Kitabı oku: «Buchstäblichkeit und symbolische Deutung», sayfa 24

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Franz Blei als Editor

Die nachfolgenden Bemerkungen widmen sich einem Aspekt des Œuvres von Franz BleiBlei, Franz (1871–1942), der bislang noch nicht die Aufmerksamkeit der literaturwissenschaftlichen Forschung erfahren hat. Insofern kann es sich hier auch nur um vorläufige Betrachtungen handeln, die allenfalls das Interesse darauf zu lenken und günstigstenfalls Forschungsaktivitäten zu initiieren vermögen. Denn in der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft und LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte sind die editorischen und literaturgeschichtlichen Leistungen Franz Bleis nahezu vollständig vergessen. Deshalb geht es im Folgenden auch nicht um die Darstellung von geschlossenen Forschungsergebnissen, sondern im Gegenteil, eher um die Skizze einer noch zu bewerkstelligenden Forschungsaufgabe. Diese Aufgabe ließe sich folgendermaßen beschreiben: Die Bedeutung der von Blei besorgten Ausgabe der Gesammelten SchriftenGesammelte Schriften (Lenz) von Jakob Michael Reinhold LenzLenz, Jakob Michael Reinhold (1751–1792) für die Lenz-Rezeption zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu untersuchen und in den Kontext einer Wissenschaftsgeschichte des Sturm und DrangSturm und Drang einzubinden. Damit würden – grob skizziert – die wichtigsten historischen Stationen sichtbarD die Sturm-und-Drang-Rezeption in der SpätromantikRomantik (ausgehend von der TieckTieck, Ludwig-Ausgabe), im VormärzVormärz, im NaturalismusNaturalismus, um die Jahrhundertwende, im ExpressionismusExpressionismus und in der Nachkriegsliteratur ost- und westdeutscher Provenienz. Damit könnte deutlich gemacht werden, dass die bleische Lenz-Edition eine bestimmte historische Phase der Sturm-und-Drang-Rezeption im literarischen und wissenschaftlichen Bereich kennzeichnet. Ein weiteres, grundsätzliches Desiderat der Forschung muss auch von der autorbezogenen Perspektive aus festgestellt werden, da von Blei her gesehen und aus dem Blickwinkel einer Blei-Forschung betrachtet, die Frage nach der Bedeutung der Lenz-Ausgabe im Zusammenhang der übergeordneten Frage nach der generellen Bedeutung der Literatur des 18. Jahrhunderts für Blei gestellt und diskutiert werden müsste.

Zunächst soll der Autor selbst zu Wort kommen mit einem Zitat, das trefflich seine Sicht auf die Literatur des 18. Jahrhunderts charakterisiert; es stammt aus dem Buch Das Kuriositätenkabinett der LiteraturDas Kuriositätenkabinett der Literatur (1924): „Unsere Zeit verbraucht das Erbe des achtzehnten Jahrhunderts und tut es mit wenig Talent, aber mit einem schlechten Gewissen“1. Und weiter heißt es dort: „Der Anfang dieser Zeit kann uns kümmern, weil wir auf das Ende dieser Zeit aufmerksam werden“2. BleisBlei, Franz Interesse an der Literatur des 18. Jahrhunderts und an den vergessenen Autoren dieser Zeit ist also weit mehr als nur literarhistorisch motiviert oder bedingt gewesen. Der Rückgriff auf die Geschichte dient der programmatischen Bestimmung des eigenen geschichtlichen Standorts.

Der Lenz-Ausgabe, als dem herausragendsten Produkt von Bleis Beschäftigung mit der deutschsprachigen Literatur des 18. Jahrhunderts, gehen zwei bemerkenswerte Bücher zu aufgeklärten Literaten voraus. In dem Bändchen Fünf Silhouetten in einem RahmenFünf Silhouetten in einem Rahmen aus der von Georg BrandesBrandes, Georg herausgegebenen Reihe Die Literatur hat Blei fünf Autoren des 18. Jahrhunderts porträtiert. Im Einzelnen sind das Johann Jacob BodmerBodmer, Johann Jakob (1698–1783), Christoph Martin WielandWieland, Christoph Martin (1733–1813), Wilhelm HeinseHeinse, Wilhelm (1746–1803), Helferich Peter SturzSturz, Helferich Peter (1736–1779) und Karl Philipp MoritzMoritz, Karl Philipp (1756–1793).3 Dieses kleine Buch mit fünf Kurzessays zu den genannten Autoren wurde in einer Phase der äußerst intensiven Beschäftigung Bleis mit der Literatur des 18. Jahrhunderts publiziert. In demselben Jahr (1904) besorgte Blei auch eine Auswahl der Schriften von Helferich Peter Sturz im Insel-Verlag Leipzig.4 Diese Ausgabe ist bei Detlev Steffen5 nicht bibliografiert, Gregor Eisenhauer hingegen nennt sie6. Blei selbst hat sie in seinem maschinenschriftlichen Lebenslauf, der im Deutschen Literaturarchiv/Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar aufbewahrt wird, ebenso wie die Gesammelten Schriften von LenzLenz, Jakob Michael Reinhold unter der Rubrik „Herausgegeben“ angeführt.

