Kitabı oku: «Buchstäblichkeit und symbolische Deutung», sayfa 34
Heinrich von Kleist Der zerbrochne Krug (1811) im Deutschunterricht
Heinrich von KleistsKleist, Heinrich von (1777–1811) Lustspiel Der zerbrochne KrugDer zerbrochne Krug ist 1803 entstanden. Dem Motiv des zerbochenen Krugs liegt ein Kupferstich von Le Veau aus dem Jahr 1782 zugrunde, worauf die Gerichtsszene dargestellt ist. Kleist selbst weist in seiner „Vorrede“ zum Stück darauf hin, ein wahrscheinliches „historisches Faktum“ sei Grundlage der künstlerischen Darstellung.1 Im April 1805 ist die Niederschrift beendet. Kleists Freund Adam MüllerMüller, Adam schickt im August 1807 das Manuskript an GoetheGoethe, Johann Wolfgang. Auf dem Weimarer Hoftheater wird das Stück am 2. März 1808 uraufgeführt. Erst 1811 erscheint Der zerbrochne Krug als Buchausgabe. Von 1820 an gehört es zum Repertoire deutscher Bühnen. Soweit die historischen Daten – was aber lässt uns den Zerbrochnen Krug heute noch als Schulklassiker lesen?
In einem Brief an Adam Müller vom 28. August 1807 hebt Goethe die außerordentlichen Verdienste des Stücks hervor und betont, dass die ganze Darstellung sich mit „gewaltsamer Gegenwart“2 aufdringe. Worin mag dies begründet sein? Ist dies ein nur historisches Urteil, das heutige Leser, Lehrer wie Schüler, nur mühsam zu überzeugen vermag, oder wohnt dem Stück eine literarische Kraft inne, die zeitlos ist? Für die Beharrlichkeit einer Lektüre – und das ist ja auch ein Kennzeichen von Klassikerlektüre – des Zerbrochnen Krugs in der Schule (wie übrigens auch in der Hochschule) sprechen mehrere Gründe:
1.) Der Zerbrochne Krug dokumentiert anschaulich Formen des Sprachwandels. Der Text ist geeignet, die Sprachsensibilität der Schüler/Leser zu schärfen. Dies liegt zum einen an der Versform der fünfhebigen, jambischen Blankverse, die ein aufmerksames, konzentriertes Lesen und den intensiven Informationsaustausch und eine ebensolche Kommunikation zwischen Lehrer und Schülern erfordern. Durch die Verwendung von zahlreichen sprachlichen Anachronismen, deren Gebrauch unüblich, deren Herkunft unklar und deren Bedeutung unbekannt ist, sind Lehrer und Schüler zu einem Dialog mit dem Text gezwungen, der weit über das bloß historische Verständnis hinausgeht. Wörter wie „Gevatter“ (V. 128), „Muhme“ (V. 261) und „ahnden“ (V. 265) müssen nicht nur von ihrer Herkunft und Bedeutung her erklärt, sondern ihre moderne, synonyme Verwendung muss im Zusammenhang der Belegstelle diskutiert werden. Dadurch werden Normen des Sprachgebrauchs sichtbar gemacht und können kritisch erörtert und auf die Gegenwart bezogen werden. Schon am Beispiel des Titels kann ein sensibler Umgang mit sprachlichen Nuancen geübt werden: Im Partizip „zerbrochne“ ist ein ‚e‘ elidiert; selbst moderne Textausgaben und Literaturgeschichten modernisieren im Übereifer hier gelegentlich. In KleistsKleist, Heinrich von Text kommen beide Varianten vor, zerbrochne und zerbrochene. Dem Schülereinwand, ‚so spricht doch kein Mensch‘, kann durch den wiederholten, aber dadurch um nichts weniger richtigen Hinweis begegnet werden, die Künstlichkeit des Sprechens ist die Kunst der Sprache. Darin liegt nicht die Komik des Stücks begründet, sondern diese Kunst der Sprache ist poetologisches Programm des Autors und Aufweis der ‚Klassizität‘ des Stücks. Damit wird ein Anspruch des Autors formuliert, der mit den Schülerinnen und Schülern kritisch überprüft werden kann.
