Kitabı oku: «Buchstäblichkeit und symbolische Deutung», sayfa 16
Doch es kommt zur doppelten Verwechslung. Pietro heißt bei den Seeräubern Haßan, in I/3 tauscht er mit Osmann die Kleider, so dass jetzt Osmann = Haßan = Pietro ist, bis der Sklave Ibrahim die Verwechslung aufdeckt (vgl. II/4 u. II/5). So wie die doppelte Verwechslung die wahre Identität Pietros verstellt, unterstreicht das Spiel mit Identitäten aber auch die Wunschfantasien des Sohnes: Der Wunsch nach einem anderen Vater, demgegenüber man die wahre Identität findet, wird in der letzten Szene des letzten Akts, die dem Schlusstableau in einem BürgerlichenBürgerliches Trauerspiel Trauerspiel gleicht, als klassische AnagnorisisAnagnorisis-Szene zum dramatischen Höhepunkt. Die Wiedererkennung von Vater und Sohn macht für den Augenblick die Wunschfantasie vergessen, Pietro wird sogar zum Anwalt des Vaters, „Vaterliebe“ und „väterliche Zärtlichkeit“ (III/5) sind jene Gefühle, die der Autor LenzLenz, Jakob Michael Reinhold bis zu seinem Tod sich gewünscht, aber nicht erfahren hat. Hier gilt, was Lenz in seiner VerteidigungVerteidigung von PlautusPlautus, Titus Maccius sagt: „[…] in seinem Herzen bildet sich der edle Schmerz, die schöne EmpfindsamkeitEmpfindsamkeit für alle mitleidige und zärtliche Szenen, ohne welche der Mensch nur immer zweibeinigtes Tier bleibt“29.
LenzLenz, Jakob Michael Reinhold spitzt die von PlautusPlautus, Titus Maccius vorgegebene Konfliktkonfiguration weiter zu. Die Tripelidentität Pietros (Pietro – Haßan – Osmann) ist keine „mistaken identity“30 zur Täuschung des Feinds, sondern die einzig mögliche Lebensform für den verlorenen SohnLenz, Jakob Michael Reinhold31 – auch in der plautinischen Vorlage ist die Vater-Sohn-Beziehung die tragende dramatische Ebene. Für die Handlungsstruktur der AlgiererDie Algierer ist es unwesentlich, dass Lenz die Kommentare des Prologs und Epilogs der Vorlage nicht aufnimmt. Außerdem treibt Lenz das Motiv von Logos und List dort deutlicher hervor, wo über die Grenzen der Vernunft nur der listige Einfall hinweghelfen könnte. Pietro ist der Glossator aufgeklärter (väterlicher) Vernunft: „Die menschliche Vernunft hat ihre Gränzen“ (II/3). Sein „geübter Verstand“ (II/1) ersinnt keine Mittel zur Problemlösung mehr, die instrumentelle Vernunft versagt. Der Vater hatte noch in der Eingangsszene „ungeheure Summen“ (I/1), durchaus im Sinne eines neuzeitlichen privatwirtschaftlichen Warenverkehrs, als Lösegeld für den Sohn geboten. LenzLenz, Jakob Michael Reinhold exponiert deutlich die merkantile Haltung des aufgeklärtenAufklärung Kaufmanns, dessen Angebot der unaufgeklärte Seeräuber in Algier ausschlägt. Stattdessen muss der Vater zum Warentausch zurückkehren: Sohn gegen Sohn.