Bleis Kurzessays, die Sturz-Ausgabe und die Lenz-Ausgabe zählen zur Phase der intensiven Beschäftigung Bleis mit der bekannten wie der unbekannteren deutschsprachigen Literatur des 18. Jahrhunderts. Soweit ersichtlich, das heißt unter dem Vorbehalt einer vollständigen Bibliografie vor allem der journalistischen und literaturkritischen Arbeiten, hat sich Blei nur zwei Mal noch zu Jakob Michael Reinhold LenzLenz, Jakob Michael Reinhold geäußert. 1911 und 1912 publizierte er zwei Porträtminiaturen zu Lenz, einmal in der SchaubühneDie Schaubühne7, das andere Mal in der AktionDie Aktion8. Bei diesem Text handelt es sich um einen Vorabdruck aus dem dritten Band der Vermischten SchriftenVermischte Schriften (Blei) mit dem Titel Das Rokoko, Variationen über ein ThemaDas Rokoko, Variationen über ein Thema, die 1911/12 bei Georg Müller in München in sechs Bänden erschienen. Einen unveränderten Nachdruck publiziert BleiBlei, Franz in dem von ihm herausgegebenen Buch Der Geist des RokokoDer Geist des Rokoko (München: Georg Müller 1923) unter der verstümmelnden Überschrift Michael Reinhold Lenz. Daran schließt sich der Abdruck von Lenz’ Erzählung Zerbin oder die neuere PhilosophieZerbin oder die neuere Philosophiean.9 Alle vier Texte sind aber inhaltlich identisch mit dem Vorwort zur Lenz-Ausgabe und nur für den entsprechenden Publikationsort feuilletonistisch aufbereitet, sodass sie hier vernachlässigt werden können. Bemerkenswert ist allerdings, dass diese beiden Texte zu den wenigen journalistischen, also außerhalb eines wissenschaftlichen Verwertungszusammenhangs stehenden Arbeiten über Lenz in den Jahren von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg gehören. Und bemerkenswert ist auch die Abweichung des Vorworts zur Lenz-Ausgabe vom Wortlaut der Lenz-Essays.10

Die Lenz-Ausgabe von Franz Blei steht wie ein erratischer Block im Werk dieses Literaten. Es gibt keine vergleichbare editorische Leistung mehr und kein vergleichbares Interesse mehr an der Literatur der AufklärungskritikAufklärung in Bleis übrigem Werk. Gregor Eisenhauer betont zwar, dass Blei das 18. Jahrhundert wiederentdeckte, doch attestiert er ihm auch, dass er meist „ohne große philologische Sorgfalt, aber mit dem Enthusiasmus des Entdeckers – und Pädagogen“11 Schriften ediert habe. Dieses Urteil zielt in erster Linie auf die Edition der Schriften von LenzLenz, Jakob Michael Reinhold; die erzieherische Absicht Bleis hätte vor allem darin bestanden, der zeitgenössischen Literatur ihre historische Herkunft vor Augen zu halten. Dieses Urteil bedarf in zwei Punkten der Ergänzung. Einmal geht es BleiBlei, Franz in seinem antiquarischen Furor auch darum, die Geschichte einer deutschen Nationalliteratur kenntlich zu machen. Dies muss, bei aller Sympathie für Blei, kritisch festgehalten werden. Ich verweise in diesem Zusammenhang nur auf die kurze Vorbemerkung zu den Fünf SilhouettenFünf Silhouetten in einem Rahmen. Blei schreibt dort:

„Ich habe […] auf Beziehungen zu weisen gesucht, die über das oft nur episodisch Bedeutsame einzelner hinausgehend in die neuere Zeit weisen und in dieser noch lebend wirken. […] Alles dieses sind Elemente des deutschen Schrifttum, die eine noch nicht verbrauchte Tradition zum Anfang brachten und bestimmten“12.