Die Komik des Textes ist auf mehreren Ebenen nachzuweisen. Auf der Sprachebene durch Missverstehen und durch sprachliche Doppeldeutigkeiten; auf der thematisch-analytischen Ebene dadurch, dass der Richter Adam selbst mehr und mehr zum Angeklagten und seine nächtliche Tat Schritt für Schritt aufgedeckt wird; auf der Figurenebene, indem Kleist in die Individualität der Figuren standardisierte komische Typeneigenschaften einzeichnet; und auf der Namensebene, indem die Namen der einzelnen Figuren bereits ihr im Stück offenbartes Verhalten karikieren. Am deutlichsten wohl beim Dorfrichter Adam, dessen Namen auf den biblischen Sündenfall anspielt und der als Figur diesen Sündenfall mit Eve – als Variante der biblischen Eva – wiederholt. Der Name des Gerichtsrats Walter spielt gewiss mit dem lutherischenLuther, Martin ‚das walte Gott‘ als ‚walt(e) er‘. Licht ist, entgegen seinem Namen, nicht derjenige, der Licht in die dunkle Angelegenheit von Adams Tat bringt. Die Lichtsymbolik, wonach Aufklärung als Licht dargestellt wird, hat sich erschöpft. Die Aufklärung der Tat ist keine Tat der Aufklärung. Doch findet sich dennoch ein letzter, fast schon parodistischer Nachhall auf die AufklärungAufklärung im Text. In guter aufgeklärter Tradition erweist sich der vermeintliche Teufel, den Frau Brigitte zu sehen glaubte, als die reale Gestalt des Dorfrichters Adam. Im Sinne der Vorurteilskritik der Aufklärung sind es die Beteiligten selbst, die nach und nach Einsicht und Erkenntnis gewinnen, indem sprachlich überprüft wird, was vermeintlich gesehen, gehört und gerochen (man denke an die Schwefeldämpfe) wurde. So gesehen dient der Klumpfuß des Dorfrichters weniger als intertextueller Verweis auf Sophokles’Sophokles ÖdipusÖdipus, der ja wörtlich der Schwellfuß bedeutet. KleistKleist, Heinrich von benötigt vielmehr den richterlichen Pferdefuß, um die Analogie zum Teufel in der elften Szene herstellen und die beharrliche Kraft der AufklärungAufklärung vor Augen führen zu können. In diesem Sinne ist der Zerbrochne KrugDer zerbrochne Krug auch ein Stück gegen Vorurteile, mithin ein literarisches Dokument der Vorurteilskritik. Die Quintessenz lautet: Vernunft verhilft der Wahrheit zum Recht, was nicht unbedingt gleichbedeutend sein muss mit der Einsicht, dass Recht vernünftig gesprochen wird. In diesem Sinne ließe sich Kleists Komödie sogar als Rechtssatire lesen.
2.) Auch unter literaturgeschichtlichem Aspekt vermag die Lektüre des Textes zu einer differenzierten historischen Wahrnehmung beizutragen. Kleists Komödie kann insgesamt als ein Beispiel des Epochenumbruchs um 1800 in der deutschen LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte gelesen werden. Dieser Umbruch dokumentiert den Wandel von literarischen Standards und BewusstseinsformenBewusstseinsformen des späten 18. Jahrhunderts zum Sprach-, Stil- und Themeninventar der Weimarer KlassikWeimarer Klassik. Dies erlaubt eine Problematisierung des Verhältnisses der literaturgeschichtlichen Strömungen von SpätaufklärungSpätaufklärung, FrühromantikFrühromantik und Weimarer Klassik ebenso wie es die Ausbildung eines kritischen Bewusstseins von Epochenstrukturen fördert und die Einsicht stärkt, dass historisches Denken konstruktives und nicht re-konstruktives Denken bedeutet. In diesem Zusammenhang kann auch am Beispiel des Autors Heinrich von Kleist historisches, biografisches und sozial-geschichtliches Arbeiten mit den Schülerinnen und Schülern geübt werden. Dies ist freilich ein Argument, das diesem Text nicht allein zugutekommt, sondern von nahezu jedem Autor oder Text gilt.
3.) Kleist definiert sein Drama im Untertitel als ein Lustspiel. Der Zerbrochne Krug ist der wohl bekannteste Beispieltext für eine deutsche KomödieKomödie. Damit lassen sich allgemeine Gattungsmerkmale ebenso diskutieren wie ein theaterdidaktisches Verständnis für die dramatische Struktur dieser Komödie geschaffen werden kann. Dies wirft die Frage nach dem Verständnis des Komischen auf und erlaubt, Aspekte der reinen (und formalen) Gattungslehre zu diskutieren. Ein Verständnis für die dramatische Struktur des Stücks zu schaffen, heißt, in die Fragen und Probleme der Dramenanalyse einzuführen. Dies betrifft einen grundsätzlichen methodischen Aspekt im Umgang mit einem Klassikertext. So unverzichtbar und wichtig die Kenntnisse über die Struktur des Dramas sind (poetologische Funktion, Ort-Zeit-Handlungs-Schema, FallhöheFallhöhe, StändeklauselStändeklausel, Verlachkomödie, Typenkomödie etc.), so wichtig ist die Frage nach der Aktualität eines Klassikers. Die Übertragung in das eigene Leben der Schülerinnen und Schüler, der Gewinn von Erkenntnissen, Themen, Motiven und Typen, die durch Erfahrungen des eigenen Lebens der Schüler bestätigt werden können, rechtfertigt erst die Rede von einem Schulklassiker.