Über einen Vorwurf der Kritik an den PlautusPlautus, Titus Maccius-Bearbeitungen konnte sich Lenz jetzt allerdings leicht hinwegsetzen, den Vorwurf der Unsittlichkeit der plautinischen Vorlage wie der Bearbeitung, der noch für LessingLessing, Gotthold Ephraim Anlass für eine dezidierte Verteidigungsschrift gewesen war. Die Anklage hatte 1750 gelautetTheater32: „Viele den guten Sitten schädliche und unanständige Dinge“33, „Unrat“34, „schadet […] den guten Sitten“35, „unanständig und unwahrscheinlich“36, von „seichten und nichtsbedeutenden Scherzen; […] unbedeutsame[n] und allzusaftige[n] Stellen, […] unkeuschen Stellen“37 war die Rede. In seiner Verteidigung argumentierte Lessing sehr geschickt, die Kritikpunkte würden sich nämlich gegen drei unterschiedliche Thematisierungsbereiche richten, gegen Kunst, Witz und Moral.38 Unbeirrbar hält LessingLessing, Gotthold Ephraim aber daran fest, dass die CaptiviCaptivi das schönste Theaterstück schlechthin seien, ein Urteil, das für die nachfolgende Dichtergeneration den Maßstab sehr hoch setzte. Lessing begründet dies definitorisch:
„Ich nenne das schönste Lustspiel nicht dasjenige, welches am wahrscheinlichsten und regelmäßigsten ist, nicht das, welches die sinnreichsten Gedanken, die artigsten Einfälle, die angenehmsten Scherze, die künstlichsten Verwicklungen, und die natürlichsten Auflösungen hat: sondern das schönste Lustspiel nenne ich dasjenige, welches seiner Absicht am nächsten kömmt, zumal wenn es die angeführten Schönheiten größtenteils auch besitzt. Was ist aber die Absicht des Lustspiels? Die Sitten der Zuschauer zu bilden und zu bessern. Die Mittel die sie dazu anwendet, sind, daß sie das Laster verhaßt, und die Tugend liebenswürdig vorstellet.“39
Dieser Bestimmung einer sozialpädagogischen Absicht des Lustspiels folgt LenzLenz, Jakob Michael Reinhold dann nicht mehr. In seiner Rezension des neuen Menoza von dem Verfasser selbst aufgesetzt,Rezension des neuen Menoza die am 11. Juli 1775 in den Frankfurter gelehrten AnzeigenFrankfurter gelehrte Anzeigen erschien, bringt er dies deutlich zum Ausdruck: „Ich nenne durchaus Komödie […] eine Vorstellung die für jedermann ist“, die Komödie ist ein „Gemälde der menschlichen Gesellschaft, und wenn die ernsthaft wird, kann das Gemälde nicht lachend werden. Daher schrieb PlautusPlautus, Titus Maccius komischer als Terenz […]“.40 Das ist die programmatische Absage an die traditionelle Laudatio-Vituperatio-PoetikPoetik, der 1750 auch noch Lessing verpflichtet gewesen war, wonach das Laster verabscheuungswürdig in der KomödieKomödie, und die TugendTugend lobenswert in der TragödieTragödie dargestellt werden sollten. Außerdem kommt bei Lenz der Impetus zur Auflösung des ständischen Publikums hinzu, der die sozialen Unterschiede des bürgerlichenbürgerlich Publikums zumindest postulativ einebnet.
Die AlgiererDie Algierer erweisen sich also in poetologischerPoetologie und sozialgeschichtlicherSozialgeschichte Hinsicht als ein wichtiges Zeugnis des Übergangs. Die Plautus-Bearbeitungen insgesamt sind für die Entwicklung von LenzLenz, Jakob Michael Reinhold’ eigener dramatischer Produktion von großer Bedeutung (und in dieser Hinsicht von der Forschung bislang nicht genügend berücksichtigt), konnte er hier doch im geschützten Raum römischer Komödien Figurenensembles, Konfliktkonstellationen und dramaturgische Neuerungen erproben. Das Movens insbesondere für Lenzens AlgiererDie Algierer ist aber ein psychogenetisches: die Arbeit an jener Instanz, die als Tripelidentität aus Christian David LenzLenz, Christian David, PlautusPlautus, Titus Maccius und LessingLessing, Gotthold Ephraim der Identitätssuche des Sohnes entgegensteht – oder wie man diesen Prozess kurz bezeichnen kann: die Arbeit am Vater.
GoetheGoethe, Johann Wolfgang Die Leiden des jungen WerthersDie Leiden des jungen Werthers (1774 / 1786 / 1787)
Die EntstehungsEntstehungsgeschichte- und DruckgeschichteDruckgeschichte von GoethesGoethe, Johann Wolfgang Roman Die Leiden des jungen WerthersDie Leiden des jungen Werthersist bekannt. Um berufliche Erfahrungen zu sammeln, geht der junge Dichter von Mai bis September 1772 an das Reichskammergericht in Wetzlar. Der Sekretär des Gerichts Christian KestnerKestner, Johann Christian (1741–1800) wird Goethes Freund. Mit dessen 19-jähriger Braut Charlotte BuffBuff, Charlotte (1753–1828) verbindet ihn eine enge Freundschaft. Sie wird das Vorbild für die Lotte im Roman. GoetheGoethe, Johann Wolfgang lernt sie am 9. Juni 1772 auf einem Ball kennen. Auch Karl Wilhelm JerusalemJerusalem, Karl Wilhelm (1747–1772), der Goethe schon aus der Leipziger Studienzeit kannte, hält sich in Wetzlar auf. Er wird das Vorbild für die Figur des Werther. Nach seinem Weggang aus Wetzlar geht Goethe nach Koblenz und trifft sich dort bei der Familie von La Roche mit seinem Darmstädter Freund Johann Heinrich MerckMerck, Johann Heinrich (1741–1791). Die älteste Tochter der La Roches ist die 16-jährige Maximiliane von La RocheLa Roche, Maximiliane von (1756–1793). Goethe verliebt sich in sie. Während Kestner den Umgang seiner Braut mit Goethe geduldet und auch gefördert hatte, stößt Goethe nach Maximilianes Heirat auf brüske Ablehnung ihres Ehemanns Peter Anton BrentanoBrentano, Peter Anton (1735–1797). Das Bild Lottes im Roman setzt sich also aus Goethes Erfahrungen mit Charlotte Buff und mit Maximiliane Brentano, geb. von La Roche, zusammen.
