Kitabı oku: «Buchstäblichkeit und symbolische Deutung», sayfa 10
Zur Geschichte einer Kulturgeschichte der Literatur
Der Begriff KulturKultur wird längst inflationär gebraucht, ein verbindliches Verständnis darüber, was Kultur ist, gibt es aber nicht. Das betrifft sowohl die Alltagssprache als auch die Fachsprachen der unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen. Damit geht auch eine Inflationierung des Begriffs der Kulturwissenschaft einher. Wird schon kulturell gehandelt, wenn von Kultur bloß geredet wird? Ist das Beliefern von Social Medias mit Informationen bereits Ergebnis einer speziellen KulturtechnikKulturtechnik? Im ökonomischen Sektor sind Begriffe wie Unternehmenskultur, Kundenorientierungskultur, Problemlösungskultur, Teamarbeitskultur, Neugierkultur, Lernkultur, Digitalkultur usw. gang und gäbe. Dass es dabei meist nur um die Relevanz des Humankapitals und der unzureichenden Ausschöpfung des Erfolgspotenzials geht, ist offensichtlich. In anderen Kontexten sprechen wir von Buchkultur und Lachkultur, von der Laufkultur bei Fahrzeugen und dem Verlust der Briefkultur im E-Mail-Zeitalter. Wir nennen Freizeitkultur ebenso wie Industriekultur, und der Begriff Kulturindustrie ist längst in der Alltagssprache angekommen.1 Von Schreibkultur, gar von Rechtschreibkultur wird meist nur noch im bedauernden Rückblick gesprochen. Internetkultur und Social Media-Kultur sind Bestandteil unserer digitalen Prägung geworden. Droht uns wirklich, wie ein Medienphilosoph meinte, der Befund, „Kultur ist ein Spiel auf der Tastatur des Gehirns“, und die Medientheorie sei die „Grundwissenschaft der zukünftigen Kultur“?2 Kultur scheint jedenfalls mehr zu sein als nur „das vermittelte Abbild dessen, der sie hervorbringt: des Menschen“3.
Ist Kultur ein Verhalten oder ein Handeln? Psychoanalytisch gesehen bedeutet die Aneignung von Kultur die Produktion von Subjektivität. FreudFreud, Sigmund stellte fest, „daß jede Kultur auf Arbeitszwang und Triebverzicht beruht“4, die KulturKultur müsse gegen den Einzelnen verteidigt werden. Wie ist die Entwicklung des Menschen zum Kulturträger zu verstehen? Welche Bedeutung haben LesenLesen und SchreibenSchreiben als kulturelle Praktikenkulturelle Praktik? Ist es legitim, GrimmelshausenGrimmelshausen, Hans Jakob Christoffel vons SimplicissimusSimplicissimus (1668) als Beispiel einer individuellen Enkulturation im 17. Jahrhundert zu begreifen? Schon OpitzOpitz, Martin hatte in seinem Buch von der Deutschen PoetereyBuch von der Deutschen Poeterey (1624) betont, dass die wahre Kultürlichkeit des Menschen, das, was ihn in Abhebung vom Tier zum Menschen mache, die Poesie sei. Die Anmut der schönen Gedichte leite die einfältigen Leute zu aller TugendTugend und gutem Wandel an, die „bäwrischen vnd fast viehischen Menschen [würden] zue einem höfflichern vnd bessern leben angewiesen“5. Damit stellt sich also die Frage, welche Rolle überhaupt Literatur bei der Enkulturation wie bei der Darstellung kulturgeschichtlicherKulturgeschichte Sachverhalte spielt? Wie weit muss der Theorierahmen gespannt werden, bevor die konkrete Textarbeit aufgenommen werden kann? Brauchen wir eine LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte in der Kulturgeschichte in der Zivilisationsgeschichte, um diese Fragen, wenn schon nicht beantworten, so doch wenigstens zuverlässig und seriös diskutieren zu können?6 Auch der Versuch, für die Ablösung des Kulturbegriffs durch den Plural Kulturen als Untersuchungseinheiten zu plädieren, statt von einer Kultur also eher von vielen Kulturen zu sprechen, löst das Problem mit der Kultur nicht, sondern verschiebt es lediglich auf die Ebene einer pluralen Semantik.7 Anders verhält es sich, wenn durch Erkenntnisverknüpfungen eine Erweiterung oder gar Veränderung des Frage- und des Gegenstandsbereichs gemeint ist. Andere Fragen und neue Perspektiven könnten nun eingebracht werden.