Schließlich kann auch die Einsicht in die Geschichtlichkeit und den sprachlichen wie inhaltlichen historischen Wandel von Komik gefördert werden. Was dem Text als inhärente Witzstruktur eignet und von vielen Lesern auch so rezipiert wurde und immer noch wird, erweist sich bei genauerem Hinsehen als Produkt einer bildungsgeschichtlichen Prägung. Da das Vorwissen über den Text auch das typologische Wissen um dessen Gattung KomödieKomödie beinhaltet, wird bei den Lesern ein Komikanspruch geschaffen, dessen Einlösung sprachlich detailliert jeweils in konkreter Textstellenarbeit geprüft werden kann. Damit zusammenhängend lässt sich auch die Frage diskutieren, ob und in welchem Maß Komik generationenabhängig, also einem geschichtlichen Wandel unterworfen ist.
Der Zerbrochne KrugDer zerbrochne Krug ist ein analytisches Drama, das bedeutet, dass die Tat bereits zu Beginn des Textes geschehen ist und nun Schritt für Schritt im Wechselspiel von Rede und Gegenrede aufgedeckt wird. Sein großes weltliterarisches Vorbild hierfür findet Kleist in der griechischen LiteraturgeschichteLiteraturgeschichte. Bereits in der „Vorrede“ zum Stück verweist er auf Kreon und Ödipus, die beiden Hauptfiguren von SophoklesSophokles’ Tragödie König ÖdipusKönig Ödipus. Die Komik ergibt sich nun aus den dramatischen Verwicklungen, die der Autor um das Dingsymbol des zerbrochenen Krugs gruppiert. Der unangemeldete Revisionsbesuch durch Gerichtsrat Walter dient gleichsam als Katalysator, der das Spannungsgeschehen steigert und am Ende Dorfrichter Adam als gesuchten Täter entlarvt. Frau Marthe Rull klagt vor dem Dorfgericht wegen der Zerstörung ihres Krugs und löst mit ihrer Klage erst die Ermittlungen aus, die zugleich eine andere Tat aufdecken. Ihre Tochter Eve hatte nämlich unerlaubterweise nächtlichen Besuch, und ihr Verlobter Veit wird nun beschuldigt, Eve besucht und dabei den Krug zerstört zu haben. Die Leser wissen schon sehr bald, dass der Verdacht auf Richter Adam fallen muss, so dass sich also die Lesespannung nicht auf die Frage richtet, wer war der Täter, sondern darauf, wie wird die Tat aufgeklärt?
4.) Die sehr differenziert gezeichneten Charaktere des Textes veranschaulichen bestimmte menschliche Verhaltensweisen. In der Lektürearbeit kann die Rekonstruktion von Figurencharakterisierungen und die Übertragung in das wirkliche Leben der Schüler geübt und deren Wahrnehmungs- und Sprachvermögen erweitert werden. Beobachtungsgabe, sprachliches Differenzierungsvermögen, Sprech- und Schreibkompetenz der Schüler, kurz allgemeine kognitive Fähigkeiten werden hierdurch gefestigt.
5.) Die Reihung dieser Argumente eröffnet den Blick auf die Themenvielfalt von KleistsKleist, Heinrich von Komödie, die der Text offeriert: Respekt, Autorität, Obrigkeit, Macht, Willkür etc. Sie zu erarbeiten und zu bewerten erfordert ein genaues Textverständnis. Die Macht der List wird von Adam anfänglich ebenso repräsentiert wie sie zum Ende hin von Walter bestätigt wird. Die Frage danach, worin das Delikt Adams eigentlich besteht, öffnet die Wahrnehmung der Schüler für die Rolle der Frau im Text wie in der historischen Wirklichkeit Kleists. Die Frage nach den GeschlechterrollenGeschlechterrollen kann intensiv und gegenwartsbezogen diskutiert werden, ebenso die Rolle des Gefühls und die tabuisierte SexualitätSexualität.
Dorfrichter Adam verkörpert die Verbindung von Verdacht und Verdächtigung, und es stellt sich die Frage, ob Adam prinzipiell zur Einsicht fähig ist und seine Flucht Ausdruck seines Unrechtsbewusstseins ist oder als Schuldeingeständnis im moralischen und juristischen Sinn gilt.
