deine Mutter sein!« Ihr klägliches Wimmern war nur halb gespielt.

»Quatsch!«

»Du hast es selbst gesagt, meine Gelenke krachen!«

»Deine Hüfte knackst manchmal.« Er sah sie mit überströmender Wärme an. Allmählich entspannte sie sich und hielt seinem Blick stand.

»Vielleicht sollte ich auch einmal zum Ölwechsel«, versuchte sie zu witzeln.

»Im übrigen wärst du höchstens meine ältere Schwester!«

»Hattest du eine Schwester?«, hakte sie ein.

»Ja, hatte ich.«

»Und, habt ihr miteinander gespielt?«

»Wir hatten ja nicht viel«, plauderte er. »Ich habe Müll gesammelt. Alte Reifen, Elektroschrott, Metallteile, Spulen von Feldgeneratoren, solche Sachen, und daraus Scooter gebastelt und Fantasieraumschiffe.«

»Das habe ich nicht gemeint.«

»Ach so?!« Er grinste in gespielter Ahnungslosigkeit.

»Ob du ihr dein Ding gezeigt hast«, fragte Jill. »Und sie dir das ihre.«

Er ging auf den ordinären Tonfall nicht ein, von dem er wusste, dass er aufgesetzt war.

»Das war nicht nötig«, erklärte er ruhig. »Wir sind sehr – eng zusammen aufgewachsen. Wir haben zusammen gebadet und in einem Bett geschlafen, wenn man den Verschlag so nennen wollte. Im Sommer sind wir mehr oder weniger nackt herumgelaufen und wir sind zusammen im Meer geschwommen, natürlich ohne Badeanzug. Also da gab es nicht sehr viel zu zeigen.«

»Entschuldige«, sagte sie leise.

»Macht nichts.« Er ließ sich in eine sitzende Position nieder, das Bein angezogen. Sie dachte wieder, wie unverschämt gut er aussah. Auch er war nicht mehr der abgerissene Jüngling von Anfang zwanzig, den sie aus dem brennenden Pensacola gerettet hatten. Aber er war immer noch ein hinreißender Junge, ein großer Bub, vor allem wenn er so lachte und sie so ansah, wie jetzt. Sie wünschte sich, dass dieser Nachmittag nie zuende gehen werde.

»Wir kamen zurecht«, erzählte er. »Wir hatten alles, was wir brauchten, mehr oder weniger. Wir litten keinen Hunger, die Sonne schien, wir konnten an den Strand gehen, wann immer wir wollten. Es war keine schlechte Kindheit.« Er hob die muskulösen Schultern. Aus der linken drang dabei ein seufzendes Geräusch.

Sie strich über seinen rechten Arm und zog seine Hand an sich.

»Ich liebe dich«, sagte sie.

»Ich liebe dich auch«, sagte er. »Und ich will so etwas nie wieder hören.«

Jill lächelte traurig und wandte den Blick ab.

»Im übrigen habe ich dir das alles schon einmal erzählt.«

»Schon mindestens hundertmal!« Sie grinste traurig, als die Erinnerungen in ihr aufstiegen. Allein die Monate in Sina City! »Aber ich kann nicht genug davon kriegen.«

»Ich kann davon nicht genug kriegen!« Er streichelte ihre kleinen Brüste und zeichnete ihre hageren Rippenbögen nach. Ihre Haut war immer noch erhitzt. Sie waren ordentlich in Schweiß gekommen.

»Immerhin hattest du keinen Vater.« Zwischen den Beinen hindurch angelte sie wieder nach der Decke.