Karl Wilhelm Jerusalem hatte große Schwierigkeiten mit seinem Vorgesetzten. Außerdem liebte er die Frau des Pfalz-Lauternschen Gesandtschaftssekretärs, ohne dass diese Liebe aber erwidert wurde. Jerusalem lieh sich von Kestner Pistolen und erschoss sich in der Nacht vom 29. auf den 30. Oktober 1772. Kestner berichtet kurz danach am 2. November 1772 Goethe in einem Brief ausführlich über Jerusalems Selbstmord.1 Im Werther überlagern sich also eigene Erfahrungen und Sehnsüchte des Autors mit Beobachtungen und Berichten Dritter und konstituieren so die fiktiven Figuren von Werther, Albert und Lotte. Im Roman selbst ein ausschließlich autobiografisches Zeugnis sehen zu wollen, erklärt nicht die enorme Resonanz, die der Werther-Roman nach seinem Erscheinen erfahren hat.
Anfang Februar 1774 beginnt GoetheGoethe, Johann Wolfgang mit der Arbeit am Roman. Will man seiner Darstellung in Dichtung und WahrheitDichtung und Wahrheit Glauben schenken, dann hat er das Manuskript innerhalb von vier Wochen niedergeschrieben (vgl. Goethe: WA, Abt. I, Bd. 28, S. 224). Von der Handschrift der ersten Fassung sind lediglich zwei einzelne Blätter erhalten, die Entstehungszeit wird auf Februar bis Mai 1774 datiert. Im Mai 1774 schickt er das Manuskript an den Verleger WeygandWeygand, Johann Friedrich in Leipzig. Schon zur Michaelismesse im September 1774 erscheint der WertherDie Leiden des jungen Werthers. In der Forschung wird vermutet, dass für die „zweyte ächte Auflage“2 des Romans von 1775 nochmals das heute nicht mehr erhaltene Druckmanuskript zu Rate gezogen werden konnte. In dieser Ausgabe finden sich auch erstmals die zusätzlichen Zeilen in Werthers Brief vom 13. Juli 1771: „Mich liebt! – Und wie werth ich mir selbst werde, wie ich – dir darf ich’s wohl sagen, du hast Sinn für so etwas – wie ich mich selbst anbethe, seitdem sie mich liebt!“3 Diese Zeilen, die im Erstdruck also fehlen, sind möglicherweise unabsichtlich weggelassen worden. Eventuell handelt es sich um einen Abschreibfehler des Kopisten der Handschrift oder um ein Versehen des Setzers. Der Begriff der Haplografie, der in diesem Zusammenhang von Fischer-Lichte und ihr folgend von der Frankfurter Ausgabe verwendet wird, ist allerdings irreführend. Letztlich sind diese Plausibilitätsüberlegungen nicht zu belegen. „Ganz ausgeschlossen ist es jedoch nicht, daß die Zeilen absichtlich getilgt wurden; jedenfalls liegt die Vermutung nahe, daß Lavater bei der Lektüre der Druckbogen […] Anstoß an der Formulierung nahm: ‚wie ich mich selbst anbete‘ [!]“4. Am 30. Dezember 1781 bittet Goethe Charlotte von SteinStein, Charlotte von (1742–1827) um ein Exemplar seines Romans, er selbst ist nicht mehr im Besitz des Buches (vgl. die Briefe vom 21. November 1782 an KnebelKnebel, Karl Ludwig von, vom 2. Mai 1783 an KestnerKestner, Johann Christian, vom 24. Juni 1783 an Charlotte von Stein, vom 15. August 1785 an den Herzog und vom 25. Juni 1786 an Charlotte von SteinStein, Charlotte von).
Seit 1781 überlegt sich GoetheGoethe, Johann Wolfgang also eine Überarbeitung des Werthers, die erst 1786 abgeschlossen ist. Als sein Verleger Georg Joachim GöschenGöschen, Georg Joachim (1752–1828) eine Ausgabe von Goethes Werken plant, soll der WertherDie Leiden des jungen Werthers als erster Band diese Ausgabe eröffnen. Somit ist der äußere Anlass, sich mit dem Werther im Hinblick auf eine erneute Drucklegung nochmals zu beschäftigen, für Goethe durchaus gegeben. In das Lotte-Bild der Zweitfassung fließen denn auch Goethes Erfahrungen mit Frau von Stein während dieser Umarbeitungsphase ein.