Schließlich erlaubt der Zerbrochne KrugDer zerbrochne Krug auch eine mediendidaktischeMediendidaktik Lektüre. Wohl kaum ein Text der Literatur des 19. Jahrhunderts eignet sich hierzu besser als Kleists Lustspiel. Dies hat seine Ursache in der banalen Tatsache, dass diese Komödie seit vielen Jahrzehnten zum festen Bestand der Spielpläne deutschsprachiger Bühnen gehört und bereits mehrmals verfilmt wurde. Am Beispiel der verfilmten Theaterinszenierungen lässt sich sehr konkret in einen verantwortungsvollen Umgang mit medial transformierterTransformation Literatur und in Fragen der MedienästhetikMedienästhetik einführen. Die ursprüngliche Textarbeit hat sich nun unter diesem Gesichtspunkt zur Theaterarbeit erweitert und beginnt Medienarbeit zu werden. Damit stellt sich ein zeitgemäßer DeutschunterrichtDeutschunterricht auch den Erfordernissen des gesellschaftlich-historischen Wandels der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler. Und wenn ein Text sich für diese Transformationsarbeit eignet, mag dies nicht zuletzt auch als ein Zeichen von Klassizität gewertet werden in dem Sinne, dass Textverwandlung und Textanverwandlung in der RezeptionRezeption durch Lehrer und Schüler zur Deckung gebracht werden können. Damit eignet sich Kleists Zerbrochner Krug auch zur grundsätzlichen Diskussion von KanonKanon und Klassizität historischer Texte und sollte seinen festen Ort als Schulklassiker beharrlich verteidigen.
6.) Und schließlich erlaubt der Autorname KleistKleist, Heinrich von auch, mit den Schülerinnen und Schülern den namensgleichen und heute vergessenen Vertreter der Poetae minores zu erarbeiten, die Rede ist von Franz Alexander von KleistKleist, Franz Alexander von (1769–1797)3. Dieser Kleist machte sich vor allem als Lyriker einen Namen. Er war ein entfernter Verwandter Heinrichs von Kleist und stammte aus einer Offiziersfamilie. 1785 trat er mit 16 Jahren in den Heeresdienst ein. Im Frühjahr 1790 begann er das Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in Göttingen, ab Jahresende 1790 war er als Legationsrat im diplomatischen Dienst tätig. Franz Alexander von Kleist heiratete im Dezember 1791 Albertine von Jung, quittierte aus gesundheitlichen Gründen den Staatsdienst und lebte seit 1792 als Privatier. Er veröffentlichte zahlreiche Gedichte mit historischen und mythologischen Themen, die meisten erschienen in Zeitschriften. Nur ein geringer Teil davon wurde in seine Vermischten SchriftenVermischte Schriften (A. v. Kleist) (Berlin 1797) aufgenommen. Das Denkmal Deutscher Dichter und DichterinnenDenkmal Deutscher Dichter und Dichterinnen4 ist eine Art MikroliteraturgeschichteMikroliteraturgeschichte in Form einer ‚historisch-lyrischen Dichtung‘, die der Verbreitung patriotischer Stimmung dienen sollte. In seiner Ode an die Deutschen, bey denen französischen UnruhenOde an die Deutschen, bey denen französischen Unruhen5 rief Franz Alexander von Kleist am 24. Oktober 1789 noch zum bewaffneten Widerstand gegen die Revolutionäre auf, doch änderte sich das nach 1791. Nun sympathisierte er im Rahmen eines aufgeklärten Absolutismus durchaus mit der Französischen RevolutionFranzösische Revolution. Sein Reisetagebuch Fantasien auf einer Reise nach PragFantasien auf einer Reise nach Prag (Dresden, Leipzig 1792. Neudruck Heilbronn 1996) enthält neben elegischen Naturbeschreibungen und einer deutlichen Fürsten- und Priesterkritik auch bestechende sozialkritische Urteile. Im Anhang zu Sappho. Ein dramatisches GedichtSappho. Ein dramatisches Gedicht (Berlin 1793) schreibt Franz Alexander von Kleist und nimmt damit SchillersSchiller, Friedrich Programm einer ästhetischen Erziehung des Menschen vorweg: „Es ist gewiss, je mehr ästhetische Empfänglichkeit ein Volk besitzt, desto weniger wird es sich unterdrücken lassen, weil es die gegenseitigen Pflichten dann schon erkennen gelernt hat und jede Ungerechtigkeit doppelt fühlt“6. Franz Alexander von KleistKleist, Franz Alexander von galt als Hoffnungsträger der deutschen Literatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts.7 An seinem Beispiel können die kulturgeschichtlichenKulturgeschichte Faktoren von ProduktionProduktion, DistributionDistribution, RezeptionRezeption und TransformationTransformation von Literatur diskutiert werden, die darüber entscheiden, ob, wann und wie ein Autor zum Klassiker geadelt wird und Eingang findet in den Olymp der LiteraturgeschichtenLiteraturgeschichte.