»Das stimmt.«

»Warst du der Vater? Ab einem gewissen Zeitpunkt?«

»Meine Schwester war die Ältere, von daher war ich lange der Kleine. Aber Frauen zählten nichts in dieser dreckigen – Gesellschaft. Als ich alt genug war, musste ich das Familienoberhaupt spielen.«

»Du musstest deine beiden Frauen verteidigen.«

»Ja, das musste ich.«

»Auch mit den Fäusten.«

Er lachte. »Ich bin öfter als einmal mit einem blauen Auge heimgekommen. Auch mit einem ausgeschlagenen Zahn. Oder mit einem Messer in der Seite!«

Er zeigte ihr die Narbe oberhalb der Hüfte, die von einer einschlägigen Auseinandersetzung in den Slums von Pensacola stammte. Auch an der Brust und neben der rechten Augenbraue trug er die Schmisse seiner gewalttätigen Jugend. Im Gegensatz zu den ausgeschlagenen Zähnen hatte er diese Male nie richten lassen, auch nicht, als er längst Offizier der Union war. Er trug seine Narben mit Stolz.

»Aber all das habe ich dir doch schon so oft erzählt!«

»Ich höre es einfach immer wieder gerne an.«

Sein Blick wurde lauernd.

»Auf was willst du hinaus?«

»Auf gar nichts!« Ihre Antwort kam ein wenig zu rasch und zu entschieden.

»Du langweilst dich«, stellte er fest. »Wir müssen aufpassen, dass wir keinen Lagerkoller kriegen, auf dieser komischen Station.«

»Nein!«

»Cyrill sagt, der Abflug verzögert sich. Es kann noch mehrere Wochen dauern!«

»Das ist es nicht!«

»Die Situation dort ist noch nicht bereinigt.« Er sah sie an. »Vielleicht sogar Monate!«

»Lucio.«

»Was?« Sein Blick wurde noch eine Spur fragender, um dann verständnislos von ihr abzugleiten.

»Das ist es nicht«, sagte sie warm. »Mir ist nicht langweilig. Ich könnte ewig hier mit dir so liegen und plaudern und mir deine Kindheit erzählen lassen. Und Liebe machen.«

Er schaute sie durchdringend an. Sie konnte sehen, wie er das Gespräch im Geist zurückspulte und Satz für Satz rekapitulierte. Dann machte sich das Begreifen in seiner sonnengebräunten Miene breit.

»Du überlegst, ob ich ein guter Vater wäre.«

»Bitte!« Sie schlug seine Hand weg, die immer wieder ihre Schlüsselbeine nachgefahren hatte. Aber sie gab sich keine Mühe, ihre Empörung so zu spielen, dass es überzeugend gewesen wäre.

Lucio sah sie an.

»Ich bin eine alte Frau!«, lachte sie wieder. Ein Schluchzen stahl sich in das künstliche Kichern.

Er schüttelte nur den Kopf.

»Dafür ist man nie zu alt«, sagte er. »Im übrigen sollte es in unserem Jahrhundert Mittel und Wege geben ...«

»Wir sind Amish, Lucio«, warf sie ein. »Wir haben uns diesem Volk angeschlossen, weil wir seine Haltung zu bestimmten Dingen teilen.«

»Wir sind Teil ihrer Organisation«, brummte er ausweichend. »Offiziell gesprochen: Militärberater. Was ihre Religion und ihre rückständigen Ansichten angeht ...« Er schob die Unterlippe vor.

»Wir haben uns entschieden, und in ein paar Tagen oder Wochen geht unser Flug.«

»Wir schulden niemandem Rechenschaft.« Er nahm wieder ihre Hand. Sie war jetzt ganz nass. »Ach, Lucio.« Sie streichelte seine Hand, die braun und kräftig und jung in der ihren lag. Dann sah sie zu ihm auf. »Du würdest das wirklich machen?!«

Auf der Plaza hatte man mehrere große Holojektoren aufgestellt. In zwanzig Meter breiten und zehn Meter hohen Darstellungen konnten die Passanten in Echtzeit verfolgen, wie draußen an der Wiederherstellung der Station gearbeitet wurde.

Der Torus war durch das Attentat während des Zthronmischen Krieges schwer beschädigt worden. Die Bombe hatte ein Modul, eben das Zthronmische, vollständig zerstört. Die auftretende Unwucht hatte die reifenförmige Konstruktion, die noch nicht fertiggestellt war, in mehrere riesige Segmente auseinanderbrechen lassen. Die Tloxi hatten die auseinander driftenden Teile eingefangen, die Raumstation notdürftig stabilisiert. Aber erst jetzt, mit Ausrufung der Neuen Union, in der Menschen, Tloxi und all die anderen Rassen der Galaxis sich feierlich zusammengefunden hatten, war wirklich Bewegung in die Sache gekommen.