Die Debatte darüber, was Kultur ist und welche Wissenschaft ermächtigt ist, sich um das zu kümmern, was als Kultur verstanden wird, ist nicht neu. Geradezu zyklisch scheint sie mit den Jahrhundertenden zusammenzufallen. So können wir in den Jahrzehnten vor und nach 1900 eine intensive Diskussion über den Gegenstand KulturKultur im Rahmen der Konsolidierung von Volkskunde als einer wissenschaftlichen Disziplin verfolgen. Vor allem die Germanisten taten sich schwer, hier Kompetenzen abzutreten. 1890 gründete der Germanist und Volkskundler Karl WeinholdWeinhold, Karl den ersten Verein für Volkskunde in Berlin, 1891 erschien bereits dessen Zeitschrift des Vereins für Volkskunde. Die Gründung der Zeitschrift für österreichische Volkskunde folgte 1895, 1897 erschien das Schweizerische Archiv für Volkskunde. 1919 wurden die ersten Lehrstühle für Volkskunde an den Universitäten in Prag und Hamburg eingerichtet. Die wissenschaftshistorisch durchaus verständliche strikte Ablehnung und die stillen Vorbehalte der älteren Wissenschaftlergeneration gegen das Fach Volkskunde dürften heute die Ausnahme sein. Leo LöwenthalsLöwenthal, Leo (1900–1993) Entsetzen beispielsweise über den Versuch, einen Dialog zwischen LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft und Kulturwissenschaft bzw. Volkskunde wieder zu beginnen und ihn zur Mitarbeit an diesem Dialog zu bewegen, entlud sich in dem Ausruf: „Volkskunde, das ist ja schrecklich!“8 Immerhin war Löwenthal neben AdornoAdorno, Theodor W., HorkheimerHorkheimer, Max und BenjaminBenjamin, Walter ein Gründungsvater der Frankfurter Schule.
Wie selektiv, meist deutschnationalen Interessen unterworfen, Johann Gottfried HerderHerder, Johann Gottfried als Begründer einer Wissenschaft von der Kultur und den Kulturen in den vergangenen 200 Jahren in Anspruch genommen wurde, erhellt sich erst durch neuere Forschungen. Von germanistischer Seite ist dieses Kapitel inzwischen wissenschaftsgeschichtlich aufgearbeitet, doch bleibt HerderHerder, Johann Gottfried auch hier nach wie vor ein ominöser Referenzrahmen, dem jene Autorität zugesprochen wird, die man dem eigenen Forschungsgegenstand oder dem eigenen Wissenschaftsstandpunkt nicht zutraut. Auch vor diesem Hintergrund ist es mehr als verständlich, dass in den 1990er-Jahren zur „Revision und Konsolidierung“9 des Fachs Germanistik aufgerufen wurde, das eine Renaissance der Kulturdebatte erlebt hat. Man kann sowohl einen Kulturwandel in den vergangenen Jahrzehnten feststellen als auch den Wandel des Kulturbegriffs beobachten.10 Dabei geht es kaum um einen Paradigmenwechsel, eher um einen Perspektivenwechsel. Sich über die Beziehungen von LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft, LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte, Germanistik, Volkskunde und Kulturwissenschaft Gedanken zu machen, ist nicht unbedingt en vogue gewesen und diente meist nur wenig verbrämten politischen Interessen.