Und im HeinseHeinse, Wilhelm-Porträt desselben Buches heißt es noch deutlicher:

„Die Traditionen eigenen Stammesgefühls sind dem stämmereichen Deutschen unbekannt; so ist er allem Fremden ohne Widerstand zugänglich, ja verliert sich völlig in ihm, wenn er von der eigenen Scholle gelöst wird“13.

Der zweite Punkt, an dem man jenes Urteil sinnvoll ergänzen kann, betrifft die bemängelte philologische Sorgfalt der Edition oder Editionen. Hier gilt es, für Bleis philologische Unschuld zu plädieren. Bei genauerem Hinsehen erweist sich seine Lenz-Ausgabe nämlich als ein Titanenwerk, das uns noch heute Respekt abverlangt. Und dabei hatte ebenfalls im Jahr 1909 eine editorische Parallelaktion begonnen. Ernst LewyLewy, Ernst startete seine Ausgabe Jakob Michael Reinhold Lenz: Gesammelte Schriften (4 Bände, Berlin: Paul Cassirer 1909), doch genügt diese in keiner Weise editionsphilologischen Mindestansprüchen. Zudem war seine Edition von vornherein als Liebhaber-Ausgabe konzipiert. Demgegenüber könnte man Bleis Ausgabe als den Versuch bezeichnen, den Autor Jakob Michael Reinhold Lenz aus dem Bann des wissenschaftlichen Fachzirkels herauszulösen und einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Immerhin war die erste, wenngleich wissenschaftlich völlig indiskutable, rezeptionsgeschichtlich gleichwohl bedeutende Edition Gesammelte Schriften von Jakob Michael R. Lenz (3 Bände, Berlin), von Ludwig TieckTieck, Ludwig herausgegeben, bereits 1828 erschienen. Und 1909 erschien schließlich auch die deutsche Übersetzung der russischen Lenz-Monografie von RosanowRosanow, Matvej N. (Leipzig 1909, 11901), ein bis heute wegen seiner Materialfülle unverzichtbares Buch.14

Die Bandaufteilung von Bleis Lenz-Ausgabe sieht folgendermaßen aus: Band 1: Die Gedichte, Der Hofmeister, Anmerkungen übers Theater, Amor vincit omnia (München, Leipzig: Georg Müller 1909). Band 2: Die Lustspiele nach dem Plautus, Der neue Menoza (München, Leipzig: Georg Müller 1910. (Belegt ist auch eine Ausgabe von demselben Druckstock Berlin: Propyläen-Verlag 1920). Band 3: Dramen, dramatische Fragmente, Coriolan (München, Leipzig: Georg Müller 1910). Band 4: Schriften in Prosa, worunter die moralisch-theologischen Vorträge von Lenz und seine ästhetisch-philologischen Schriften zu rechnen sind (München, Leipzig: Georg Müller 1910). Band 5: Schriften in Prosa, im Unterschied zu Band 4 sind hier die fiktionalen Texte von Lenz enthalten, wie Zerbin oder die neuere Philosophie, Der Waldbruder, Der Landprediger und andere. Außerdem enthält der Band acht Briefe von und an Lenz sowie ein Regestenverzeichnis („alle Briefe von ihm, an ihn, über ihn“, Bd. 5, S. 395) mit Dokumenten (München, Leipzig: Georg Müller 1913). Das Versprechen einer in Aussicht gestellten Lenz-Bibliografie in Band 5 konnte Blei nicht einlösen.

Auf den ersten Blick unterliegt die Korpusorganisation der Ausgabe einem gattungsdistinkten Gliederungsprinzip, doch messen schon die jeweiligen Bandtitel den einzelnen Lenz-Texten höchst unterschiedliche Bedeutung zu. Auch BleiBlei, Franz hielt es für gerechtfertigt, zahlreiche kleinere Arbeiten von LenzLenz, Jakob Michael Reinhold, die bis dahin noch nicht veröffentlicht worden waren und aus der Spätzeit des Sturm-und-Drang-DichtersSturm und Drang stammen, nicht zu drucken (vgl. Bd. 4, S. 398f.). Blei nennt diese Arbeiten „Paperasse“ (Bd. 4, S. 398) und begreift sie als Elaborate von Lenz’ spätem Wahnsinn.