Jill blieb stehen und sah sich das eine Weile an.

Die Bilder präsentierten Vorgänge, die sich hundert Kilometer entfernt, am entgegengesetzten Ende des majestätischen Hohlreifens ereigneten. Sie wurden vom Tloxi-Kontinuum zur Verfügung gestellt. Von daher gab es keinen Kamerastandpunkt, sondern die Übertragung projizierte in die Kuppel, was eine von unendlich vielen Darstellungsmöglichkeiten in der kollektiven Simultaneität des Roboterkollektivs war. Die Bilder waren gleichzeitig real und virtuell.

Jill konnte erkennen, wie große Materialerzeuger ihre kilometerlangen Stahlgitter in den Raum spien. Sie sahen aus wie große Scheinwerfer. Fünf Meter breite, hexaedrische Generatoren, denen sich in ungeheurer Geschwindigkeit unfassbare Mengen der tragenden Gitterkonstruktionen aus hochreinem Elastalstahl entwanden. Es sah aus, als wüchsen die Skelette im Zeitraffer aus den Erzeugern hervor, die wie starre Schneekanonen in den Kosmos gerichtet waren und ihn mit exakt verarbeitetem Titan beschickten. Die Kapazität dieser Erzeuger bewegte sich in der Größenordnung von mehreren Millionen Tonnen pro Tag.

In Wahrheit waren es Wurmlochgeneratoren. Die Stahlgitter wurden anderswo gefertigt – auf Minenkolonien, Industrieplaneten oder Fabrikschiffen am anderen Ende der Galaxis oder sogar jenseits davon, auf den Rohstoffwelten des Eschata-Clusters –, und verzögerungsfrei, über stabile Hyperraumportale, hierher geschickt. Die Zeit der Megatonnenschiffe, die Rohmaterialien oder Vorprodukte physisch an den freischwebenden Bauplatz gekarrt hatten, war Vergangenheit.

Jill fragte sich, ob die Tloxi diese Technologie erst jetzt entwickelt hatten. Bei einem so alten und in sämtlichen Ingenieursdisziplinen so versierten Volk wie den unscheinbaren Androiden kam ihr das unglaubhaft vor. Wahrscheinlicher war, dass sie schon seit geraumer Zeit über das Verfahren verfügt, es aber zurückgehalten hatten, solange sie sich über die Zuverlässigkeit des neuen Partners namens »Menschheit« nicht im klaren waren. Die Vorgänge rund um den Planeten G.R.O.M. deuteten in diese Richtung.

Jetzt hatte man sich aber zusammengerauft. Die technologische Entwicklung erlebte einen beispiellosen Boom, der kaum irgendwo so sehr mit Händen zu greifen war wie hier, auf dem Torus. Die Fortschritte waren von Tag zu Tag zu verfolgen. Die Station, die als Rohbau den ersten galaktischen Kongress beheimatet hatte und dann als notdürftig fixierte Ruine durch den Raum getrieben war, wuchs buchstäblich ihrer Vollendung entgegen. Wie im Zeitraffer alter Schulfilme, wo Blumen in Augenblicken austrieben und erblühten, strahlten die Streben aus Titanstahlgitter in den Raum, verästelten und verzweigten sich, setzten Knospen an, aus denen Wohnmodule, Aufenthaltstrakte oder Andockschleusen wurden, und bildeten eine dünne, aber äußerst starre und strapazierfähige Haut aus intelligenten Polymeren. Es war eine Frage weniger Wochen, bis das Werk vollendet sein würde. Schon jetzt hielten jeden Tag neue Delegationen Einzug. In Kürze wurde der Torus Forum, Marktplatz, Versammlungshalle und Konferenzraum der Galaxis sein, wo die Dutzenden Spezies der Neuen Union einander begegneten, sich austauschten, sich gegenseitig kulturell bereicherten, Geschäfte machten und interstellare Politik trieben.