Spricht man von der Literaturwissenschaft als einer Kulturwissenschaft, so suggeriert man eine semantische Kongruenz, die es so nicht gibt. Die kopulative Konjunktion Literaturwissenschaft und xy-Wissenschaft indes blickt auf eine längere Tradition zurück. Um einige Beispiele anzuführen: Das Interesse an dem Kollektivsingular KulturKultur lässt sich bis in die Anfänge der Fachgeschichte der Germanistik zurückverfolgen, wobei hier nur die wesentlichen Stationen genannt seien. August SauerSauer, August hielt in seiner Prager Rektoratsrede Literaturgeschichte und Volkskunde (1907) die „Blutmischung“11 in der Dichterpersönlichkeit für das entscheidende Kriterium einer „stammheitlichen“12 Literaturgeschichtsschreibung. Hier wurde die Volkskunde ebenso wie die Literaturgeschichte und die Literaturwissenschaft zur Formulierung deutschnationaler und kryptofaschistischer Positionen missbraucht. Sauer gelangte zu der Erkenntnis, GoetheGoethe, Johann Wolfgang habe die Begründung der Volkskunde vorweggenommen.13 Er formulierte „Thesen“,14 die sein Schüler Josef NadlerNadler, Josef in seiner Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften (1912/1928) dankbar aufgegriffen hat. Sauer forderte von einer kulturwissenschaftlichen Germanistik, dass sie zu jedem Dichter einen verlässlichen Stammbaum erarbeiten müsse; Familiengeschichte der Schriftsteller zu betreiben sei unverzichtbar. Die regionalen Literaturgeschichten sollten ausgearbeitet und zu einer stammheitlichen Literaturgeschichte synthetisiert werden. Die Literaturgeschichte müsse sich dabei der Forschungsergebnisse der Volkskunde „bedienen“15. Der Volkskunde selbst wird zur Aufgabe gemacht, eine Charakterologie des deutschen Volks zu erarbeiten. Eine Literaturgeschichte von oben müsse durch eine „literaturgeschichtliche Betrachtungsweise von unten“16 ergänzt werden. Auch hier dienen die Detailargumente wieder der Konstruktion und Befestigung einer deutschnationalen Weltanschauung. 1925 veröffentlichte Robert PetschPetsch, Robert seinen Aufsatz Volkskunde und Literaturwissenschaft, worin er Sauers Rektoratsrede nach immerhin 18 Jahren noch eindringlich und gehaltvoll nennt.17 Petsch sucht den direkten Anschluss an SauersSauer, August Anregungen und an NadlersNadler, Josef völkisch-nationale LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte.18 Das Ziel einer volkskundlich-literaturgeschichtlichen Wissenschaft sieht Petsch in einer „nationalen Selbsterkenntnis“19, welche diese Kombinationswissenschaft leisten könne. Im gleichen Jahr erscheint auch Lutz Mackensens Beitrag Volkskunde und Literaturgeschichte, worin er klarstellt, dass der Volkskundler vom Fach die poetischen Werke als Quellen benutze, woraus er sein Material schöpfe.20 Nach dem Zweiten Weltkrieg ist es zunächst Max Lüthi, der in seinem Beitrag Volkskunde und Literaturwissenschaft (1958) das freundliche Nachbarschaftsverhältnis dieser Disziplinen betont. Beide Wissenschaften sollten sich gegenseitig aushelfen und einander als Hilfswissenschaften dienen.21 Er bescheinigt der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft ein neues Interesse am Alltäglichen und Durchschnittlichen. Lüthi bilanziert, die Literaturwissenschaft habe aufgehört, „eine bloße Elitekunde zu sein, sie nähert sich, wenn nicht den Methoden, so doch dem Gegenstand nach, der Volkskunde an“22. Nicht ganz ohne Unterton stellt er diese Wendung zum Mittelmäßigen auch und gerade in der Volkskunde fest. Germanistik als Kulturwissenschaft23 – so wurde Anfang der achtziger Jahre ein Beitrag zu einer aktuellen Diskussion überschrieben. Und am Ende kam ein Plädoyer für Deutsch als Fremdsprache heraus, das in der Zwischenzeit an vielen Universitäten als fünftes Teilfach der Germanistik neben der Älteren deutschen Literaturwissenschaft, der Neueren deutschen Literaturwissenschaft, der Linguistik und der Didaktik institutionalisiert wurde und bereits wieder durch den Hype um die Digital Philology bedroht ist.
Dieser knappe Rückblick zeigt, dass dem Gedanken einer gemeinsamen Fachgeschichte von Volkskunde und LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft eine entschiedene Absage zu erteilen ist. Denn der Wissenstransfer verlief weitgehend einseitig, nämlich von der Volkskunde zur Germanistik, aber kaum umgekehrt. Die oft beklagte eurozentrische Ausrichtung der Kulturwissenschaften – zu denken wäre hier etwa auch an die Kontroverse zwischen Hans Peter DuerrDuerr, Hans Peter und Norbert EliasElias, Norbert24 – hat ihren argumentativen Ausgang in dem erstmals 1782 erschienenen Buch Versuch einer Geschichte der Kultur des menschlichen GeschlechtsVersuch einer Geschichte der Kultur des menschlichen Geschlechts von Johann Christoph AdelungAdelung, Johann Christoph. In der Vorrede heißt es dort:
„Cultur ist mir der Uebergang aus dem mehr sinnlichen und thierischen Zustande in enger verschlungene Verbindungen des gesellschaftlichen Lebens. Der ganz sinnliche, folglich ganz thierische Zustand, der wahre Stand der Natur ist Abwesenheit aller Cultur, und je mehr sich die gesellschaftliche Verbindung diesem Stande nähert, desto geringer und schwächer ist auch die Cultur. Zur Cultur gehören vornehmlich fünf Stücke: 1. Abnahme der Leibesstärke und Verfeinerung des thierischen Körpers. […] 2. Allmählige Abnahme der sinnlichen oder dunkeln Begriffe und ihrer Herrschaft, und 3. eben so allmählige Zunahme der deutlichen Begriffe, oder der vernünftigen Erkenntniß, […] 4. Verfeinerung und Milderung der Sitten; und 5. […] Bildung des Geschmackes“25.
Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht Wunder, dass am Ende dieser Ausführungen AdelungsAdelung, Johann Christoph Erkenntnis steht, trotz fortschreitender Aufklärung sei einzig Europa „Lieblingssitz der Cultur“26. Im Jahr 1799 tritt Johann Friedrich ReitemeierReitemeier, Johann Friedrich mit seiner Schrift Über die höhere Kultur, deren Erhaltung, Vervollkommnung und Verbreitung im StaatÜber die höhere Kultur, deren Erhaltung, Vervollkommnung und Verbreitung im Staat; oder Grundsätze von der zweckmäßigen Einrichtung der Volksschulen, Gymnasien, Universitäten und Gelehrten Gesellschaften an die Öffentlichkeit. Für den Verfasser bedeutet die höhere KulturKultur die Kultur der Höheren im Gegensatz zur Kultur der unteren Volksklassen.27 Bemerkenswert ist immerhin, dass ReitemeierReitemeier, Johann Friedrich in seinem Kulturkonzept eigene Kapitel den Themen LektüreLektüre und Bedingungen der Schriftstellerei, ferner den DistributionsformenDistribution von LiteraturLiteratur wie beispielsweise den gelehrten Gesellschaften und dem Buchhandel sowie der Zensur widmet. Saul AscherAscher, Saul formuliert in seinen Ideen zur natürlichen Geschichte der politischen RevolutionenIdeen zur natürlichen Geschichte der politischen Revolutionen (1802), das erfüllt ist von einem postrevolutionären Pathos, ein Junktim zwischen der Kultiviertheit eines Staatswesens und dem Stand der Entwicklung eines revolutionären Geistes.
„Im völligen Besitz der Kultur können wir ein Volk oder einen Staat betrachten, wenn alle Kräfte des menschlichen Geistes durch ihn in freie Thätigkeit versetzt, und er sich selbst überlassen, wie ein zweiter Prometheus, auf dem Boden, der ihm sonst öde und verlassen schien, den erhabenen Sitz der Gerechtigkeit und der Freiheit hinzaubert, und ihn in Vertrauen auf seine eigenen Kräfte gegen alle Anfälle jener Ungeheuer, die sich vom Unheile der Menschheit nähren, schützt“28.
Dies ist einer der seltenen Versuche, die Kulturentwicklung mit der Entwicklung freiheitlicher Grundrechte zu verknüpfen. Gustav KlemmsKlemm, Gustav Allgemeine CulturwissenschaftAllgemeine Culturwissenschaft (1855) widmet sich hingegen den genuin volkskundlich orientierten Themen wie Feuer, Nahrung, Getränke und Narkotika als Merkmale kultureller Entwicklung.29 Auch kritische Stimmen fehlen nicht am Ende der AufklärungAufklärung, die den fortschrittsgläubigen Optimismus grundsätzlich in Frage stellen und die sich weigern, Natur gegen Kultur und KulturKultur gegen Natur auszuspielen. Friedrich Maximilian KlingerKlinger, Friedrich Maximilian etwa bezweifelt vehement die sozialdisziplinierende und zivilisatorische FunktionFunktion der Kultur. Am Beispiel der Leidenschaften könne man zeigen, so führt er in seinen Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der LiteraturBetrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Literatur (1803/05) aus, dass es nicht die KulturKultur sei, welche die Auswüchse elementaren Naturrechts verhindere, sondern lediglich die Angst vor Bestrafung. Bei aller Einsicht in die Notwendigkeit kulturbedingter und kulturbedingender Vernunftarbeit plädiert KlingerKlinger, Friedrich Maximilian doch auch für einen gelegentlichen, freilich kontrollierten Verzicht auf Kultur. „So gut nun die Kultur für die Kühlern und Vernünftigern ist, so ist es doch nicht übel, dass wir uns zu Zeiten aus dem Stande der Wildheit etwas rekrutiren oder auffrischen; wir würden sonst gar zu artig, gar zu duldsam werden“30. Diese unkonventionellen Positionen bleiben aber singulär.