Die Überarbeitung bedeutet auch eine Reaktion des Autors auf die intensive und äußerst kontroverse Rezeption seines ersten Romans. Als Textgrundlage für die Überarbeitung verwendet Goethe einen Raubdruck von HimburgHimburg, Christian Friedrich und lässt ihn abschreiben.5 Himburg hatte bereits korrigierend in den Text eingegriffen, so dass Goethe also eine durchaus korrupte Vorlage für seine Überarbeitung wählt. Am 2. September 1786 teilt Goethe Göschen mit, dass das Manuskript bereits unterwegs sei. Diese Handschrift ist erhalten und wird in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek der Stiftung Weimarer Klassik, Goethe- und SchillerSchiller, Friedrich-Archiv aufbewahrt.6 Sie ist erheblich korrigiert, die Korrekturen stammen von den Schreibern Seidel und Vogel und von Goethe selbst. Johann Gottfried HerderHerder, Johann Gottfried korrigiert Interpunktion und Orthografie. Bernhard Seuffert spricht in seinem Editionsbericht in der Weimarer Ausgabe von insgesamt „vielleicht fünferlei Correcturhände[n]“ (Goethe: WA, Abt. I, Bd. 19, S. 331)7. Ob auch WielandWieland, Christoph Martin und Frau von Stein an den Korrekturarbeiten teilhatten, ist umstritten. Obwohl die Handschrift, die ja immerhin als Druckvorlage für die Werther-Ausgabe von 1787 diente, intensiven Verbesserungen unterzogen wurde, sind doch noch zahlreiche „grössere und kleinere Mängel“ (Goethe: WA, Abt. I, Bd. 19, S. 331) stehen geblieben, so wird es von der Goethe-PhilologiePhilologie umschrieben. Trotz der aus der Vorlage übernommenen Fehler besitze diese Handschrift aber „den höchsten Anspruch auf Echtheit und dauernde Geltung“ (Goethe: WA, Abt. I, Bd. 19, S. 334), so Bernhard Seuffert. Nach dieser Handschrift wird die Zweitfassung des WerthersDie Leiden des jungen Werthers gedruckt: Goethe’s Schriften. Erster BandGoethe’s Schriften (Leipzig: bey Georg Joachim GöschenGöschen, Georg Joachim 1787, S. 1–310). Für die Drucklegung autorisiert GoetheGoethe, Johann Wolfgang den Setzer und den Korrektor, denn er selbst hält sich in diesem Jahr in Italien auf, die Orthografie selbstständig nach den Richtlinien AdelungAdelung, Johann Christophs zu verbessern. Insgesamt gibt es ca. 1330 Abweichungen zwischen Handschrift und Druck (die Angaben nach Seuffert), davon entfallen über 1040 auf Interpunktionskorrekturen. Etwa 900 Kommata werden ergänzt, rund zwölf Kommata der Handschrift werden gestrichen. Komma oder Semikolon werden häufig durch Punkt ersetzt. Die orthografischen Verbesserungen sind im Ganzen minimal, beispielsweise Gebirge statt Gebürge, hob statt hub, darin statt darinne etc. Aus den Endungen -len und -ren werden -eln und -ern. Über die eigentlich problematischen Veränderungen berichtet der Editionsbericht der Weimarer Ausgabe. 1806 korrigiert Goethe den Werther nochmals, da er als Band elf der Ausgabe Goethe’s WerkeGoethe’s Werke (Tübingen 1808) erscheinen soll. Waltraud Hagen verzeichnet bis zum Jahr 1832 insgesamt 26 Einzelausgaben (ohne die sog. Titelauflagen, bei denen also nur das Titelblatt verändert wurde), von denen vier Ausgaben heute nicht mehr zu ermitteln sind.8
In KräutersKräuter, Friedrich Theodor David Repertorium, Abteilung 15 „Eigen Poetisches“ heißt es unter der Nr. 44 von insgesamt 86 Positionen: „Leiden des jungen Werthers. 1.s u. 2.s Bch. (von Goethes Hand corrigirt).“ Die beiden Handschriften werden im Bestandsverzeichnis des Goethe-Archivs (Kräuters Repertorium, jeweils „Eigen Poetisches 44“) mit dieser Beschreibung geführt:
„Aufbewahrung Kasten: XXIII, (2) Konvolut: 1 Bd. Inhalt: Druckmanuskript des 1. Buches, = H. Blatt- bzw. Stückzahl: 88 gBl. Schrift: m Seidel, z.T. Vogel, egh K. WA: I/19, 1–86, A I/19, 329–331. Kräuters Repertorium: Eigen Poetisches 44. Aufbewahrung Kasten: XXIII, (3) Konvolut: 1 Bd. Inhalt: Druckmanuskript des 2. Buches, = H. Blatt- bzw. Stückzahl: 105 gBl. Schrift: z.T. Seidel, z.T. Vogel, egh K. WA: I/19, 87–191, A I/19, 329–331. Kräuters Repertorium: Eigen Poetisches 44“9.