Blicken wir auf die immer noch maßgebliche heutige, gebräuchliche Lenz-Ausgabe von Sigrid Damm15, so muss festgestellt werden, dass Damm auf insgesamt 26 Einzeltexte – vorwiegend aus dem Spätwerk – verzichtet, welche die LenzLenz, Jakob Michael Reinhold-Ausgabe von BleiBlei, Franz bereits gebracht hatte. Es ist also nach wie vor unerlässlich, neben der Ausgabe von Sigrid Damm die Blei-Ausgabe zur Hand zu nehmen. Natürlich wollte Franz Blei keine historisch-kritische oder wenigstens textkritische Ausgabe der lenzschen Werke veranstalten. Insofern verwundert es auch nicht, dass er in den Lautstand eingriff, Orthografie und Interpunktion modernisierte und ihm dort, wo er erstmals Handschriften von Lenz veröffentlichte, auch kapitale Lesefehler unterliefen. Doch man sollte sich hüten, vorschnell den Stab über Blei zu brechen. Natürlich sind die Transkriptionsfehler von ‚Monstruum‘ für ‚Menstruum‘, von ‚herrlicherm Triebe‘ für ‚herrlicherm Leibe‘ usf. keine Bagatellen und natürlich ist es ärgerlich, wenn aus ‚Freiheit‘ ‚Feigheit‘ und aus ‚philosophisch‘ ‚philologisch‘ wird.16 Um ein besonders kritisches Beispiel anzuführen: Blei kompiliert die beiden handschriftlichen Fassungen der Literatursatire von Lenz mit dem Titel Pandämonium GermanikumPandämonium Germanikum, unterliegt dabei aber einem gravierenden Irrtum. Im Kommentar zur Druckvorlage schreibt er: „Die Stellen, welche nur die ältere Fassung des Pandämonium enthält sind in unserem Druck in eckige Klammern gesetzt“ (Bd. 3, S. 457). Tatsächlich druckt Blei aber in eckigen Klammern in seiner Pandämonium-Ausgabe Varianten nach der jüngeren Handschrift H2. Darüber hinaus ist die Wiedergabe der älteren Handschrift H1 gezeichnet von Lesefehlern und zweifelhaften orthografischen Modernisierungsversuchen. Ich möchte die Verdienste von Blei keinesfalls schmälern, doch hatte seine Edition des Pandämonium Germanikum zur Folge, dass einige Editoren nach ihm seine kodikologische Altersangabe einfach übernommen haben. Erst Titel und Haug (1966/67) und in deren Folge Damm (1987) druckten die tatsächlich ältere Handschrift, allerdings unterlaufen auch ihnen einige eklatante Transkriptionsfehler. Unverständlich bleibt nach wie vor, weshalb die meisten Editoren das Titelwort Germanikum stets mit ‚c‘ anstatt mit ‚k‘ schrieben, hätte doch eine Autopsie der Handschriften, die von zahlreichen Editoren in ihren Kommentaren zum Druck wortreich beschworen wurde, leicht aufweisen können, dass es hierüber keinerlei Unklarheit gibt. Germanikum wird von Lenz in H1 und H2 jeweils mit ‚k‘ geschrieben. Hier bildet Bleis Textwiedergabe beispielsweise die rühmliche Ausnahme. Ob es sich bei den angeführten Lesefehlern allerdings um typische Fehllesungen Bleis handelt, die auf seine „große Schludrigkeit“17 im Umgang mit den Texten zurückzuführen sind, ist doch eher zweifelhaft. Denn jeder, der sich mit Lenz-Handschriften beschäftigt hat, weiß, wie schwierig einzelne Texte und Textstellen gelegentlich zu lesen sind, wie oft der Schriftträger verderbt ist. Und Bleis Anspruch ist es nicht, eine kritische Edition zu liefern. Vielmehr besteht, wie er in seiner dreieinhalb Seiten umfassenden Einleitung schreibt, sein leitendes Interesse an einer Neuausgabe der Werke von Lenz in folgenden zwei Fragen:

„Gab er [Lenz] dem Form, was ihn bewegte und bewegt er mich? Ist des Dichters Leidenschaft gewordenes Denken so, daß es auch mein Denken zur Leidenschaft entzündet? Für mich gebe ich Antwort auf diese Frage mit der neuen Herausgabe von des Dichters Schriften“ (Bd. 1, S. VIII).

Abgesehen davon, dass diese Worte von für das Editionsgeschäft seltener erfrischender Sinnlichkeit sind, kann man Bleis Einleitung zu seiner Lenz-Ausgabe auch als einen Versuch der literarhistorischen Rehabilitierung dieses Autors verstehen. BleiBlei, Franz gibt zu bedenken, dass LenzLenz, Jakob Michael Reinhold im Schatten GoethesGoethe, Johann Wolfgang stand und unter der Fixierung der bürgerlichen Literaturgeschichtsschreibung auf die Höhenkammliteratur zu leiden hatte. Über Goethe schreibt er: „Was im Schatten dieses mächtigen Baumes wuchs, mußte von stärkerer Konstitution sein, als sie Lenz besaß“ (Bd. 1, S. VII). Die Literatur des Sturm und DrangSturm und Drang versteht Blei als Emanzipationsprodukt der aufsteigenden bürgerlichen „Klasse“ (Bd. 1, S. VI):

„Von diesem Lenz will ein Stück nichts als die Nachteile der Privaterziehung, ein anderes die Notwendigkeit bestimmter Soldatenehen beweisen, ein drittes den Irrungen gesellschaftlichen Lebens die Natur gegenüberstellen, und so fort – die Kunst scheint ganz in den Dienst des praktischen Lebens gestellt, dessen Erneuerung vor allem wichtig ist“ (Bd. 1, S. VII).