Friedrich NicolaiNicolai, Friedrich betont 1806 in seiner Schrift Einige Bemerkungen über den Ursprung und die Geschichte der Rosenkreuzer und Freymaurer […]Einige Bemerkungen über den Ursprung und die Geschichte der Rosenkreuzer und Freymaurer […] noch einmal die geschichtliche Perspektive: „Die Geschichte trägt der Aufklärung die Fackel vor“31. Damit sichert er auch die Bedeutung der Quellenkritik und der Quellensichtung für die AufklärungsgeschichteAufklärung, nicht zu reden von den quellenbibliografischen Nachweisen, wenn er fordert: „Eine Aufklärung ohne Gründe, eine historische Aufklärung ohne Dokumente, ist gar keine Aufklärung“32. Er bringt damit die versiegte Quelle wieder zum Sprechen. „Die Quellen schweigen für immer, die Stimme verstummt“33, ließ sich die PythiaPythia vernehmen, als im Jahr 362 n. Chr. versucht wurde, das Delphische Orakel zu reaktivieren. Allerdings sind die Quellentexte nun in der Neuzeit keine Prophetien voller Rätsel und Ungereimtheiten mehr, sondern die sprudelnde Quelle ist die metaphorische Bedeutung der wiederentdeckten Quellentexte. Man könnte geradezu von einer Unverstummbarkeit des Worts sprechen.
Zwischenbilanz und Ausblick
Das Paradigma einer kulturwissenschaftlichen PhilologiePhilologie war zum Ende des vergangenen Jahrhunderts also nicht neu. Neu war aber der Versuch, die Germanistik neben den etablierten kulturwissenschaftlichen Theoriefeldern in Volkskunde, empirischer Kulturwissenschaft, Geschichte, Soziologie und Philosophie aufzustellen und theoriegeleitet diese Neuorientierung zu begleiten. Als 1996 der Sammelband zum Thema LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft als Kulturwissenschaft erschien, ahnte niemand, welche Dynamik dieses Paradigma in kurzer Zeit gewinnen sollte.1 Um eine Art von vorläufiger Bilanz formulieren zu können, sind die Ausführungen des Historikers Peter BurkeBurke, Peter in seinem Buch Was ist Kulturgeschichte?Was ist Kulturgeschichte? (2005) hilfreich.2 Allerdings muss man beim Rückgriff auf Burkes Ausführungen eine entscheidende Einschränkung formulieren, welche die Grenzen einer Zwischenbilanz markiert. Wenn über eine Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur, ihren wissenschaftstheoretischen Status, ihr Theorieprofil, ihre Absichten, Leistungen und Schwächen gesprochen wird, dann geschieht dies unter dem expliziten Vorbehalt, dass ein kritischer Forschungsüberblick zum Thema nach wie vor Desiderat bleibt. Eine Kulturgeschichte der deutschen Literatur gibt es noch nicht.3 Die Behauptung, „Literaturwissenschaft ist keine Kulturwissenschaft“4, war schon zum Zeitpunkt ihrer Äußerung obsolet. Die Diskussion um dieses Paradigma ist weder abgeflaut noch überflüssig. Das Buch Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie (2000) markiert zwar eine gewisse Zäsur in der Diskussion um die Sozialgeschichte.5 Ich teile allerdings nicht die Einschätzung einiger Autoren dieses Bandes, dass die SozialgeschichteSozialgeschichte der deutschen Literatur gescheitert sei. Im Gegenteil, sie findet ihre konsequente Weiterführung im Paradigma einer Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur.