Bei der Edition waren folgende Korrekturen zu beachten: korrigiert aus bestehendem Wort, unleserliche(r) Buchstabe(n), unleserliches Wort, unsichere Lesart, über der Zeile eingefügt, unter der Zeile eingefügt, gestrichen, Korrektur von Goethes Hand, Korrektur von HerderHerder, Johann Gottfrieds Hand, Handschrift von SeidelSeidel, Philipp Friedrich, Handschrift von VogelVogel, Christian Georg Karl. Zum Vergleich diente die Weimarer Ausgabe (Abt. I, Bd. 19 [Weimar 1899]). Die Handschrift (insgesamt zwei Bände) trägt die Signatur des Goethe- und SchillerSchiller, Friedrich-Archivs GSA 25/XXIII, 2–3 und wird im Folgenden mit H bezeichnet.10 Auf der Innenseite des Umschlagblattes des ersten Bandes ist ein schreibmaschinengeschriebener Zettel eingeklebt und handschriftlich von Max HeckerHecker, Max (1870–1948), der bis 1945 im Goethe- und Schiller-Archiv als Archivar tätig war, unterzeichnet. Dieser Zettel hat folgenden Wortlaut:
„Der Einband zu dieser Handschrift: / „Leiden des jungen Werthers“ / Erstes Buch / ist in den 90er Jahren unter den Augen der Großherzogin Sophie von dem damaligen Hofbuchbinder Arno Krehan, dem späteren Weingroßhändler und Kommerzienrat in Weimar, hergestellt worden.“
Der Firmenaufkleber auf der letzten Seite trägt den Vermerk „Buchbinderei von H. Krehan in Weimar“. Das Manuskript ist mit einem Lesebändchen ausgestattet, aus festem Karton mit marmoriertem Einbandpapier. Die Maße betragen Breite 16,5 cm, Höhe 20,2 cm. Die Signatur lautet 25/XXIII, 2. Rückenprägung mit Goldlettern: „Leiden des jungen Werthers / – / Erstes Buch.“ Die Signatur des zweiten Bandes ist 25/XXIII, 3. Auch hier findet sich auf der ersten Umschlag- (Vacat-)Seite der maschinengeschriebene Zettel, von Max Hecker unterzeichnet, gleicher Wortlaut wie im ersten Band. Maße: Breite 16,5 cm, Höhe 20,4 cm. Am Ende des Manuskripts findet sich auf der Umschlagseite das gleiche Etikett des Buchbinders wie im ersten Band. Rückenprägung in Goldlettern: „Leiden des jungen Werthers / – / Zweytes Buch.“ Die Handschrift wird nach Blättern (nicht unterschieden in Vorder- und Rückseite) und nicht nach Seiten gezählt. Die Blattzählung ist in der Handschrift rechts oben auf dem jeweiligen Blatt notiert. Die Handschrift ist stellenweise stark korrigiert. Unterschiedliche Korrekturhände lassen sich identifizieren, unter anderem auch Goethes Handschrift. Mutmaßungen oder Plausibilitätsüberlegungen sind nicht immer überzeugend. Die Weimarer Ausgabe vermutete fünferlei Korrekturhände, von denen diejenigen GoethesGoethe, Johann Wolfgang, HerderHerder, Johann Gottfrieds, Seidels und Vogels nachweisbar seien. Der Nachweis von Charlotte von SteinsStein, Charlotte von und WielandWieland, Christoph Martins Handschrift indes galt schon der Weimarer Ausgabe als nicht möglich. Die Orthografie ist uneinheitlich und inkonsequent, offensichtliche oder vermeintliche Schreibversehen müssen als solche erkennbar bleiben. Verbesserungen wurden (bis auf zwei Ausnahmen) nicht vorgenommen. Einige kleinere Unsicherheiten bei den Lesarten bleiben bestehen, denn nicht immer ist in der Handschrift klar zu erkennen, ob das erste „t“ bei „setzte“ oder bei „versetzte“ nachträglich eingefügt wurde, also eine Korrektur darstellt. Nur dort, wo es unmissverständlich und eindeutig als Korrektur erkannt werden kann, ist es auch als Korrektur ausgewiesen. Im Verlauf der Handschrift entstehen auch Prozesse von Selbstkorrekturen der Schreiber Christian Georg Karl VogelVogel, Christian Georg Karl (1760–1819) und Philipp Friedrich SeidelSeidel, Philipp Friedrich (1755–1820), das lässt sich beispielsweise daran erkennen, dass aus anfänglich „iezt“ zunächst „jezt“ wird und schließlich „jetzt“. Ähnliches lässt sich beim Wechsel von „k“ zu „ck“ beobachten. Korrekturzeichen oder Zeichen des Setzers, dessen Hand nicht sicher, sondern lediglich wahrscheinlich ist, und welche die ausgeführten Korrekturen der Handschrift durch ein Häkchen am Rand bestätigen, sind nicht relevant. Die Weimarer Ausgabe vermutet allerdings, dass diese Häkchen den Setzer erst auf auszuführende Korrekturen aufmerksam machen sollten (vgl. Goethe: WA, Abt. I, Bd. 19, S. 330f.). Dass die Handschrift H eindeutig als Vorlage zum Druck der WertherDie Leiden des jungen Werthers-Ausgabe von 1787 gedient hat, zeigen u.a. auch die Setzerzeichen im Manuskript, das Gebrauchsspuren der Druckerei aufweist, sodass davon auszugehen ist, dass diese Handschrift die unmittelbare Satzvorlage für den Werther-Druck von 1787 darstellt.