Friedrich Hebbel Maria MagdalenaMaria Magdalena (1844)
In seinem Epigramm Selbstkritik meiner DramenSelbstkritik meiner Dramen schreibt Friedrich HebbelHebbel, Friedrich (1813–1863), nicht ohne ironischen Unterton:
„Zu moralisch sind sie! Für ihre sittliche Strenge
Stehn wir dem Paradies leider schon zu lange fern
Und dem jüngsten Gericht mit seinen verzehrenden Flammen
Noch nicht nahe genug. Reuig bekenn ich euch dies.“1
Demzufolge nun Gewalt statt KatharsisKatharsis im Sinne eines Paradigmenwechsels als Grundlage einer Dramenanalyse zu erproben, ist eine provokante Formulierung, auch wenn der Begriff des Paradigmenwechsels gleichwohl interrogativ abgeschwächt ist. Doch der Zusammenhang erhellt sich, wenn man die Nikomachische EthikNikomachische Ethik heranzieht. Darin schreibt AristotelesAristoteles im zehnten Buch, dass die LeidenschaftLeidenschaften nicht dem Wort (λόγος), sondern nur der Gewalt weiche (vgl. Nikomachische Ethik 1179 b 27). Diese Gewalt repräsentiere nicht das Gebot des Vaters, sondern das Gesetz, das ein Ordnungsprinzip darstelle, welches auf sittlicher Einsicht und Vernunft beruhe.2 Als Leidenschaften bezeichnet Aristoteles im zweiten Buch seiner Ethik das BegehrenBegehren, den Zorn, die Angst, die blinde Zuversicht, den Neid, die Freude, die Regung der Freundschaft und des Hasses, die Sehnsucht, die Missgunst und das MitleidMitleid. Das sind also Empfindungen, die vom Gefühl der Lust oder Unlust begleitet werden.3
Selbstverständlich ist dieses aristotelische Triebregulierungsmodell soziohistorisch ebenso falsch, denn die griechische Polis war ja nachgerade ein streng patriarchalisch reguliertes Gemeinwesen, wie es psychohistorisch ungenau ist, am deutlichsten wohl zu sehen in der Literatur des 18. Jahrhunderts, wo der Triumph der logozentrischen Vernunft über die Leidenschaften allenthalben gefeiert oder postuliert wird. Und dennoch wird die Konfliktkonstellation Logos versus Leidenschaft gerade in jenem Jahrhundert soziohistorisch virulent und literarisch signifikant, das einen heute eher skeptisch betrachteten Prozess der Emanzipation des BürgertumsEmanzipation des Bürgertums in Gang bringt. Die These, die ich meinen Ausführungen voranstelle, soll also heißen: Das BegehrenBegehren nach Emanzipation der LeidenschaftenEmanzipation der Leidenschaften artikuliert sich als fiktionaler Diskurs im Bürgerlichen TrauerspielBürgerliches Trauerspiel.
Verschränkt man das sozialethische Theorem der Nikomachischen EthikNikomachische Ethik mit dem wohl bedeutendsten Theorem der aristotelischenAristoteles Poetik, dass nämlich die TragödieTragödie Vergnügen bereiten, FurchtFurcht und MitleidMitleid erregen (heute übersetzt man Jammer und Schaudern) und die KatharsisKatharsis von diesen und bzw. oder anderen Leidenschaften bewirken soll, so ergibt sich die irritierend exakte Beschreibung eines Prozesses, der sich historisch zwischen LessingsLessing, Gotthold Ephraim Miss Sara SampsonMiss Sara Sampson (1755) und HebbelsHebbel, Friedrich Maria MagdalenaMaria Magdalena (1844) vollzieht. Der zuschauende BürgerPoetik (Aristoteles)Poetik (Aristoteles) wird mit seiner Misere allein gelassen, er erkennt sie nicht einmal mehr als Misere, sondern verschiebt sie in die Diskursivierung einer ästhetischen Empfindung. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, am deutlichsten in HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich Vorlesungen über die ÄsthetikVorlesungen über die Ästhetik zu sehen, beginnt ein Prozess der Dekathartisierung der KunstDekathartisierung der Kunst. So meint Hegel etwa, die Kunst habe ihren Endzweck in der Enthüllung und Darstellung der Wahrheit, „andere Zwecke, wie Belehrung, Reinigung, Besserung […], gehen das Kunstwerk als solches nichts an und bestimmen nicht den Begriff desselben“4.