Peter BurkeBurke, Peter nennt in Was ist Kulturgeschichte?Was ist Kulturgeschichte? das erste von sechs Kapiteln Die Große Tradition und führt darin die historischen Aspekte seines Themas aus. Zunächst werden die großen Traditionen der allgemeinen Kulturgeschichte referiert und die Wiederentdeckung der KulturgeschichteKulturgeschichte in den 1970er-Jahren reflektiert. Karl LamprechtLamprecht, Karl stellte im Jahr 1897 erstmals die Frage: Was ist Kulturgeschichte? Der Gegenstandsbereich wurde bis heute sukzessive erweitert, die Frage, was sich innerhalb der Grenzen befinde, bleibe schwer zu beantworten. Deshalb schlägt Burke vor, die Aufmerksamkeit vom Gegenstandsbereich weg auf die applizierten oder propagierten Forschungsmethoden zu richten.6 Als eine allgemeine, gemeinsame Grundlage aller Kulturhistoriker begreift er das Interesse am SymbolischenSymbol. Vier Phasen einer Geschichte der Kulturgeschichte werden dabei unterschieden. Die erste Phase ist die klassische Phase (das betrifft den Zeitraum von 1800 bis 1950); die zweite Phase ist die SozialgeschichteSozialgeschichte der Kunst ab 1930, die dritte Phase ist die Phase einer Geschichte der Volks- und der Populärkultur in den 1960er-Jahren; und die vierte Phase wird als Phase einer „Neuen Kulturgeschichte“7 bezeichnet. Überträgt man diese Analyse und Bewertung des historischen Verlaufs auf das Modell einer Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur, bedeutet dies Folgendes: In der kulturwissenschaftlichen Philologie war eine erste Phase geprägt von der Suche nach der Standortbestimmung mit den Leitfragen: welcher Theorietransfer zwischen Kulturwissenschaften und LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft könnte gelingen, welche Thementransformationen wären wünschenswert und welche historischen Vorbilder gibt es bereits zu diesem Neuansatz? Damit waren die Fragen verknüpft, was eine literaturwissenschaftliche KulturgeschichteKulturgeschichte ‚eigentlich‘ sei und was man sich unter einer Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft vorzustellen habe. Diese Phase begann in den 1990er-Jahren. Und obwohl sie nicht abgeschlossen ist, ist sie wissenschaftshistorisch und theoriehistorisch an einem Ruhepunkt angelangt. Man könnte diese Phase als die informative Phase in der philologischen Diskussion nennen. Besonders in der ersten Hälfte des neuen Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts machten die kulturwissenschaftlichen Fachorientierungen Diskursangebote. Besonders hervorgehoben seien die Arbeiten von Andreas Reckwitz Transformation der Kulturtheorien (2000), Stephen Greenblatt Was ist Literaturgeschichte? (2000) 8, Friedrich Kittler Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft (2000), Ute Daniel Kompendium Kulturgeschichte (2001), die Gründung der Zeitschrift KulturPoetik (2001), Mieke Bal Kulturanalyse (2002), Matthias Luserke-Jaqui Medea. Studien zur Kulturgeschichte der Literatur (2002), Ansgar und Vera Nünning (Hgg.) Konzepte der Kulturwissenschaften (2003), Markus Fauser Einführung in die Kulturwissenschaft (2003), Heinz Dieter Kittsteiner (Hg.) Was sind Kulturwissenschaften? (2004), Sigrid Weigel Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte (2004), Moritz Baßler Kulturpoetik (2005), Peter Burke Was ist Kulturgeschichte? (2005), Vera Nünning (Hg.) Kulturgeschichte der englischen Literatur (2005), Silvio Vietta Europäische Kulturgeschichte (2005), Franziska Schößler Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft (2006). Eine zweite Phase, die sich mit der ersten Phase überschneidet und die sich gewissermaßen mit der illokutionären Seite dieses Anspruchs befasst, ist nach der Orientierungsphase die transformative Phase, welche die Frage nach der Intentionalität eines kulturgeschichtlichen Paradigmas stellt und die die ersten beiden Dezennien des 21. Jahrhunderts prägt. Sie fragt: was will? und: was wird sein? und mündet in projektbezogene Arbeiten, so etwa in der Kulturgeschichte der englischen Literatur.Kulturgeschichte der Literatur9 Darin wird der Gegenwartsbezug eines Textes als Leitkriterium einer Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur benannt. Die Bedeutung der Intermedialität zwischen der LiteraturLiteratur und anderen Künsten für ein solches Projekt wird hervorgehoben, ferner das Verhältnis von Literatur und Wirtschaft, die Identitätsthematik (womit persönliche und kollektive Identität gemeint sind), die kulturspezifischen Normen und Werte und die Aufhebung der traditionellen Leitdifferenz von Hoch- und Populärkultur werden betont. Die Grundannahme einer Kulturgeschichte der Literatur sei die Extrapolierung von TextText und Kontext. Der Geschichtlichkeit und Kulturalität von Texten wird damit eine zentrale Bedeutung zugesprochen.10 Daraus ergeben sich diskursive Schnittflächen mit anderen Disziplinen, wobei ein textualistischer bzw. ein semiotischer KulturbegriffKulturbegriff unter Anlehnung an ein Drei-Welten-Modell der materialen, der sozialen und der mentalen Sphäre von Kultur favorisiert wird. Zuletzt bleibt aber der ästhetische Eigenwert von Literatur hervorgehoben.11 In den Analysen einer Kulturgeschichte der Literatur steht nach dieser Auffassung „eine Art der Bezugnahme [zwischen Text und Kontext, M.L.-J.] im Vordergrund, die in eine übergreifende Fragestellung eingebettet, in der jeweiligen Kultur verortet, methodisch fundiert und intertextuell oder intermedial orientiert ist“12. Daran ließe sich anknüpfen und im kritischen Befragen ließen sich neue oder andere Leitkriterien generieren, was eine Kulturgeschichte der Literatur will.