Jill riss sich von dem Anblick los, der selbst für eine erfahrene Raumpilotin wie sie beeindruckend war, und ging weiter. Sie hatte kein bestimmtes Ziel. Sie schlenderte. Aber in ihrer beengten Kabine war ihr die Decke auf den Kopf gefallen.

Die Plaza, die während der dunklen Zeiten fast verwaist gewesen war, wimmelte wieder von buntem Leben. Unionsangehörige in der weißen Uniform der fliegenden Crew oder dem dezenten dunkelblauen Anzug des Bodenpersonals eilten geschäftig hin und her. Arbeitsteams und Ingenieurstrupps der Tloxi klackerten mit ihren metallischen Absätzen über den Boden aus hartweißem Synthetmaterial. Die pflanzenartigen kuLau gingen in wiegendem Schritt einher. Ihre Delegation war während der Fürstenhochzeit eine der größten gewesen. Und auch jetzt sah man die eleganten Wesen immer noch sehr häufig. Würdevolle Amish schritten langsam durch die riesige Kuppelhalle, während sich hier und da die blaugrün schimmernde Gaswolke eines Sirters drehte. Sogar Zthronmic, Sineser oder Laya waren nichts ungewöhnliches. Ihre Völker standen unter besonderer Beobachtung der Union. Aber der Torus war neutrales Gebiet, auf dem die Gesandten aller Welten diplomatische Immunität genossen. In den Hinterzimmern der Wohn- und Arbeitsmodule wurde manches besprochen, was nie das Licht der Öffentlichkeit erblicken würde. Aber hier war der Ort, um miteinander zu verhandeln und die Gesprächskanäle offenzuhalten, die anderswo verschüttet oder zugebombt worden waren.

Jill wurde der Rummel zu viel. Aus der Stille ihres Zimmer hatte sie sich her gesehnt. Aber jetzt verlangte es sie nach Ruhe. Die Plaza mündete in den etwas weniger monumentalen Korridor, der scheinbar endlos geradeaus lief, in Wahrheit aber über einen Radius von hundert Kilometern in sich selbst zurückgekrümmt war. In seine eine Seite waren die Arkaden des Beförderungssystems eingelassen, eine vollautomatische U-Bahn aus intelligenten Kraftfeldern. Auf der anderen Seite reihten sich Läden, Shops, Büros und kleine Bars aneinander.

Jill fand ein gemütliches Bistro, wo sie sich an einen Tisch setzte und einen Milchkaffee bestellte. Der Service wurde von einer jungen Frau in der weißen Ausgehuniform der Union versehen. Eine Offiziersanwärterin, die hier ihr Pflichtjahr im Ordonanzdienst ableistete.

Als sie den Kaffee brachte, musterte sie Jill und strahlte sie dann an, als habe sie in der Lotterie gewonnen.

»Sind Sie das wirklich?!«

»Ja, ich bin’s.« Jill nahm mürrisch ihre Tasse und schlürfte die aufgeschäumte Milch. Sie trug den schlichten blauen Alltagsanzug ohne Namensschild und Dienstgrad. Da sie keine Offizierin der Union mehr war, stand ihr eine reguläre Uniform nicht zu. Außerdem wiegte sie sich gerne in der Illusion, sie könne ein Incognito bewahren. Aber natürlich war das unmöglich. Ihr Gesicht war bekannt. Spätestens seit Sina waren Lucio und sie Berühmtheiten.

»Ich bin es wirklich«, sagte sie noch einmal. »Wenn ich dann in Ruhe meinen Kaffee trinken dürfte?«

Die junge Frau nickte, starrte sie aber unverwandt an. Nach einigen Sekunden riss sie sich los und kehrte hinter ihre Theke zurück.

Jill stöhnte genervt. Sie sehnte sich weg von hier. Aber Cyrill vertröstete sie einen Tag um den anderen. Irgendwie schien es nicht voranzugehen. Die Mission war mehrere Wochen im Verzug. Und jedesmal, wenn sie nachfragten, wurden sie wieder mit fadenscheinigen Vorwänden abgespeist.

Die Ordonanz stand schon wieder da.