Man kann resümieren, dass Bleis Lenz-Ausgabe „eine neue Phase der Lenz-Rezeption“18 eröffnet hat. Sie muss für alle Lenz-Interessierten und Lenz-Forscher zur Lektüre und zur Textarbeit immer noch herangezogen werden. Dies wird so lange der Fall sein, bis endlich die Forderung nach einer historisch-kritischen Lenz-Ausgabe eingelöst werden kann. In seinem Lenz-Essay von 1911 gelingt BleiBlei, Franz eine treffende poetische Charakterisierung des Dichters: „Er hatte keine Schale für sein Feuer, mußte es in den Händen tragen und verbrannte sie“19. Und im Bestiarium einige Jahre später schreibt er über die aufgeklärte Gesellschaft, die dem künstlerischen Individuum misstraue, es domestiziere, „weil sie die ausbrechende Bestie seiner unberechenbaren Phantasie fürchtet“20. Blei betont, dass dieser „Konservativismus“21 nicht Ausdruck des Künstlers selbst sei und führt folgende Beispiele an:

„Man denke an Christian GüntherGünther, Christian, der sich in keinerlei schlesische Dichterschule finden konnte und um seines Gedichtes willen lieber verreckte, statt als Stadtschreiber überflüssige Reimereien zu verfertigen. Man erinnere sich an Lenz – aber mit der Figur dieses sich auflehnenden Hofmeisters sind wir schon in einer wesentlich anders gerichteten Zeit: Eine neue Ethik des Künstlers hebt an, profitierend vom religiösen Zusammenbruch der Zeit und der wirtschaftlichen Neugestaltung der Gesellschaft: es beginnt die Literatur“22.

Blei begreift diese Zeit als Krisenzeit, deren Autor Lenz die Zerfallssymptome klar erkennt und beschreibt. „Die kapitalistische Welt kann eine Literatur, aber sie kann keine Dichtung haben“23, wie es im achten Exkurs des BestiariumsBestiarium geheißen hatte. Mit seiner LenzLenz, Jakob Michael Reinhold-Ausgabe hat Franz Blei dem Dichter jedenfalls ein Denkmal gesetzt und dafür gesorgt, dass die bürgerliche Literaturgeschichtsschreibung24 seiner Zeit nicht länger einen der bedeutendsten Autoren des Sturm und DrangSturm und Drang ignorieren konnte. Der Prozess der Rehabilitierung von Jakob Michael Reinhold Lenz hatte begonnen.

Robert Musil: Ein Essayfragment

Bei dem Textfragment Gut und glückselig?Gut und glückselig? von Robert MusilMusil, Robert (1880–1942) handelt es sich vordergründig um den Entwurf zu einer Rezension des Buches Das GuteDas Gute (1926) von Paul HäberlinHäberlin, Paul (1878–1960); der Text befindet sich im Nachlass Robert Musils, eine Publikation erfolgte erst 1987. Auch war unbekannt, dass Musil mit der Philosophie Häberlins vertraut war. Das Textfragment umfasst insgesamt sechs handbeschriebene Blätter, mit etlichen Marginalien und Korrekturen versehen. Der genaue Fundort ist als Nachlassmappe I/6, 119–125, dokumentiert. Auf der ersten Seite des Fragments befinden sich im ersten Drittel des Blattes einige Bemerkungen zum Humanismus. Vermutlich ist dieser kleine Textabschnitt Kommentar zu einer Lektüre Musils aus den zwanziger Jahren. Denn mit der gleichen Handschrift, durch einen Horizontalstrich über das ganze Blatt vom ersten Text abgesetzt, beginnt der Rezensionsentwurf. Da Häberlins Buch Das Gute 1926 erschienen ist und Musil seinen Text mit den Worten beginnt: „Es ist mir vor einem Jahr ein Buch gegeben worden“, kann folglich dieser Entwurf zu einer Rezension frühestens 1927 geschrieben worden sein. Der Text bricht nach Besprechung des Kapitels II. 4 mit dem Titel Fortschrittsethik am Ende des zweiten Teils von Häberlins Buch ab. Die Vermutung liegt nahe, dass Musil die weitere Lektüre oder zumindest seinen eigenen Text nicht mehr fortsetzte aufgrund anderer Arbeiten. In diese Zeit fällt die Textgestaltung des ersten Bandes seines Epochenromans Der Mann ohne EigenschaftenDer Mann ohne Eigenschaften.