Hebbels Tragödie Maria Magdalena zeigt in der Form der ursprünglich emanzipatorischen Gattung, dass der Bürger nicht mehr kathartisierbar ist, weder als Handlungsträger (es gibt keine moralische oder vernunftmäßige Einsicht, keinen Sieg des Logos) noch als Rezipient (das Angebot heißt nicht mehr Katharsis kollektiver Gefühlsdispositionen, sondern ungeschützte Konfrontation mit dem, was das Bürgertum selbst produziert, nämlich Gewalt). Das Taschentuch, einst Attribut nicht nur der empfindsamenEmpfindsamkeit Zuschauerin, dient jetzt dazu, dem Bürger die Augen zu verbinden, nicht aus Gründen der Gerechtigkeit, einer wie auch immer gearteten poetischen oder real-gesellschaftlichen, sondern man mag den Tod Klaras, man mag die Gewalt nicht sehen, wie etwa in der ablehnenden RezeptionRezeption des Stücks in den 1840er-Jahren zum Ausdruck kommt.
Im Hinblick auf die Themenstellung sollen drei Punkte von HebbelsHebbel, Friedrich Vorwort zur ‚Maria Magdalena‘Vorwort zur Maria Magdalena hervorgehoben werden.
1.) Hebbel schreibt:
„Darstellbar ist nun nur das Handeln, nicht das Denken und Empfinden; Gedanken und Empfindungen gehören also nicht an sich, sondern immer nur so weit, als sie sich unmittelbar zur Handlung umbilden, ins Drama hinein; […] denn alles Handeln löst sich dem Schicksal […] gegenüber, in ein Leiden auf, und gerade dies wird in der Tragödie veranschaulicht, alles Leiden aber ist im Individuum ein nach innen gekehrtes Handeln […]“.5
Dies ist zwar gut aristotelischAristoteles gedacht, trifft aber nicht die poetologische Intention des Bürgerlichen TrauerspielsBürgerliches Trauerspiel. Was das Bürgerliche Trauerspiel bzw. die Literatur insgesamt nicht mehr leisten kann, wird geschichtsphilosophisch überhöht als Vermittlung von Idee und Weltzustand bzw. Menschenzustand oder es wird pragmatisch gelöst, was bedeutet: Wo Vernunft und Sittengesetz versagen, bleibt nur noch Gewalt.
2.) Hebbel moniert am Bürgerlichen Trauerspiel, dass es aus „allerlei Äußerlichkeiten“ regelrecht „zusammengeflickt“ sei.6 Der Darstellung ständisch-gesellschaftlich begründeter Konflikte lastet er „gerührte Sentimentalität“7 an. In jener berühmten Tagebucheintragung vom 4. Dezember 1843 ist zu lesen: „Heute habe ich mein viertes Drama: ‚Ein bürgerliches Trauerspiel!‘ geschlossen“8, und weiter heißt es:
„Gewöhnlich haben die Poeten, wenn sie bürgerliche Trauerspiele zu schreiben sich herabließen, es darin versehen, daß sie den derben, gründlichen Menschen, mit denen sie es zu tun hatten, allerlei übertriebene Empfindeleien oder eine stöckige Borniertheit andichteten, die sie als amphibienhafte Zwitter-Wesen, die eben nirgends zu Hause waren, erschienen ließen.“9
Denn tragisch wirken – und das bedeutet nach klassischer Lesart ja gerade kathartisieren – könne allein ein diesen Konflikten vorgängiges, „mit Nothwendigkeit Bedingtes“10. Sobald man sich mit einem „Hätte er […] oder einem: Wäre sie […] helfen kann, wird der Eindruck, der erschüttern soll, trivial“11 und die tragische Wirkung verpufft, meint HebbelHebbel, Friedrich im Vorwort zur Maria MagdalenaVorwort zur Maria Magdalena.
3.) Der dritte Einwand betrifft neben dem Vorwurf der Trivialität vor allem die Absurdität und die Lächerlichkeit, die das Bürgerliche TrauerspielBürgerliches Trauerspiel kennzeichnen würden. Dagegen setzt Hebbel, dass die Willkürlichkeit der Figurenwahl in ein „allgemein Menschliches“12 aufgelöst werden müsse. Er empfiehlt im Hinblick auf sein Stück, nach der himmlischen Schönheit, die sich nur im „allergewaltsamsten Zustande“13 zeigen könne, zu fragen. Diese „Erbfehler des bürgerlichen Trauerspiels“14, schließt er selbstbewusst das Vorwort ab, habe er vermieden.