»Kann ich Ihnen noch etwas bringen?«

Jill wollte schon aufbrausen. Dann besann sie sich. Sie schluckte den Verdruss über die ganze Situation herunter und beschloss, das beste daraus zu machen.

»Setzen Sie sich«, sagte sie und deutete auf den zweiten Stuhl, der zu dem schmalen Bistrotisch gehörte.

»Ich weiß nicht, ob ich das darf.« Die junge Frau sah unsicher in die hintere Ecke, wo sie wohl eine Kamera vermutete.

»Ich befehle es Ihnen«, sagte Jill streng.

Die Ordonanz zuckte zusammen. Dann begriff sie, dass es ein Scherz gewesen war.

»Aye!« Sie salutierte grinsend und nahm neben der Veteranin des Sinesischen und des Zthronmischen Krieges Platz.

»Ich bin Jill«, sagte Jill mit schmunzelnder Förmlichkeit. »Jill Lambert.«

»Das weiß ich doch.« Das Mädchen ergriff Jills Hand und vergaß, sie wieder loszulassen.

»Verrätst du mir deinen Namen?«

»O Gott, entschuldigen Sie!« Die Kleine wurde rot. »Ich heiße Junika. Junika Sheffield.«

»Es freut mich, dich kennenzulernen, Junika.«

»Es ist mir eine Ehre, Miss Lambert.«

»Lass uns Du sagen!«

»Das darf ich nicht. Zu den Gästen, meine ich.«

»Wie du willst.«

Das Mädchen starrte sie immer noch an, als wäre sie ein leibhaftiges Wunder. Jill fragte sich, ob sie während der letzten Zeit zu zurückgezogen auf ihrer Kabine gelebt hatten. Würde der Effekt sich nicht irgendwann erschöpfen, wenn sie mehr auf die Plaza und in die öffentlichen Korridore gingen? Wann hatte sie das Unionsmodul zum letzten Mal verlassen?

»Ätzend, der Job, was?«, fragte sie.

»Es geht.« Die Kleine wand sich. Sie getraute sich nicht frei zu sprechen. Jill war eine Respektsperson, eine ehemalige Wissenschaftsastronautin, ranghohe Offizierin und Enthymesis-Pilotin!

»Ich habe das auch gemacht«, sagte Jill. »Als ich in deinem Alter war.«

»Das kann ich mir gar nicht vorstellen.«

»Es ist auch schon sehr lange her.«

»So alt sind Sie doch noch gar nicht.«

»Viel älter, als du meinst.« Sie nippte an ihrem Milchkaffee. »Der ist übrigens hervorragend!«

»Danke.«

»Zwanzig Wochenstunden?«, fragte Jill. »Parallel zum dritten Ausbildungsjahr.«

»Genau.« Junika produzierte ein resigniertes Feixen. »Manche Dinge ändern sich anscheinend nie.«

»Es geht vorüber.«

»Der Job ist nicht schlimm. Man hat keinen Stress, die Leute sind okay.«

»Aber es ist langweilig.« Jill lächelte.

»Man hat so viel zu tun. Die Einheiten, die Simulatorstunden, der reale Unterricht, die Prüfungen.«

»Die Jungs!«

»Dafür habe ich keine Zeit.«

»Du kannst es ruhig zugeben. Wir sind ja unter uns.«

»Sie sind nett. Aber da ist nichts.« Junika kaute auf ihrer Unterlippe. »Es gab einen, der war wirklich süß. In Pensacola.«

»Ja, in Pensacola gibt es tolle Jungs!«

Eine Weile hingen beide ihren Gedanken nach.

»Dafür ist später Zeit«, sagte das Mädchen schließlich.

»Hast du ihn verlassen.«

»Es ging nicht anders. Ich habe mich freiwillig hierher gemeldet.«

»Das ist sicherlich eine aufregende Erfahrung.«

»Anfangs schon.«

»Das war es ja sogar für uns!«

»Aber mit der Zeit gewöhnt man sich daran.«

»Es geht vorbei«, wiederholte Jill. »Und hinterher möchte man es nicht missen.«

»Den Ordonanzdienst?« Junika wirkte geradezu erschrocken.