Für die Arbeitsweise Musils ist bezeichnend, dass er von einem gegebenen Text aus – in diesem Falle Häberlins Buch – zunächst einmal seine eigenen Gedanken zum Thema entwickelt und dann erst zum Referenztext zurückkehrt. So beziehen sich ausschließlich auf Häberlins Buch lediglich die letzten drei Seiten des Essayfragments. Ob dieses Fragment vielleicht als Besprechung für eine Tages- oder Wochenzeitung oder Zeitschrift gedacht war, konnte nicht ermittelt werden. Hingegen scheint die Annahme überzeugender zu sein, dass es sich bei dem vorliegenden Textfragment um ein Essayfragment handelt, wobei Musil den konkreten Anlass einer Buchbesprechung als Ausgang für einen eigenen, größeren Essay nahm. Ähnlich ging Musil etwa auch 1921 vor in seinem Essay Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sindGeist und Erfahrung, der im März 1921 in Der Neue MerkurDer Neue Merkur erschienen ist. Für das Phänomen des fließenden Übergangs zwischen Rezension und Essay ist eine Äußerung Musils charakteristisch. Am 10. Dezember 1924 schreibt er an Ephraim FrischFrisch, Ephraim (1873–1942) unter Bezug auf seine Besprechung des Buches Der sichtbare MenschDer sichtbare Mensch von Béla BalázsBalázs, Béla (1884–1949): „ Ich hatte eine Rezension von Balázs’ wirklich außerordentlich interessanter […] Filmdramaturgie ‚Der sichtbare Mensch‘ versprochen, aber unter der Arbeit ist mir ein Essay daraus geworden, der nur noch dem Vorwand nach eine Besprechung ist und in Wirklichkeit eine Abhandlung wichtiger Kunstfragen“1. Mit dem Begriff des Textfragments soll lediglich angezeigt werden, dass es offen bleiben muss, ob es sich nun um ein Essayfragment oder um eine nicht fertiggestellte und liegen gebliebene Rezension handelt.

„Die Philosophie Häberlins ist vermutlich die einzige dieses Jahrhunderts, die das kühne Wagnis einer Seinslehre auf rein apriorischer Basis unter vollkommenem Verzicht auf Verwendung empirischer Daten und empirischer Generalisationen unternimmt“2. Was angesichts dieser Feststellung befremden mag, ist die Tatsache, dass gerade ein Denker wie Robert MusilMusil, Robert sich mit HäberlinsHäberlin, Paul Philosophie auseinandersetzt. Dies erhellt sich, wenn man die Denkhaltung Häberlins wie diejenige von Musil unter dem vom Text vorgegebenen Aspekt der Dialektik von Ethik und ÄsthetikÄsthetik betrachtet, ohne dabei dem Missverständnis, man müsse Abhängigkeiten nachweisen und Einflüsse feststellen, Platz einzuräumen. Die Verflechtung von Ethik und Ästhetik äußert sich bei Häberlin wie auch bei Musil als Untrennbarkeit. Was dennoch geschieden wird, wird künstlich geschieden, wird als Einheit gebrochen und klafft als Bruch, anstelle von Ästhetik als Nur-Literatur, anstelle von Ethik als Nur-Moral. Denn die „Qualitas“ (Häberlin) oder die „Eigenart“ (Musil) der Dichtung bestimmen beide Denker als das Ineinanderfallen von Ästhetik und Ethik. Spricht Häberlin von der leitenden Idee der KulturKultur als einer „Idee des richtigen Lebens“3, so entspricht dies Musils Vorstellung, „daß nur eine Frage das Denken wirklich lohne, und das sei die des rechten Lebens“4. Und wird die Richtigkeit als Eindeutigkeit von Häberlin verstanden, gipfelnd in der Formulierung: „richtiges Leben ist eindeutiges Leben“5, so bricht sich darin Musils Forderung nach jener „Utopie der Exaktheit“6, die die Moral als doppelbödig entlarvt und den Menschen wieder auf das tieferliegende Fundament des ethischen Verhaltens setzt. Indem diese Utopie der Moral die Forderung der Exaktheit stellt, gewinnt sie in ihrem Verlust Ethik zurück. Diese Landgewinnung im ortlosen Raum, also in der Utopie, fasst HäberlinHäberlin, Paul begrifflich als ethisches und ästhetisches Prinzip.