Schönheit lässt sich also nur in Situationen der Gewalt aufzeigen. Die Rückkehr zur antiken Tragödiensituation (natürlich neuzeitlich geschichtsphilosophisch anverwandelt, Moira und Ananke übernehmen die ‚Schirmfrauschaft‘) und die Vorgabe, nicht Empfindungen und LeidenschaftenLeidenschaften sollen dargestellt werden, sondern allein ein Handeln, – das ist die eine Seite, die Seite des Theoretikers Hebbel und seines autopoetologischen, selbstexplikativen Diskurses im Vorwort zu seinem Drama. Die andere Seite, nämlich diejenige des Textes, lässt aber eine andere Lesart zu. Indem Hebbel das Numinose, die Notwendigkeit, exemplifizieren will, zeigt er, seiner eigenen Absicht widerstreitend, wie gesellschaftlich, familial und diskursiv bedingt die Gewaltverhältnisse sind.
Der Begriff der KatharsisKatharsis wurde erst spät im Zusammenhang mit Hebbels Maria Magdalena in Anspruch genommen.15 Als die „spezifisch Hebbelsche Katharsis“16 galt „die ‚Versöhnung‘“17 und war zunächst nicht mehr als eine geschichtsphilosophisch liquidierte Katharsis, sie war viel eher eine Entität, ein wirkungsästhetisches Phänomen oder anders ausgedrückt: Sie war eher ein Indiz für den Prozess der Dekathartisierung der KunstDekathartisierung der Kunst im 19. Jahrhundert.18 In dem Aufsatz Friedrich Hebbels tragischer HistorismusFriedrich Hebbels tragischer Historismus19 wurde zunächst der mythisch-archaische Ursprung der Katharsis rekonstruiert. „Die tragische Darstellung schafft zur mythischen Vorgeschichte jene Distanz, aus der Humanität als eigener, rationaler Bereich des Menschen entworfen wird – darin gründet KatharsisKatharsis.“20 Da nun HebbelHebbel, Friedrich den aufklärerischen Ursprung des Bürgerlichen TrauerspielsBürgerliches Trauerspiel auf ein historisierendes Konstrukt hin, nämlich die tragische Notwendigkeit, depriviere, stelle sich Katharsis dort ein, „wo Protest stehen sollte“21. Hebbels „restaurative Einstellung“ sei eher in gattungspoetischen als in politischen Motiven begründet.
So wichtig und begründet diese ideologiekritischen Einwände sind, so notwendig ist es – dies als das vorliegende Erkenntnisinteresse formuliert –, diese gattungstheoretische restaurative Wende oder zugespitzter formuliert: diese Katharsis-Deprivation zu entpersonalisieren. Mag es richtig sein, von einer eingestandenen oder uneingestandenen restaurativen Einstellung Hebbels zu sprechen, sein Stück Maria MagdalenaMaria Magdalena leistet dies aber nicht. Vielmehr zeigt es, entgegen seiner programmatischen Absicht, eine bürgerliche Gesellschaft, deren Gewaltverhältnisse gerade nicht mehr die sozialpsychologische Triebabfuhr als Katharsis zulassen. Konnte Peter SzondiSzondi, Peter über das bürgerliche Publikum der 1750er/60er-Jahre noch schreiben, dass es im Theater ohnmächtig die eigene Misere beweine,22 so muss es jetzt heißen, dass es sich der Vergegenwärtigung dessen verweigert, was es ist, eine soziale Organisationsform, in der Gewaltverhältnisse die Lebensverhältnisse der Menschen bestimmen. Nicht einmal die späte Einsicht des Vaters Meister Anton, der als das Gravitationszentrum von Gewalt gelten kann, gesteht Hebbel seinem bürgerlichen Publikum zu, er verzichtet sogar auf die Exploration eines dramatischen Geschehens, das im kathartischen Erleben des Publikums seinen Abschluss fände. Der Verzicht auf die Potenz kathartischer Wirkung potenziert die Binnenperspektive. Der Verzicht auf die Befreiung vom Schmerz gesellschaftlicher Gewalt schafft erst das Bewusstsein vom eigenen Schmerz. Insofern liefert Hebbel einen sozialpsychologischen Tiefenschnitt gesellschaftlicher Verhältnisse, die vom Emanzipationsbegehren ihres Ursprungs nicht einmal mehr eine Erinnerung bewahren. Konkret heißt dies, LeidenschaftenLeidenschaften sind nicht mehr kathartisierbar, das Begehren ist nicht mehr diskursivierbar zum Zwecke der KatharsisKatharsis, die aufgeklärte Vernunft findet kein Ohr mehr, das sie hört, da kein Wort gesprochen wird, das vernommen werden könnte. Diese weniger restaurative, eher schon apokalyptische Vision entfaltet HebbelHebbel, Friedrich