»Die ganze Zeit. Die Ausbildung, die Akademie.« Jill sah von ihrem Kaffee auf und blickte der anderen direkt in die Augen. »Die Jugend!«

»Es dauert alles so lange«, seufzte Junika. »Nach der Akademie fängt es erst richtig an.«

»Kommt darauf an, wo du hin willst.«

»Können Sie sich das nicht denken?«

»In der Neuen Union gibt es unfassbar viele Möglichkeiten!«

»Ich will Enthymesis-Pilotin werden.«

»Da hast du allerdings noch einen weiten Weg vor dir.« Jill musste unwillkürlich schmunzeln.

»Alle wollen das«, sagte das Mädchen noch. Dann nahm sie ihren ganzen Mut zusammen: »Sie sind unsere Vorbilder, unsere Helden.«

»Stellt euch bloß nicht zu viel vor. Es ist die anspruchsvollste Ausbildung, und es ist ein Knochenjob!«

»Alle eifern Ihnen nach.«

»Jetzt lass mal gut sein.« Jill war zusammengezuckt. Sie sah auf die Holo-Anzeige an ihrem Handgelenk. Gleichzeitig wurde sie blass.

»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte Junika erschrocken.

»Es geht schon«, sagte Jill. Sie stand unsicher auf. »Ich muss mal kurz verschwinden.«

Junika zeigte ihr den Weg. Im Gehen drehte Jill sich noch einmal um. »Frauengeschichte!«

Im Waschraum rief sie die volle Anzeige ab. Ihre integrierte Wäsche teilte ihr mit, dass sie zu menstruieren begonnen hatte. Als ob sie das nicht selbst gemerkt hätte! Die Krämpfe in ihrem Unterleib hatten nicht getrogen. Ihr sensorieller Slip schäumte selbsttätig auf und verstärkte sich, so dass er eine hochabsorptive Binde bildete. Über die Steuerung an ihrem Handgelenk nahm sie die Justierung vor. Dann wusch sie sich das Gesicht mit kalten Wasser und starrte in den Spiegel.

Sie hatte ihre Periode immer nur unregelmäßig bekommen. Während strapaziöser Einsätze war sie oft ausgeblieben. Mittlerweile rechnete sie damit, dass sie ganz aufhörte. Sei es aus Altersgründen, sei es, weil ... Aber jetzt blutete sie wieder. Ausgerechnet jetzt!

Als sie sich wieder gefangen hatte, kehrte sie ins Bistro zurück. Im Stehen stürzte sie den Rest ihres Milchkaffees hinunter, der inzwischen kalt geworden war. Dann bezahlte sie mit ihrer ID.

»Sind Sie okay«, wollte Junika wissen, während sie Jill quittieren ließ.

»Es geht mir gut«, sagte die Offizierin. »War nett, mit dir zu plaudern.«

»Kommen Sie mal wieder. Ich bin immer vormittags hier, neun bis zwölf, außer sonntags. Und bringen Sie Ihren Mann mit!«

»Du würdest ihm gefallen.« Jill registrierte, dass der lockere Ton ihr nicht gelang. »Genieß’ deine Zeit.«

Die beiden Frauen nickten einander zu.

Gerade, als Jill sich zum Gehen wandte, aktivierte sich der kleine Monitor, der oberhalb der Theke an der Wand befestigt war. Die Fanfare der Union kündigte eine offizielle Meldung an.

»Sondermeldung. Auf dem Planeten Hyperborea, der erst vor kurzem für die Erschließung freigegeben worden ist, hat sich ein schwerer Zwischenfall ereignet. Das Vorab-Team, das seit mehreren Wochen vor Ort ist, hat damit begonnen, Pioniertrupps abzusetzen, um die Situation am Boden zu erkunden.«

Das Bild baute sich nur langsam auf. Es blieb unscharf, als habe die Kamera mit einem Sandsturm oder einem feindseligen Blizzard zu kämpfen. Jill hatte sich unwillkürlich wieder in ihren Stuhl fallen lassen. Junika fummelte an den Monitoreinstellungen, aber die Auflösung blieb grieselig, als teile sich die ungeheure Entfernung in Form hartnäckiger Störungen mit.