Bei MusilMusil, Robert wird schon in sehr frühen Notizen (ca. 1904/05) – sie finden sich im Nachlass unmittelbar vor diesem Essayfragment zu Häberlin – deutlich, dass er um eine Antwort auf die Frage nach dem Wert und Unwert von Dichtkunst ringt, dass er das Ethos von der Moral scheidet und dass er darüber philosophiert, wie sich das Ethische in der Dichtkunst überhaupt ästhetisch gestalten und darstellen lässt. Was Häberlin als das „Heimweh nach der Einheit des Seins“7 bezeichnet, jenes ursprüngliche und einzige Problem der Philosophie, wie richtiges Leben möglich sei,8 bestimmt Musil als Aufgabe der Dichtung: „Prototypen von Geschehensabläufen hinzustellen, lockende Vorbilder, wie man Mensch sein kann“9. Er definiert das Gebiet der Dichtung als das „der ethischen und ästhetischen Beziehungen, das Gebiet der Idee“10. Die „Formel der Erfahrung“11 muss gesprengt werden, um überhaupt zur Erkenntnis jenes anderen Menschseins vorstoßen zu können.

Auch bei Häberlin werden Erkenntnis und Erlebnis so miteinander verwoben, dass sich nicht das eine gegen das andere ausgespielt wird, sondern Erkenntnis eine Art von Erlebnis, Erlebnis eine Art von Erkenntnis ist und beide nur in der Arbeit am Begriff miteinander verbunden werden können. Häberlin setzt dies auf die Weise ins Werk, dass er die Philosophie als grundsätzlich apriorische gegen die Wissenschaft abgrenzt, die bei ihm stets empirische Wissenschaft bedeutet und der Philosophie diese Arbeit am Begriff zuweist. Musil hingegen grenzt die Dichtung gegen die Wissenschaft ab und stellt dabei das Apriorische als mögliches Empirem dar. Für beide Denker rückt damit in den Mittelpunkt ihres Schaffens die Arbeit am Begriff als Arbeit am Menschen. Häberlin nimmt – auch außerhalb seiner philosophischen Anthropologie – Stellung zu philosophisch grundsätzlich diskutierten Fragestellungen der Pädagogik und Psychologie. MusilMusil, Robert bettet in seinen großen Roman, der – in Abwandlung eines HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich-Wortes – seine Zeit in Gedanken erfasst, breit reflektierte Kapitel über Gefühlstheorie ein. Seine erzieherische Geste – Erziehung hier begriffen in jenem platonischen Verständnis der psychagōgía – verharrt jedoch im Ästhetischen, sie ist und will sich als solche verstanden wissen, ein „Entwurf ethischer Möglichkeiten“12. Das wörtliche Verständnis von theōreīn wird von Musil allenthalben thematisiert, im Mann ohne EigenschaftenDer Mann ohne Eigenschaften ist dieser Spion, der „theorein-Mensch“13, Ulrich. Dem apriorischen Seinswissen des Menschen, worauf Häberlins gesamte Philosophie fußt, steht bei Musil ein apriorisch Anders-Sein-Können des Menschen gegenüber. Das Mögliche ist – und hierin unterscheiden sich die beiden Denker wesentlich – ihm nicht gleich dem Wirklichen wie für Häberlin, der die Trennung von Wirklichkeit und Möglichkeit als eine künstlich vollzogene begreift und, ähnlich der heideggerschen existenzialen Analytik des Daseins, jede neue Wirklichkeitsform als Möglichkeitsform versteht, wonach Verwirklichen Nichten von Möglichkeiten heißt. Für MusilsMusil, Robert Denken hingegen ist nachgerade die ontologische und erkenntnistheoretische Scheidung von Wirklichkeit und Möglichkeit konstitutiv. Der „potentielle Mensch“14, von dem Musil schreibt, ist das Ursubstrat des Menschen und zugleich das Postulat des Anders-Mensch-Seins. Gelangt HäberlinHäberlin, Paul an diesem Punkt seiner Philosophie aber zwingend zur Annahme der Existenz Gottes, so ist dieser Schritt für Musil nicht nachvollziehbar. Dies bedeutet keineswegs ein Verweilen auf der Ebene des Homo-mensura-Satzes, vielmehr stellt Musil in bewusster Verweigerung des metaphysischen Griffs nach Gott dieser Ebene den Gültigkeitsbereich eines Homo-potentialis-mensura-Satzes entgegen: Der mögliche Mensch ist das Maß aller Dinge. Apodiktische Aussagen sowie der Versuch einer religiösen Begründung von Philosophie sind dem Skeptiker Musil fremd. Trotz aller Anerkennung, die Musil Häberlin zollt, gehen beide Denker hier verschiedene Wege. Einige Beispiele aus Häberlins Buch Das GuteDas Gute, von dem er selbst übrigens annahm: „Wird aber natürlich weitgehend mißverstanden werden, wie alles wirklich Philosophische“15, mögen zur Veranschaulichung genügen. Die Grundfrage, die Häberlins Untersuchung leitet, lautet: „Wie ist richtiges Leben möglich?