GoethesGoethe, Johann Wolfgang eigene, handschriftliche Korrekturen im Manuskript lassen darauf schließen, dass er den Text sehr aufmerksam und sorgfältig korrigiert hat. Wenn er demnach eine Textstelle, die den heutigen Philologen als fehlerhaft erscheint, unkorrigiert ließ, so ist in diesem Fall nicht auszuschließen, und möglicherweise muss sogar davon ausgegangen werden, dass der ursprüngliche Wortlaut erhalten bleiben sollte, auch wenn dies mit abweichenden Erkenntnissen kollidiert, die sich auf die verschiedenen Druckfassungen des Werthers stützen. Um ein Beispiel anzuführen: In der Handschrift heißt es „grauer Frack“11, in den Drucken jedoch wird dies verbessert in „blauer Frack“. Entsprang der Wechsel von blau zu grau einem Hörfehler beim Diktat? Weshalb wurde er dann aber von Goethe beim gründlichen Korrekturlesen nicht verbessert? Oder wollte Goethe vielleicht – eingedenk der Debatte um die Werther-Tracht – darauf verzichten, weiter zur Uniformierung des Werther-Fiebers durch die Wiederholung der Beschreibung von Werthers Kleidung beizutragen? Hier darf ein Herausgeber nicht in den Text verändernd eingreifen, auch nicht in der vermeintlich guten Absicht, den korrupten Text verbessern zu wollen.
Der Kommentar in der Weimarer Ausgabe bemerkt, dass die ursprüngliche Handschrift von Seidel nicht nach Diktat, sondern nach Vorlage hergestellt worden sei (vgl. Goethe: WA, Abt. I, Bd. 19, S. 330). Allerdings enthält der Text selbst eindeutige Indizien, welche die Bedeutung des gesprochenen und gehörten Worts vor dem gelesenen Wort in der Kommunikation zwischen GoetheGoethe, Johann Wolfgang und seinem jeweiligen Schreiber belegen. So erklärt sich zum Beispiel jenes Schreibversehen, wo es im Text zunächst „versenkt“ hieß statt „versengt“, wie im Brief vom 21. August des Erstdrucks zu lesen ist: „das versengte verstörte Schloß“12. In der Handschrift heißt es nun „das ausgebrannte, zerstörte Schloß“13, wobei „ausgebrannte“ über der Zeile ergänzt und „versenkte [!]“ gestrichen wurde. Die Korrekturen stammen von Goethes Hand. Ebenso diktierte Goethe nach dem Wortlaut des Erstdrucks die Textstelle: „und sich einen Schoppen Wein geben lassen“14, woraus in der Handschrift „und sich eine Flasche Wein geben lassen“ wird, wie es dann auch im Druck der Fassung von 1787 heißt, wobei beim Diktat die Worte „eine Flasche Wein“ zunächst als Textlücke stehen blieben und von Goethe nachträglich handschriftlich ergänzt wurden.15
Während also von der Handschrift der Erstfassung des WerthersDie Leiden des jungen Werthers für den Druck von 1774 nur zwei Blätter erhalten geblieben sind, existiert zur Zweitfassung von 1787 das vollständige Manuskript.16 Das ist eigentlich ein Glücksfall für die Goethe-PhilologiePhilologie. Doch wurde diese Handschrift lange nicht ediert, obwohl sie stark vom Druck abweicht. Die Weimarer Ausgabe bietet zwar in ihrer Edition des Werthers die Abweichungen der Handschrift H zum Druck, doch dies keineswegs vollständig und keineswegs fehlerfrei. Sie argumentiert durchaus, H besitze den „höchsten Anspruch auf Echtheit und dauernde Geltung“ (Goethe: WA, Abt. I, Bd. 19, S. 334), diese Erkenntnis wird jedoch zugunsten der Bemerkung zurückgestellt, H sei immer noch weit davon entfernt, „eine völlig genaue Vorlage für den Druck zu bilden“ (Goethe: WA, Abt. I, Bd. 19, S. 334).