Das zweite Kapitel seines Buchs nennt BurkeBurke, Peter Probleme der Kulturgeschichte. Hier wird das Problem der Selektion der Quellen und der Quantifizierung diskutiert. Kommt es etwa bei größeren Datenmengen zu anderen Schlussfolgerungen? Burke widerspricht der Widerspiegelungstheorie, wonach „die Texte und Bilder einer Zeit unkritisch als Spiegelungen dieser Zeit“13 begriffen werden. Daraus folgt die Dringlichkeit und Sorgfalt der Quellenkritik und der kritischen Inhaltsanalyse. Denn was ein Dokument erzählt, muss noch lange nicht das Erzählte dokumentieren. Burke stellt die „grundlegende Frage […]: Ist es möglich, Kulturen als Ganze zu erforschen, ohne der falschen Grundannahme einer kulturellen Homogenität zu erliegen?“14 Daraus leitet er „die beiden wichtigsten Probleme“ ab, er nennt dies auch das „Zwillingsparadoxon der Tradition“15, „was in einer Tradition weitergegeben wird, verändert sich […]“16. BurkeBurke, Peter expliziert die terminologische Differenz von Hochkultur und Volkskultur. Der Gegensatz zwischen beiden sollte aus pragmatischen Gründen nicht zu scharf herausgearbeitet werden, vielmehr sollten mehr die Kontexte beachtet werden. Schließlich wendet sich Burke dem Kulturbegriff selbst zu. Operationabel sei ein anthropologischer KulturbegriffKulturbegriff, der die Fähigkeiten und Gewohnheiten des Menschen umfasse.17
Eine Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur will an dieses zivilisationstheoretische Erbe (Norbert EliasElias, Norbert) anknüpfen, wonach KulturKultur als die Gesamtheit menschlicher Lebensäußerungen verstanden und prozessual begriffen wird, was als Ereignis kultureller Transformationsprozesse verstanden werden kann. Eine Kulturgeschichte der Literatur will demzufolge Einspruch erheben gegen die Vorstellung, ein objektivierbarer Autorwille sei Gegenstand einer Textinterpretation, statt dessen will eine Kulturgeschichte der Literatur die Frage stellen, ob Rückschlüsse aus literarischen Quellen auf nicht-literarische Kontexte und umgekehrt überzeugend sind und ob sie methodisch gesichert werden können. Hier gilt es, eine kritische Diskussion mit dem New Historicism zu führen und den textualistischen KulturbegriffKulturbegriff bis hin zu dessen kultursemiotischer Variante auf seine Brauchbarkeit hin zu befragen.18
Eine Kulturgeschichte der Literatur will Burkes Bedenken als starkes Argument gegen ein close reading, wie es in narratologischen Ansätzen expliziert wird, ernst nehmen. Eine Kulturgeschichte der Literatur untersucht die Bedingungen der RezeptionRezeption und TransformationTransformation von LiteraturLiteratur; sie will die gängigen und selbstverständlichen kulturgeschichtlichen Paradigmata von Mikrogeschichte und einer Geschichte von unten, die als das Erbe der SozialgeschichteSozialgeschichte bezeichnet werden können, bewahren und eine sich immer wieder abzeichnende Tendenz innerhalb germanistischer Arbeiten hin zum Höhenkamm kritisch befragen.
Das dritte Kapitel von BurkesBurke, Peter Buch widmet sich der Bedeutung der Historischen Anthropologie. Hier macht der Verfasser auf die Transformation des Kulturbegriffs aufmerksam und betont dessen Pluralisierung. Etwas emphatisch formuliert er: „Wir sind auf dem Weg zu einer Kulturgeschichte aller erdenklichen Gegenstände“19. Darunter rechnet er Träume und Gefühle ebenso wie Nahrungsmittel, Gesten, Reisen, Treppen etc. Dies sei die Geburtsstunde der sogenannten Neuen Kulturgeschichte, die zunächst als New Historicism aufgetreten sei.20 Beispielhaft seien nur vier monografische literaturwissenschaftliche Konkretisierungen genannt, die Kulturgeschichte der Grabschrift21, die Kulturgeschichte des Kusses22, die Europäische Kulturgeschichte23, die aber mit historisch recht großräumigen Substanzialismen arbeitet, die für eine konkrete Textarbeit nur bedingt tauglich sind und eher eine Ontologie des Historischen konstruieren helfen, und die Kleine Literaturgeschichte der großen Liebe24.