“16 Hierin haben also beide Denker noch dieselbe Ausgangsposition. In der Antwort, die HäberlinHäberlin, Paul gibt, wird aber der Unterschied zwischen seinem religiösen Reduktionismus und MusilsMusil, Robert kritischem Möglichkeitsdenken deutlich. Häberlin erklärt: „Durch den Glauben ist das Problem gelöst“17. Und: „Aber trotzdem: es ist hier die Wahrheit zu sagen. Und die Wahrheit ist diese: Der Gott, dem dieser Name allein zugehört, ist der absolute Einheitswille selbst […] so viel musste gesagt sein, sollte es nicht scheinen, als käme die Lösung der ethischen Prinzipienfrage ‚ohne Gott‘ aus“18. Und schließlich: „Das Prinzip des Glaubens ist das Prinzip des Guten schlechthin, Glaube ist der ethische Grundbegriff“19. Falsche Ethik verkennt, so führt Häberlin aus, „dass das ‚rechte Leben‘ entweder religiös oder gar nicht begründet ist“20. Alle ethischen Grundbegriffe bezeichnet er demzufolge als „Derivate des Glaubensbegriffes“21. „Das Gute ist der Glaube. Die Freiheit zum Guten ist also unsere Möglichkeit, zu glauben“22. Um welche Art von Glauben es sich hierbei handelt, verdeutlicht Häberlin in seiner Vermächtnisschrift von 1952: „Der christliche Glaube ist das Festhalten der in ihm geschehenen Offenbarung, der Offenbarung Gottes. Philosophie als Ethik steht auf diesem Glauben“23. In diesem Sinne bestimmt er die Menschen als „Mitarbeiter Gottes“24. Dem wirklichen Gott Häberlins steht der mögliche Mensch Musils gegenüber. Trotz dieser fundamentalen Verschiedenheit beurteilt Musil die Schrift Häberlins insgesamt positiv. Er unterstellt sie also nicht jenem Verdikt, das er über Oswald SpenglerSpengler, Oswald (1880–1936) ausgesprochen hatte: „Man kann Sp.[engler]’s Philosophie in einer sehr einfachen Klappermühle nacherzeugen“25. Ein Grund hierfür mag darin zu suchen sein, dass Häberlin wie Musil geschulte Philosophen und Psychologen waren und beide stets auf den erlebnishaften Anteil am Erkenntnisprozess hinweisen. Häberlin geht sogar so weit, das Erkennen als „eine Art des Erlebens“26 zu begreifen. Aber trotz aller experimentell-empirischen Anstrengungen reduziert sich auch für Musil die intellektuelle Erkenntnis intelligibler Gegenstände27 nicht auf periphere oder sekundäre Erkenntnis. Vielmehr gibt es für MusilMusil, Robert einen nicht unwesentlichen Teil Erlebnistranszendenz in unserem Bewusstsein, der sich einer ausschließlichen Reduktion auf die Daten der Sinneswahrnehmung entzieht. Dass das Ringen um das richtige ethische Verhalten und die Suche nach dem anderen Zustand eine Auseinandersetzung mit dem standardisierten Gebrauch der Begriffe gut und böse miteinschließt, ist zwingend. Bemerkenswert dabei ist aber, dass sich Musil nun nicht auf NietzscheNietzsche, Friedrich beruft, sondern zahlreiche Zitate aus dem Werk Friedrich SchillersSchiller, Friedrich (1759–1805) anführt. Diese von Musil als historisch-literarische Belege für HäberlinsHäberlin, Paul Argumentation ausgewiesenen Zitate veranschaulichen zugleich auch den poetischen Duktus des musilschen Denkens. Nichts Gedachtes verweilt im Gedanklich-Abstrakten, sondern bekommt augenblicklich ein gedanklich-poetisches Gewand, entkleidet sich seiner gedanklichen Apriorität und transformiert die vereinzelte philosophische Erkenntnis zu poetischer Gestalt.

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