in seinem Stück. „Unser Gott Λόγος“23 ist ein Deus absconditus, die Abwesenheit des Vater-Wortes ist die Anwesenheit der Todesgewalt. Der unvernünftige, schreibunkundige Vater versteht die Welt nicht mehr (vgl. III/11)24, den alphabetisierten wissenden und verstehenden Kindern – Klara bewahrt bereits das Wissen um die Vielfalt der Möglichkeiten auf der Welt (vgl. II/4), wie sie das Kind ihrer Leidenschaft in ihrem Leib bewahrt – bleibt angesichts der realen Gewalt des Vaters nur die Flucht. Der Sohn ergeht sich in der Abenteuer und Ferne garantierenden Fluchtfantasie Seefahrt. Die Tochter hingegen segelt nicht auf dem Wasser, sie ertrinkt in ihm, nicht in der Ferne, sondern in der Nähe unter den Augen des Vaters. Und diesen lässt nicht die Gegenwart, sondern die Zukunft schaudern, er, der als einziger ein Glas Wasser durchs Mikroskop betrachtet hat (vgl. II/1) und dann nicht mehr trinken konnte. Doch trinken musste der Vater wieder, wenn er anders nicht sterben wollte, aber das Wort, das Tochter und Enkelkind tötet, hätte er nicht sprechen müssen: „Da sprach er [Meister Anton] ein Wort aus, das sie zur Verzweiflung trieb“ (III/11). Der Sekretär, dessen Beruf die Worte sind, entschleiert den verborgenen Gott Logos: „Denk Er nur an das, was Er ihr gesagt hat! Er hat sie auf den Weg des Todes hinaus gewiesen […]“ (III/11).
Ist LessingLessing, Gotthold Ephraims Miss Sara SampsonMiss Sara Sampson gewissermaßen der Holotypus des Bürgerlichen Trauerspiels, wonach sich also die Beschreibung der Gattung richtet, so ist Hebbels Maria MagdalenaMaria Magdalena das letzte Exemplar. Der Tod Klaras symbolisiert das Ende des Bürgerlichen TrauerspielsBürgerliches Trauerspiel. Logos und Leidenschaft werden nicht mehr empfindsamEmpfindsamkeit ausbalanciert oder pathetisch verhandelt. Die KatharsisKatharsis dient nicht mehr als Fluchtpunkt der Macht über das BegehrenBegehren. Nur noch Gewalt kann das literarische Trauerspiel beenden. Wird Literatur bzw. Kunst dekathartisiert, lassen sich fiktionale und nicht-fiktionale Konfliktkonstellationen nur noch gewaltsam lösen.
Die Katharsis ist keineswegs das, wozu die bürgerlichen Tragiker sie im Sinne eines Versöhnungsprogramms machen möchten, nämlich der Ort behüteter Affektmodellierung, wo sich gleichsam am Locus amoenus die LeidenschaftLeidenschaften das Gefieder putzt. Und gerade hier ist HebbelsHebbel, Friedrich Verzicht auf die Katharsis konsequent. In einer gesellschaftlichen Schicht, der es nicht mehr um Emanzipationsbegehren oder Trauerarbeit an verlorenen Utopien geht, sondern allein um die Stabilisierung von Herrschaftsanteilen, ist Katharsis de facto nicht mehr möglich. Vielleicht war die Katharsis in der Neuzeit schon immer ein Klassenphänomen, man denke nur an die Johann Gottlob Benjamin PfeilPfeil, Johann Gottlob Benjamin zugeschriebene Abhandlung Vom bürgerlichen TrauerspieleVom bürgerlichen Trauerspiele (1755) oder an den Briefwechsel über das TrauerspielBriefwechsel über das Trauerspiel zwischen LessingLessing, Gotthold Ephraim, MendelssohnMendelssohn, Moses und NicolaiNicolai, Friedrich, doch wird spätestens bei Hebbels Maria MagdalenaMaria Magdalena evident, dass es eine Versöhnung zwischen Logos und Leidenschaft, zwischen Macht und BegehrenBegehren in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts nicht geben kann. So ist ich auch Peter SzondisSzondi, Peter Bemerkung zu verstehen, dass Hebbels Denken einen Wendepunkt in der Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts markiere, „indem es noch den metaphysischen Weg des Idealismus geht, aber ohne das Wissen um den Sinn, in dessen Besitz der Weg einst angetreten wurde.“25 Von hier aus ist es ein weiter Weg bis zu Hans Robert Jauß’Jauß, Hans Robert Bestimmung der Katharsis als eine kommunikative Leistung ästhetischer Erfahrung neben Aisthesis und Poiesis.26 Erst die radikale Vernunftkritik NietzschesNietzsche, Friedrich wird die Möglichkeit einer neuen Funktionsbestimmung der Katharsis eröffnen, mündend in den psychoanalytischen Diskurs BreuersBreuer, Josef und FreudsFreud, Sigmund.27