Die Forschung entwickelte eine Art editionsphilologischenEditionsphilologie Mythos, dessen genauer Ursprung kaum mehr auszumachen, dessen Lebendigkeit indes bis heute ungebrochen ist. Zu diesem Kuriosum der WertherDie Leiden des jungen Werthers-PhilologiePhilologie gehört die Behauptung, die Akademie Ausgabe17 biete in ihrem Paralleldruck die Handschrift, obgleich weder die Akademie Ausgabe noch die Herausgeber des entsprechenden Werther-Bandes von 1954 überhaupt den Anspruch erheben, den Text nach der Handschrift bieten zu wollen. Es wurde lediglich darauf hingewiesen, dass die Textdarbietung der Druckfassung von 1787 nach der Handschrift verbessert wurde, dem editorischen Ziel der Wiedergabe eines besten Textes folgend, ohne dies konsequent oder gar einheitlich durchzuführen, wie unschwer bei der Kollation von Handschrift und Akademie-Druck festzustellen ist.18 Die Ausführungen zum Plan und zu den editorischen Richtlinien der Akademie Ausgabe waren allgemein gehalten. Hieraus geht nicht hervor, nach welchen Vorlagen der Werther-Band der Akademie Ausgabe gedruckt wurde. Dies wirft die Frage auf, woher die meisten Werther-Editoren die Gewissheit nehmen, dass dem im Paralleldruck der Akademie Ausgabe auf der rechten Seite stehenden Druck die Handschrift H zugrunde liegt? Eine Editio synoptica gerät unter der Hand schnell zu einer Editio mixta. Lesarten der Handschriftenfassung werden mit der Druckfassung gemischt, ohne dass dies jeweils im Detail nachgewiesen wird. Schon 1971 hat Siegfried Scheibe ausführlich dargelegt, dass ein solcher Mischtext, wie ihn die Akademie Ausgabe bietet, heutigen Ansprüchen an die EditionsphilologieEditionsphilologie nicht mehr genügen kann und den Grundsätzen einer historisch-kritischen Edition nicht entspricht.19 Ein Mischtext mit den entsprechenden Veränderungen durch den Herausgeber wird meist mit Argumenten der TextverderbnisTextverderbnis begründet. Nun stammt der Begriff der Textverderbnis aus der Kodikologie und meint eine Stelle in einem handgeschriebenen Manuskript, die unleserlich oder gar völlig verloren ist. Dies wirft die prinzipielle editionsphilologische Frage auf, ob man eine Druckschrift editionsphilologisch ebenso behandeln kann wie eine Handschrift. Philologisch problematisch jedenfalls bleibt jener, terminologisch als Konjektur bezeichnete Eingriff in eine Textvorlage, sofern er auf bloßen Mutmaßungen beruht.20 Insofern sind weder die Akademie Ausgabe noch die Weimarer Ausgabe als historisch-kritische Ausgaben zu bezeichnen. In den Editionsrichtlinien des Vorberichts der Weimarer Ausgabe wird unmissverständlich über die Autorität des Autors GoetheGoethe, Johann Wolfgang gesagt und dies wird als Editionsgrundsatz festgelegt: „Für den Druck der Werke hat er selbst die Norm gegeben in der Ausgabe letzter Hand“ (Goethe: WA, Abt. I, Bd. 1, S. XIX). Der WertherDie Leiden des jungen Werthers wird denn auch nach dem Wortlaut der Ausgabe letzter HandAusgabe letzter Hand (Goethe), Band 16, wiedergegeben (vgl. Goethe: WA, Abt. I, Bd. 19, S. 309).21 Welche Bedeutung aber schon Goethe selbst der Notwendigkeit einer unverfälschten Wiedergabe sogar des Erstdrucks beigemessen hat, geht aus dem Konzept eines Briefes an die Weygandsche Buchhandlung von 1824 hervor. Dort heißt es über den Werther:
„Ich werfe nämlich die Frage auf: Ob Sie nicht das Büchlein, nach der ersten Ausgabe, wie es in Ihrem Verlag ursprünglich gegeben worden, [neu drucken wollen?]22 es ist in der letzten Zeit viel Nachfrage danach gewesen, ich habe sie selbst in Auctionen im gesteigerten Preis zu erhalten gesucht.