»Zu Team Oskar, das vor vierundzwanzig Standard in der östlichen Ebene des Hauptkontinents herunterging, riss der Kontakt wenige Minuten nach der Landung ab. Alle Versuche, wieder mit der Einheit in Verbindung zu treten, schlugen fehl. Das aus vier Exo-Geologen und zwei Offizieren bestehende Team antwortete nicht. Alle Versuche, aus dem Orbit zum Boden durchzudringen, scheiterten an den Staubstürmen dieser Region und an rätselhaften Feldanomalien. Als der Leiter der Mission, General Randolph Valerian Rogers, das Gebiet mit Drohnen überfliegen ließ, stürzten diese ebenfalls ab.«

»Oh mein Gott!« Junika hatte sich mit der miserablen Übertragungsqualität abgefunden und wieder auf Jills Seite der Theke gewechselt. »Ist das der General Rogers?!«

»Still«, zischte Jill, die mit starrem Blick an dem Monitor hing.

Verschiedene Einstellungen zeigten bizarre Gebirgs- und Wüstenlandschaften, Sand- und Salzebenen, pulvrige Schwefelstürme, die sich bis in die Troposphäre hinauf ballten, manganatfarbene Wolkenbänke, in denen die Silbermesser heftiger Entladungen wüteten, grobkörnige Einöden, deren Reichtum an kotfarbenen Sedimenten verstörend war, vulkanische Schlackehalden, die mit ihrem Überfluss an nutzlosem Geröll sämtlicher mineralischer Provenienzen nur so prunkten.

Andere Bilder, die von tieffliegenden Drohnen zu stammen schienen, ließen für Sekundenbruchteile mattweiße und messinggetönte Fragmente technischer Artefakte erahnen, die in den entmutigenden Weiten niedergegangen waren. Dann brachen diese Übertragungen oder Aufzeichnungen von Übertragungen ab, als hätten sie die Sinnlosigkeit des ganzen Unterfangens eingesehen. Ein Bild blieb an Jills Netzhaut haften, als habe es das Brenneisen eines Viehzüchters dort für alle Zeit hineingeätzt: der stumpfe, samtschwarze Konus eines Lambda-Moduls, der von humanoiden Körpern umgeben war. Leichen.

Ein Schnitt, dessen skalpellartige Schärfe sich dem Betrachter als nichtblutender Schmerz mitteilte, brachte General Rogers ins Bild.

»Wir wissen nicht, wer das getan hat, aber wir werden die Bastarde finden und zur Rechenschaft ziehen.«

Im Off rang sich die Frage eines Journalisten aus der Unsichtbarkeit los.

»Also gehen Sie nicht von einem natürlichen Hintergrund dieser Katastrophe aus?«

»Natürlich?« Rogers grinste verächtlich. Die blauroten Adern, die seine Wangen und Schläfen durchzogen, füllten den ganzen Bildschirm aus, wobei sie selbst zu einer abweisenden Landschaft auf einem lebensfeindlichen Planeten wurden. »Das war kein natürliches Phänomen! Unsere Leute wurden beschossen!«

Als sie ihre Kabine betrat, saß Lucio im Schneidersitz auf dem Bett. Er hatte sein MasterBoard auf dem Schoss. Datenströme flossen zu den Pads an seinem linken Handgelenk und seiner rechten Schläfe. Er war online.

Jill zog Jacke und Schuhe aus. Sie drapierte die kleinen Taschen und Tüten, die sie von der Plaza mitgebracht hatte, auf der brusthohen Ablagefläche, die sich an der Längswand ihrer Unterkunft dahinzog. Während sie wartete, dass Lucio eine Meldung vom System bekam und offline ging, blätterte sie geistesabwesend die Verpackungen und Folien ihrer Mitbringsel durch. Süßigkeiten und Gebäck, ein paar neue Zero-Packs für ihre Interfaces, hauptsächlich Spiele und anderer Tinnef, aber sie hatte Lust gehabt, irgendetwas einzukaufen. Ja, sie war Shoppen gewesen, um sich zu zerstreuen. Es hatte ihr gut getan, auch wenn die Wirkung nur von kurzer Dauer war und sich in diesem Moment schon wieder zu verflüchtigen begann.

Die Krämpfe in ihrem Unterleib kehrten wieder. Sie nahm etwas dagegen ein.

Dann setzte sie sich auf die Bettkante und sah zu, wie Lucio langsam in die Realität zurückkehrte.

Sein blinder, auf imaginäre Datenströme gerichteter Blick wurde wieder klar. Die Verbindungen zu seinen Control-Pads brachen ab. Sein Board ging auf Stand By.

Er hatte gelernt. Über das Stabslog der Union wählte er sich in die Kataloge der fliegenden Crew ein und ging die neuen Einheiten durch, die dort fast täglich hochgestellt wurden. Pausenlos wurden neue Schiffe, Shuttles, Drohnen, Bots und andere Maschinen in Dienst genommen. Wie in allen Bereichen war auch hier der Fortschritt absolut geworden. Die Neue Union, die aus der Fusion mit den Tloxi hervorgegangen war, passierte eine Singularität, in der die Entwicklung selbststeuernd und selbstverstärkend geworden war. Die kybernetischen Systeme verschmolzen mit dem telepathischen Kontinuum der Androiden und wurden zu einem holistischen Bewusstsein, das sich selbst kontrollierte, permanent optimierte und beschleunigte und dabei mit der Galaxie identisch wurde.

Lucio, der schon immer von unstillbarer Neugier getrieben worden war, seit er sich vom halbwaisen Analphabeten zum Mechaniker und dann zum Wissenschaftsoffizier hochgearbeitet hatte, versuchte auf dem Laufenden zu bleiben. Das betraf die Feldgeneratoren von Scootern und einfachen Gleitern ebenso wie die Wurmlocherzeuger von Überlichtschiffen, deren Aggregate aus verdichtetem Zthrontat die Raumzeit tausendmal in der Sekunden stauchten und wieder zurücksetzten. In allen diesen Bereichen war die technologische Revolution alltäglich und universal geworden. Selbst mit den modernsten Lehrmethoden, die den Stoff mit Verdichtungsraten von ganzzahligen Vielfachen in seinen Schädel stopften, konnte er kaum Anschluss halten.

Jill angelte eine der Tüten von der Ablage und begann damit, das Konfekt zu verzehren, das sie am Nachmittag in der Nähe von Junikas Bistro gekauft hatte.

»Hej«, sagte sie, als sie sah, dass Lucio ansprechbar war.

»Hej.« Er beugte sich über sie, um sie zu küssen. Dann schaltete er die Konsole ab und stellte sie auf das Nachttischchen. Sie bot ihm von den Süßigkeiten an, und er bediente sich mit einem jungenhaften Grinsen. »Warst du in der Stadt?«

»Sagen wir: Unter Leuten.«

»Ja, wir kommen hier zu wenig raus.« Er nickte zerstreut. Seine Augen waren gerötet. Gewaltige Informationsmengen waren auf sein Gehirn überspielt worden. Er wirkte fahrig. Seine Hand zitterte, als er sie erneut in Richtung der knisternden Tüte ausstreckte.

»Hat gut getan«, sagte Jill nur. Sie sah ihn an. »Es hat einen Zwischenfall gegeben.«

»Ja, hab’s mitgekriegt.«

»Ob das mit diesem Hyperborea wirklich eine so gute Idee ist?«

»Sie gehen der Sache nach.« Er rieb sich das müde Gesicht. Seine Stimme verriet, dass er keine Lust auf Diskussionen hatte.

»Rogers sagte, sie wurden beschossen!«

Lucio sah leer durch sie hindurch. »Man wird die Sache aufklären. Vielleicht war es wirklich nur ein dummer Zufall. Irgendeine Entladung. Es scheint dort äußerst heftige Gewitter zu geben, und wenn das Erkundungsteam blöderweise über einer Metallader heruntergegangen ist ...«

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