Burke spricht in seinem Buch von der „anthropologische[n] Wende“25, die sich auch in der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft vollzogen habe. Dies ist eine Redeweise, die von der Germanistik übernommen, aber in einem anderen wissenschaftshistorischen Kontext gebraucht wurde. Innerhalb der germanistischen Kulturwissenschaft wird auch von einem cultural turncultural turn gesprochen, nachdem es den linguistic turnlinguistic turn und den anthropological turnanthropological turn gegeben hatte. Eine Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur will diese Ansätze weiterentwickeln.
Das vierte Kapitel von Was ist Kulturgeschichte? heißt Ein neues Paradigma? Die Neue Kulturgeschichte habe zahlreiche „Inspirationsquellen“, sie sei „eklektischer“.26 Die Rede von einer New Cultural History taucht erstmals 1989 bei Lynn HuntHunt, Lynn auf. Neue KulturgeschichteKulturgeschichte wird als die „vorherrschende Form der heute praktizierten Kulturgeschichte“27 bezeichnet. Was sind nun die Kennzeichen der Neuen KulturgeschichteKulturgeschichte? Zuvörderst ein starkes Interesse an Theoriebildung, man mag dies durchaus auch als Ausdruck von Selbstvergewisserungstrategien begreifen. Dies schlägt bis in die PhilologienPhilologie durch, der Aufwand an Theoriesortierung und Theoriebewertung ist relativ hoch und ein charakteristisches Kennzeichen dieser Phase der Kulturgeschichte. Die Bedeutung der ZivilisationstheorieZivilisationstheorie von EliasElias, Norbert (BachtinBachtin, Michail Michailowitsch, FoucaultFoucault, Michel, BourdieuBourdieu, Pierre) wird dabei immer wieder hervorgehoben. Die Historiker sprechen bereits von einer Neuen Kulturgeschichte, da in der Philologie eben erst die alte Kulturgeschichte angekommen scheint. Es gibt also eine disziplinärspezifische Verzögerung im Prozess der Paradigmentransformation. Eine Kulturgeschichte der LiteraturKulturgeschichte der Literatur will diese terminologische Verschiebung bei einer transdisziplinären Aufgabenstellung berücksichtigen. Eines der Schlüsselwörter, so führt Burke aus, der Neuen Kulturgeschichte heißt Praxis, es geht beispielsweise dann nicht um eine Geschichte der Theologie, sondern um eine Geschichte der religiösen Praxis, oder nicht um eine Geschichte der Literatur, sondern um eine Geschichte des Lesens. Der Fokus liegt auf der RezeptionRezeption als einer Form kultureller Gebrauchsweisen. Burke verweist zwar auf die Konstanzer Schule und das Modell der RezeptionsästhetikRezeptionsästhetik, doch bleibt dieser Teil seiner Darstellung defizitär. Insbesondere die sehr wichtige und eigenständige sozialgeschichtlicheSozialgeschichte Leserforschung der 1970er- und 1980er-Jahre ist ihm nicht bekannt. Eine Kulturgeschichte der Literatur will diese sozialgeschichtlichen Ansätze als eine konsequente Weiterentwicklung der Sozialgeschichte der Literatur weiterführen. Was die Bedeutung der materiellen Kultur angeht, hätte BurkeBurke, Peter mit Sicherheit wesentliche Bestätigungen und Erweiterungen in den Arbeiten der Volkskunde bzw. der Europäischen Kulturwissenschaft gefunden. Eine Kulturgeschichte der Literatur will diese notwendige transdiziplinäre Perspektive sichern. Die Relevanz einer Geschichte des Körpers als einem Leitparadigma, die Burke herausstellt, kann durch den anthropological turnanthropological turn in der Germanistik etwa mit zahlreichen Studien zur Affektkontrolle, zum Leidenschaftsdiskurs, zu Körperbildern, zum Invaliden etc. bestätigt werden. Eine Kulturgeschichte der Literatur will auch dies weiterentwickeln. Am Beispiel der Liebe etwa greifen in einer Kulturgeschichte der Literatur anthropologische, soziale und ästhetisch-literarische Fragestellungen und Aufgaben in besonderer Weise ineinander. Möglicherweise eignet sich Liebe als Paradigma einer performativen Wende in der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft. Wo Liebe ist, ist KulturKultur, friedfertige Kultur. Liebe wird so als eine KulturtechnikKulturtechnik verstanden, die mehr ist als der aktive Beitrag der Natur zur Aggressionshemmung, um es evolutionsbiologisch auszudrücken, und Liebe ohne Intimität kann es nicht geben, denn davon berichtet die LiteraturLiteratur sehr beredt.