Der erste Abdruck in seiner heftigen Unbedingtheit ists eigentlich der die große Wirkung hervorgebracht hat; ich will die nachfolgenden Ausgaben nicht schelten aber sie sind schon durch äußere Einflüsse gemildert geregelt und haben denn doch nicht jenes frische unmittelbare Leben; dem Verleger selbst müßte es von großem Vortheil seyn denn kaum ist noch jemand unter den lebendigen, der jenen Abdruck gesehen hätte. Jedermann der auch den späteren Werther besitzt würde den früheren zu besitzen sich genöthigt sehen […]“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 38, S. 356).
Am 30. Dezember 1781 bittet GoetheGoethe, Johann Wolfgang Charlotte von SteinStein, Charlotte von: „Schicke mir die Italiänischen Briefe Werthers und dein deutsch Exemplar dazu“ (Goethes: WA, Abt. IV, Bd. 5, S. 244). Daraus schließt die Forschung, dass Goethe selbst kein eigenes Exemplar des WerthersDie Leiden des jungen Werthers von 1774 mehr besaß. Am 19. Juni 1782 schreibt er wiederum an Charlotte von Stein: „Sage mir wie du den Tag zubringst und schicke mir meine gedruckten Schrifften ich habe einen wunderlichen Einfall und will sehn ob ich ihn ausführe“ (Goethe: WA, Abt. IV, Bd. 5, S. 350). Bis zu diesem Zeitpunkt gibt es allerdings keine von Goethe autorisierte Veröffentlichung, auf die der Titel Schriften zuträfe. Somit können nur der Nachdruck HimburgsHimburg, Christian Friedrich oder die Raubdrucke aus Frankfurt, Karlsruhe, Leipzig oder Reutlingen gemeint sein. Bereits 1866 konnte Michael BernaysBernays, Michael nachweisen23, dass die Vorlage für die Zweitfassung des WerthersDie Leiden des jungen Werthers ein äußerst verderbter Nachdruck des himburgschen Raubdrucks ist, nämlich der erste Teil der Ausgabe J.W. Goethens SchriftenJ.W. Goethens Schriften. Erster – Dritter Band. Dritte Auflage. Mit Kupfern. Vierter Band (Berlin 1779. Bei Christian Friedrich HimburgHimburg, Christian Friedrich). Diese Ausgabe trägt in der Siglierung der Weimarer Ausgabe die Sigle h3, nach Waltraud Hagen wird sie mit s3 bezeichnet.24 Folgt man Goethes eigener Darstellung im 16. Buch von Dichtung und WahrheitDichtung und Wahrheit, dann hat der Berliner Verleger Christian Friedrich HimburgHimburg, Christian Friedrich (1733–1801) seinen Nachdruck des Werthers von 1775 selbst an Goethe geschickt:
„Als nämlich meinen Arbeiten immer mehr nachgefragt, ja eine Sammlung derselben verlangt wurde, jene Gesinnungen aber mich abhielten, eine solche selbst zu veranstalten, so benutzte Himburg mein Zaudern, und ich erhielt unerwartet einige Exemplare meiner zusammengedruckten Werke. Mit großer Frechheit wußte sich dieser unberufene Verleger eines solchen dem Publicum erzeigten Dienstes gegen mich zu rühmen und erbot sich, mir dagegen, wenn ich es verlangte, etwas Berliner Porzellan zu senden“ (Goethe: WA, Abt. I, Bd. 29, S. 15).
GoetheGoethe, Johann Wolfgang spricht noch vom „Verdruß“ und von der „Verachtung“, die er diesem „unverschämten Nachdrucker“ und seinem „Raub“ (Goethe: WA, Abt. I, Bd. 29, S. 16) gegenüber empfinde. 1775/76 hatte Himburg eine dreibändige Ausgabe von Goethes SchriftenJ.W. Goethens Schriften gedruckt, der WertherDie Leiden des jungen Werthers befindet sich im ersten Teil von 1775, die dritte Auflage erschien 1779. Am 14. Mai 1779 schickt Goethe zwei Exemplare hiervon an Charlotte von SteinStein, Charlotte von, ob damit freilich h3/s3 gemeint ist, ist zwar anzunehmen, aber nicht nachzuweisen. Im Begleitbrief dazu schreibt Goethe: