Kitabı oku: «Rauhnacht», sayfa 2

Yazı tipi:

„Nur dann, wenn man dem Aberglauben der Bergleute skeptisch gegenübersteht.“

Gregor lachte laut auf. „Seit wann glaubst du an Spuk oder Hexerei?“

„Ich glaube an gar nichts. Daher bin ich für alles aufgeschlossen.“

„Ein interessantes Paradoxon. Aber zurück zum eigentlichen Thema. Es gibt keinen einzigen Ort in den Alpen, in dem sich die Bewohner gegen die Wilde Jagd im wahrsten Sinne des Wortes wappnen. Es gibt natürlich gewisse Bräuche, mit denen sich die Bewohner versuchen zu schützen. Aber nicht mit Pistolen, Gewehren, Schwertern und dergleichen. Die Rituale sind dadurch gekennzeichnet, dass als Dämonen verkleidete Männer durch die Straßen ziehen und Häuser aufsuchen, um deren Bewohner vor dem Bösen zu schützen. In manchen Gegenden achtet man auch darauf, dass nach Sonnenuntergang keine Kinder mehr auf den Straßen spielen. Aber damit hat es sich. Im Grunde genommen ist es ein Spiel, eine Art Karneval oder Fasching. Keiner hortet irgendwo Waffen, um sich gegen diese Bedrohung zu schützen.“

Titus zeigte ein flüchtiges Grinsen. „Die Leute von hier sind eben Pragmatiker.“

„Oder etwas völlig Anderes steckt dahinter. Ich hatte ein Gespräch mit dem Pfarrer. Der einzige Mann, der relativ aufgeschlossen mir gegenüber ist. Wahrscheinlich, weil er noch nicht lange die Gemeinde in diesem Ort leitet. Ich fragte ihn nach dieser Kammer. In der Tat zeigte er mir einen kleinen Raum, der ihm als Abstellkammer dient. Keine Waffen. Er lagert darin nur alte Kartons.“

„Wenn es nichts gibt, wieso hast du dann vorhin gemeint, es gebe zuviel zu untersuchen?“

„In der Kirche lagern alte Dokumente. Walter Dorn, der Pfarrer, hat sie sich noch nicht genau angesehen. Mir hat er jedoch erlaubt, die Schriften zu studieren. Auch hier in der Bibliothek gibt es ein paar Bücher, die für meine Arbeit wichtig sein könnten. Du siehst, ich stehe mit meinen Forschungen noch völlig am Anfang. Irgendetwas geht hier vor. Es kommt mir vor, als habe dieser Ort ein dunkles Geheimnis, das von seinen Bewohnern aufs strengste bewahrt wird. Wie gesagt, außer dem Pfarrer redet niemand mit mir. Und Dorn weiß so gut wie nichts über die Geschichte des Ortes.“

Titus und sein Freund saßen noch bis kurz vor Mitternacht am Kamin. Da Titus bereits ein paar Mal in seinem Stuhl beinahe eingeschlafen war, beschlossen sie, sich beim Frühstück weiter zu unterhalten.

Als Titus wieder sein Zimmer betrat, ließ er das Licht zunächst aus und ging zur Balkontür. Der Friedhof lag ruhig und vergessen inmitten der Winterlandschaft. Die Berge waren in der nächtlichen Dunkelheit nicht mehr zu erkennen.

Er öffnete die Tür und trat hinaus auf den Balkon. Die Kälte erfrischte ihn. Noch immer wehte ein Wind. Im gesamten Ort herrschte eine fast gespenstische Stille. Es gab nur ein einziges Geräusch, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein regelmäßiges Hämmern und Schlagen, so als wären mitten in der Nacht mehrere Zimmerleute am Werk.

Titus dachte an die großen Holzstämme. Gregor hatte wahrscheinlich Recht. Tiefenfall hatte ein Geheimnis.

4

Als Titus erwachte, war es draußen bereits hell. Er warf einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr, die er neben dem Bett auf den niedrigen Kasten gelegt hatte. Es war kurz nach Zehn. Die Fahrt hatte ihn wohl mehr erschöpft, als er angenommen hatte. Schnell stieg er aus dem Bett, duschte sich und verließ das Zimmer.

Aus der Küche hörte er ein emsiges Klappern von Töpfen. Lisa hatte demnach wieder ihren Posten als Haushälterin aufgenommen. Als er das Speisezimmer betrat, stellte er überrascht fest, dass Gregor nicht am Tisch saß. Es war lediglich für eine Person gedeckt. In einem Korb lagen fünf Brötchen. Es gab mehrere Marmeladen zur Auswahl, dazu Honig und Schinken. Eine Kanne Kaffee stand auf einem Porzellanstövchen mit kitschigem Blumenmuster. Neben dem Teller lag eine zusammengefaltete Tageszeitung.

Titus setzte sich. Ohne sich weiter über den Verbleib seines Freundes Gedanken zu machen, nahm er sich ein Brötchen, schnitt es auf und bestrich es mit Butter und Erdbeermarmelade.

Gerade als er sich Kaffee einschenken wollte, sagte eine sanfte Stimme hinter ihm: „Herr Kranz ist bereits außer Haus.“

Titus drehte sich um.

In der Tür zur Küche stand eine überaus hübsche Frau. Als Titus die Bezeichnung Haushälterin vernommen hatte, war in ihm das Bild einer kleinen, buckligen Alten entstanden, welche die Atmosphäre mit ihrer griesgrämigen Laune vergiftete. Die schlanke Frau, deren Äußeres eine irritierende Sinnlichkeit ausstrahlte, erstaunte ihn. Sie betrachtete ihn mit einer interessanten Mischung aus Neugierde und Zurückhaltung. Sie hatte langes, schwarzes Haar und kastanienbraune Augen. Ihre Kleidung bestand aus einer orangeroten Bluse und einer blauen Jeans. Sie faltete ihre Hände wie zum Gebet.

„Hat er gesagt, wohin er wollte?“, fragte Titus. Er hatte ganz vergessen, dass er noch immer die Kanne in der Hand hielt.

„Ich glaube, zum Bahnhof, um seine Assistentin abzuholen.“

Titus’ Stimmung verdüsterte sich augenblicklich. „Sie kommt schon in der Früh?“

„Das dürfte wohl der Fall sein.“

Titus wandte sich wieder seinem Frühstück zu. Er trank einen Schluck Kaffee und biss daraufhin in das Brötchen.

„Ich hoffe, es schmeckt Ihnen.“

Titus drehte sich wieder um.

Die Frau wirkte auf eine merkwürdige Art verunsichert. Zugleich schien sie darauf aus zu sein, mit Titus ein kurzes Gespräch zu führen.

„Schmeckt sehr gut“, antwortete er. „Ist die Marmelade von Ihnen?“

Ein zurückhaltendes Grinsen huschte über ihre Lippen. Sie trat an den Tisch, wobei sie sich hinter einen der Stühle stellte und dessen Lehne festhielt. „Alle Marmeladen sind von mir. Die Rezepte stammen von meiner Mutter.“

Titus nickte. „Wirklich gut. Mein Name ist übrigens Titus Hardt.“

„Der Schriftsteller, ich weiß.“

Titus hob seine Augenbrauen. „Sie haben schon etwas von mir gelesen?“

„Um ehrlich zu sein, nein. Aber Herr Kranz erzählte mir bereits viel über Sie. Was schreiben Sie denn?“

„Lesbenthriller.“

Die Frau errötete. „Und … können Sie davon leben?“

„Noch“, antwortete Titus. „Ich befinde mich zurzeit in einer Schaffenskrise. Seit mehreren Wochen bringe ich nichts mehr zustande. Es kommt mir vor, wie wenn ich von einer Sekunde auf die andere das Schreiben verlernt hätte.“

„Das tut mir Leid.“

Titus nickte. „Wenn ich nicht mehr schreiben kann, kann ich klarerweise nicht mehr davon leben.“

„Wahrscheinlich klingt meine Frage sehr aufdringlich, aber gibt es einen Grund dafür?“

„Dass ich nicht mehr schreiben kann?“ Titus trank einen Schluck, bevor er fortfuhr: „In der Tat, den gibt es. Meine Muse hat sich auf und davon gemacht. Eine Frau namens Elvira Mohn. Genauso wie in einem kitschigen Drama.“

Die Haushälterin schwieg. Sie betrachtete verunsichert die Tischoberfläche. Schließlich sagte sie: „Ich bin übrigens Lisa Bardin. Sie können mich einfach Lisa nennen. Ich … Nun ja, ich verwalte dieses Haus.“

Titus hielt im Kauen kurz inne. „Das ist ja interessant. Gregor meinte nämlich, er wisse nicht, wer vor ihm in diesem Haus gewohnt habe.“

„Das stimmt auch. Herr Kranz hat sich lediglich gewundert, weswegen das Haus leer stand.“

„Und weswegen stand es leer?“ Titus ließ Lisa bei der Frage nicht aus den Augen.

Die Haushälterin wich seinem Blick aus. „Die Leute glauben, dass es hier spukt. Deswegen stand es die ganze Zeit über leer.“

„Oh, der Friedhof lässt grüßen.“

„Das ist es wahrscheinlich“, erwiderte Lisa schnell. „In diesem Sinne liegt das Haus wirklich ungünstig. Es gehört meiner Familie seit mehr als zweihundert Jahren.“

„Tatsächlich? Und aus welchem Grund leben Sie mit Ihren Angehörigen nicht darin?“

„Ich lebe alleine. Mein Mann hat mich vor drei Jahren verlassen. Und meine Eltern leben nicht mehr. Was soll ich also alleine in solch einem großen Haus?“

Titus zuckte bei dem Wort Mann leicht zusammen. Er schätzte Lisa auf Anfang dreißig. Wieso verließ jemand eine solch hübsche Frau? „Haben Sie Kinder?“

„Nein.“

Titus stopfte sich den Rest des Brötchens in den Mund. Nachdem er es mit einem Schluck Kaffee hinuntergespült hatte, sagte er: „Gregor hat behauptet, dass sich so gut wie keine Touristen nach Tiefenfall verirren. Ist das richtig?“

„Touristen suchen Sie hier vergeblich. Sie und Herr Kranz sind seit längerer Zeit die ersten Besucher, die wir in diesem Ort haben.“

Titus schüttelte den Kopf. „Ein seltsames Kaff.“

Lisa betrachtete ihn furchtsam. „Wie meinen Sie das?“

„Gestern beobachteten wir eine Gruppe Männer, die Pfähle an die Nordseite des Ortes trugen. Gregor zufolge errichten sie dort einen Zaun.“

Die Haushälterin verkrampfte ihre Hände, sodass sie wie zwei weiße Knorpel wirkten, die aus der Stuhllehne ragten. „Ich habe davon gar nichts mitbekommen.“

Titus stand auf. Es war offensichtlich, dass Lisa nicht die Wahrheit sagte. „Vielleicht sehe ich mir heute Vormittag die Konstruktion einmal an.“

Lisa trat abrupt hinter ihrem Stuhl hervor. „Tun Sie das lieber nicht, Herr Hardt. Die Leute mögen es nicht, wenn man sich in ihre Angelegenheiten einmischt.“

„Dann erklären Sie mir, was hier vorgeht.“

„Sie hätten besser gar nicht nach Tiefenfall kommen sollen. Das ist das Einzige, was ich Ihnen sagen kann. Sie sollten in den nächsten Zug steigen und von hier wieder verschwinden. Zusammen mit Herrn Kranz.“

„Wollen Sie damit andeuten, dass wir in irgendeiner Gefahr schweben?“

Lisa trat zurück an die Küchentür. „Bald wird es zu spät sein.“ Damit ließ sie Titus alleine.

5

Als Titus das Haus verließ, vernahm er aus der Küche wieder das Klappern der Töpfe. Es fiel ihm schwer, Lisas Bemerkungen aus dem Kopf zu bekommen. Welche Art von Gefahr hatte sie gemeint? Titus bezweifelte, eine Antwort zu erhalten, wenn er die Küche aufsuchte, um sie danach zu fragen. Lisa war eigenartig. Mindestens soviel stand fest. Dennoch musste er sich eingestehen, dass ihn ihre Erscheinung faszinierte.

Vor dem Haus zündete er sich eine Zigarette an. Die Kälte schnitt wie eine Rasierklinge in sein Gesicht. Der Schnee blendete in den Augen, obwohl der Himmel mit graublauen Wolken verhangen war.

Er hatte vor, einen Rundgang durch den Ort zu machen, bevor Gregor mit seiner Assistentin zurückkam. Vielleicht führte ihn sein Spaziergang auch in die Nähe des obskuren Zauns, den die Bewohner aus Holzstämmen errichteten.

Während er rauchte, fiel sein Blick auf den Friedhof, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag. Der Schnee, der in der Nacht gefallen war, hatte auf den ungepflegten Hecken einen weißen Wall errichtet. Er wusste nicht, was er sich davon versprach, doch als er seine Zigarette ausdrückte, beschloss er, dem Gottesacker einen kurzen Besuch abzustatten. Er kannte einen Autor, der sich von Grabsteinen inspirieren ließ. Vielleicht hatte Titus ja dieses Mal auch Glück und kam beim Anblick der Gräber auf eine neue Romanidee.

Er überquerte die verlassene Straße und öffnete das schwarz lackierte Tor. Die moosbedeckten Grabsteine mit der windschiefen Kapelle im Hintergrund erschienen wie das Motiv für das Plakat eines klassischen Gruselfilms. Gelegentlich ragten verwitterte Skulpturen in Form trostloser Engel aus dem Schnee.

Während Titus an den Gräbern vorbeischlenderte las er die Namen der Verstorbenen. Seltsamerweise stand auf mehreren Grabsteinen dasselbe Sterbedatum: 25.12.1981. Hatte damals eine Epidemie den Ort heimgesucht? Vor einem der Grabsteine blieb er abrupt stehen. Bardin. Besaß nicht die Haushälterin denselben Nachnamen? Tim Bardin 1952-1981 und Anna Bardin 1950-1981. Unterhalb dieser beiden Namen stand: Thomas Bardin. 1979-1981. Es musste sich dabei um den Sohn der beiden handeln. Lisas Eltern und ihr Bruder waren hier begraben. Er zog seinen Mantel fester, da es ihn plötzlich fröstelte.

Er spazierte weiter bis zur Kapelle. Die Holztür hing schräg in den Angeln. Dem Aussehen nach hatte sich nie jemand die Mühe gemacht, diese zu reparieren. Er drückte dagegen. Sie öffnete sich, wobei sie über den Steinboden schabte. Fünf hölzerne Kirchenbänke reihten sich hintereinander. Am gegenüberliegenden Ende stand ein Altar. Darüber hing ein schweres Steinkreuz. Es gab keine Verzierungen, nichts, das sich lohnte, näher in Augenschein zu nehmen. Also schloss er die Tür wieder und drehte sich um.

Titus zuckte zusammen. Er blickte direkt in das mürrische Gesicht eines alten Mannes. Der Kerl musste sich regelecht von hinten angeschlichen haben. Er trug eine dunkelblaue Wollmütze und einen schäbigen Anorak. Sein grauer Stoppelbart verlieh ihm ein ungepflegtes Aussehen.

„Was machen Sie hier?“, fuhr ihn der Mann an.

Titus versuchte, sich seinen Schrecken nicht anmerken zu lassen. „Mich umsehen.“

„Sich umsehen? Wer sind Sie überhaupt? Ich kenne Sie nicht.“

Titus begann sich, über diese grobe Art zu ärgern. „Darf ich fragen, wer Sie sind?“

„Sie sind fremd hier, nicht wahr?“, fuhr der Mann fort, so als ob er Titus’ Frage nicht gehört habe. „Fremde in Tiefenfall sind nicht gut. Wir mögen keine Leute von außerhalb. Besonders nicht, wenn sie sich auf unserem Friedhof aufhalten.“

Titus räusperte sich. „Gibt es dafür auch so etwas wie eine Erklärung?“

Der Mann glotzte Titus verdutzt an. „Eine Erklärung? Hören Sie, junger Mann, ich weiß noch immer nicht, wer Sie sind und was Sie hier wollen. Daher rate ich Ihnen, sich von hier fernzuhalten.“

Titus trat an dem Mann vorbei auf die Reihe von Grabsteinen zu, in welche dasselbe Sterbedatum eingemeißelt worden war. „Können Sie mir nicht einmal sagen, weswegen so viele Leute an Weihnachten einundachtzig gestorben sind?“

Die Augen des Mannes funkelten zornig. „Wer sind Sie? Ein verdammter Reporter? Hauen Sie von hier ab!“

„War nur eine Frage“, erwiderte Titus, drehte sich um und verließ den Friedhof.

Um auf der rutschigen Straße in den Ort zu kommen, benötigte er mehr als fünfzehn Minuten. Kein Mensch kam ihm entgegen. Wenn er Glück hatte, traf er in Tiefenfall auf Gregor, damit er sich den Fußmarsch zurück ersparte. Vielleicht wusste sein Freund noch nichts darüber, dass es am ersten Weihnachtstag 1981 auffällig viele Sterbefälle gegeben hatte. Normalerweise hätte er ihn mit seinem Handy anrufen können. Gregor aber gehörte zu einer Minderheit von Handy-Gegnern. Daher blieb Titus nichts anderes übrig, als abzuwarten.

Er kam nicht gerade an vielen Geschäften vorbei. Es gab unter anderem ein kleines Antiquariat, das jedoch geschlossen hatte. Titus blieb kurz vor dem Schaufenster stehen, in dem Bücher über Geister- und Hexenglauben auslagen. Anscheinend beschäftigten sich nicht wenige Leute mit Esoterik.

„Was auch immer das zu bedeuten hat“, murmelte Titus vor sich hin.

Endlich erreichte er das Ortszentrum von Tiefenfall. Direkt vor ihm ragte die Kirche wie ein abstruses Artefakt aus dem mit unebenen Pflastersteinen belegten Platz. Ihre schmutzigbraune Fassade sowie die gotischen, teils blinden Fenster trugen nicht gerade dazu bei, dass er sich in dieser Gegend wohl fühlte. Erst jetzt erkannte er auf dem Kirchturm eine dornenähnliche Spitze. Auch auf dem Dach des Kirchenschiffes ragten in regelmäßigen Abständen große, silberfarbene Dornen in die Höhe. Diese Auffälligkeiten machten ihn neugierig.

6

Im selben Augenblick, als Titus das unverzierte Kirchenportal öffnete, wurde er von einem dicken, kräftigen Mann zur Seite gestoßen, der die Kirche in rasendem Tempo verließ.

„Gehen Sie aus dem Weg, verdammt!“

Titus schaute dem Mann überrascht nach. Er trug einen dunkelgrauen Anzug und um seinen Hals hatte er einen rotbraunen Wollschal gewickelt. Die Kälte schien ihm nichts auszumachen, ansonsten hätte er wohl einen Mantel getragen. Sichtbar verärgert stapfte er über den rutschigen Platz und verschwand schließlich in einer schmalen Straße.

Sein Gesicht hatte Titus nicht richtig erkennen können. Er glaubte aber, sich an einen dichten Schnauzbart zu erinnern sowie an eine breite Nase. Er zuckte mit den Schultern und betrat die Kirche.

Vor ihm erstreckte sich ein breites Kirchenschiff. Es gab keine Säulen. Das Längsschiff sowie der Chor wirkten wie aus einem Guss. Rechts und links verliefen zwei Bankreihen. Es roch nach Weihrauch und altem Gemäuer.

Direkt neben dem Altar erhob sich ein Weihnachtsbaum, der von zwei Männern geschmückt wurde. Ein Adventskranz stand auf einem Stahlgestellt, das Ähnlichkeiten mit einem Folterinstrument besaß. Neben dem Eingang lagen auf einem Tisch mehrere Faltzettel. Einer davon trug die Überschrift St. Georg – Geschichte unserer Kirche. Der Inhalt des kurzen Textes erwies sich als mehr oder weniger belanglos. Der Architekt der Kirche war unbekannt.

Der Bau wurde zum ersten Mal in einem Dokument aus dem achten Jahrhundert erwähnt. Das einzig wirklich Interessante an der Kirche hatte mit einem Wandgemälde zu tun, das auf der Nordseite angebracht war. Kunsthistorikern zufolge stammte es aus dem 15. Jahrhundert. Der Künstler konnte bisher nicht identifiziert werden, nach Art des Gemäldes aber könnte es sich um einen Maler aus dem Umfeld von Hieronymus Bosch handeln.

Titus legte den Zettel zurück auf den Tisch. Die beiden Männer waren weiterhin in ihre Arbeit vertieft. Er spazierte an den Holzbänken vorbei und hielt nach dem erwähnten Gemälde Ausschau. Ob Gregor davon wusste? Wahrscheinlich. Immerhin hatte sein Freund bereits mit dem Pfarrer Bekanntschaft geschlossen und demzufolge die Kirche bereits aufgesucht.

Nach wenigen Metern blieb Titus stehen. Das Kunstwerk besaß größere Ausmaße, als er sich vorgestellt hatte. Es war etwa zwei Meter hoch und einen Meter breit. Direkt daneben befand sich eine aus Holz geschnitzte Figur des Heiligen Georg, der mit einer Lanze den Hals eines Drachen durchbohrte. Die Farbe war fast vollkommen abgeblättert. Die Schnitzarbeit wirkte unbeholfen.

Titus richtete seine Aufmerksamkeit auf das Gemälde. Es zeigt eine kleine Stadt oder ein Dorf, dessen Bewohner von einer Horde Dämonen heimgesucht wurde. Die Ungeheuer saßen rittlings auf den Dächern der Gebäude, jagten Menschen durch den Ort, fraßen Kinder und brieten Körperteile über Lagerfeuern. Manche Personen wurden von den Angreifern durch die Luft gezerrt. Die vor Schreck verzerrten Gesichter der Betroffenen ließen erahnen, dass diesen der Spaß rein gar nicht gefiel.

Das Werk zeichnete sich durch seine durchweg düsteren, bis ins Schwarz hineingehenden Farben aus. Die Augen der Dämonen besaßen auch nach Jahrhunderten ein glühendes Rot. Manchmal ähnelten ihre Gesichter denen verwester Leichname, manchmal waren sie halb menschlich, halb tierisch und dann gab es welche, deren bizarres Aussehen Titus nicht einordnen konnte.

„Ein interessantes Gemälde, nicht wahr?“

Der Mann, der auf einmal neben ihm stand, erwies sich als einer der beiden, die vorhin den Christbaum geschmückt hatten. Mit Ausnahme seines weißen Priesterkragens war er ganz in Schwarz gekleidet. Das Hemd und die Hose, die aufgrund ihres Schnitts eine gewisse konservative Strenge ausstrahlten, passten nicht zu seinem jungen Aussehen und seiner modischen Frisur.

„Der Künstler ist tatsächlich unbekannt?“, hakte Titus nach.

„Sie haben also bereits unser Faltblatt studiert“, bemerkte der Mann mit einem süffisanten Grinsen. „Es stimmt. Kunsthistoriker können dieses Werk niemandem zuordnen. Allerdings befürchte ich, dass die Wissenschaftler gerade aus diesem Grund das Bild für belanglos halten.“

„Hat es Ihrer Meinung nach einen gewissen Wert?“

Der Mann legte den Kopf leicht schief. „Nun, es ist Teil unserer Kirche. Daher besitzt es jedenfalls für mich einen bestimmten Wert, auch wenn dieser rein persönlicher Natur ist. Mein Name ist übrigens Walter Dorn. Ich bin der Pfarrer dieser Gemeinde.“

Titus schüttelte ihm die Hand. „Titus Hardt. Wahrscheinlich kennen Sie meinen Freund Gregor Kranz.“

Dorn öffnete überrascht die Augen. „Aber ja! Sind Sie etwa auch Volkskundler?“

„Ich bin Schriftsteller. Gregor hat mich über Weihnachten zu sich eingeladen. Wir wohnen in dem Haus neben dem Friedhof.“

„Ich weiß, das Haus der Bardins. Wahrscheinlich sind Sie Lisa bereits begegnet.“

„Ich hatte ein kurzes Gespräch mit ihr.“

Der Pfarrer seufzte. „Arme Lisa. Sie tut mir richtiggehend leid. Sie ist völlig alleine.“

„Ihr Mann hat sie verlassen“, bemerkte Titus.

Dorn machte ein betroffenes Gesicht. „Nicht nur das. Ihre Eltern sind ums Leben gekommen als sie noch ein kleines Kind war. Aber trotz ihrer Schicksalsschläge lässt sie sich nicht unterkriegen. Sind Sie vielleicht schon in den Genuss Ihrer Kochkunst gekommen?“

„Sie kocht gut. So viel steht fest.“

Dorn lachte auf. „Gut? Sie kocht erstklassig. Und das Beste daran ist, es sind ihre eigenen Rezepte. Wirklich schade, dass es in Tiefenfall keine Touristen gibt. Wenn schon nicht unsere Kirche, so würde Lisas Küche die Besucher scharenweise hierher locken.“

„Sie kennen Gregors Haushälterin anscheinend recht gut.“

Dorn errötete leicht. „Sie backt die Kuchen für unsere diversen Feiern. Sonst aber mischt sie sich nur ungern in das Leben unserer Gemeinde ein. Das große Bild in ihrem Haus. Haben Sie es bereits gesehen?“, wechselte er abrupt das Thema.

„Sie meinen das mit dem Wald und der dunklen Wolke?“

„Es stammte von ihrem Vater. Er war Künstler.“

Titus betrachtete wieder das Gemälde. „Künstler.“

„Tim Bardin. Anscheinend zählte er sich zu den Surrealisten. Genau kann ich es Ihnen nicht sagen. Vielleicht hat Herr Kranz bereits erwähnt, dass ich mich erst seit etwas mehr als einem Jahr in Tiefenfall aufhalte.“

„Das hat er. Sie wissen demnach nichts von den Gerüchten, die sich um diesen Ort ranken?“

Dorn schaute flüchtig in Richtung des Weihnachtsbaums. Der andere Mann war noch immer dabei, Strohsterne an die Zweige zu hängen. „Herbert ist zum Glück taubstumm. Aber ich muss Sie dennoch warnen, nicht so laut darüber zu sprechen. Die Bewohner kennen in dieser Hinsicht keinen Spaß.“

„Können Sie mir erklären, wieso?“

Dorn richtete seinen Kragen, so als würde er ihn zu sehr drücken. „Genau kann ich Ihnen das nicht sagen. Es ist nur so, dass sich die Bewohner zwischen Weihnachten und Dreikönig recht eigenartig verhalten. Es hat etwas mit Aberglauben zu tun. Sie errichten Feuer, feiern seltsame Rituale und …“

„Und bauen eine Palisade aus Eichenstämmen“, beendete Titus den Satz.

„In meinen Augen ein nicht weniger heidnisches Ritual. Kennen Sie die volkstümliche Bedeutung der Eiche?“

Titus schüttelte den Kopf.

„Sie soll vor dem Bösen schützen.“

„Und aus welchem Grund errichten sie den Zaun auf der Nordseite?“

Dorn deutete auf das Gemälde. „Ich befürchte, aus demselben Grund, weswegen sich dieses Bild an der Nordwand befindet. Mehr kann ich allerdings nicht dazu sagen.“

Titus erschauerte. Erst jetzt fiel ihm eine weitere Eigentümlichkeit des Gemäldes auf. Diese hatte mit der mysteriösen Lebendigkeit zu tun, die von den Figuren ausging. Es machte nicht den Eindruck, als hätte der Maler seiner Fantasie freien Lauf gelassen. Vielmehr erschien es, als hätte er etwas geschaffen, was er mit eigenen Augen gesehen hatte. „Kam es letzte Weihnachten zu ähnlichen Reaktionen unter den Bewohnern?“

Dorn überlegte kurz. „Es herrschte eine gewisse Anspannung. Die Leute versteckten sich in ihren Häusern und gingen nur hinaus, wenn es unbedingt sein musste. Das heißt, wenn ich genau überlege, kam es zu ein paar seltsamen Zwischenfällen.“ Er hielt kurz inne. „Drei Kinder verschwanden spurlos. Mir persönlich sind die Gründe dafür unklar. Sie tauchten jedenfalls nicht wieder auf. Damals schlug ich vor, die Polizei einzuschalten. Doch mein Vorschlag stieß auf strickte Ablehnung.“

„Sagten die Betroffenen auch, weshalb?“

Vom Chorraum ertönte ein lautes Stöhnen. Herbert stand neben dem Christbaum und deutete energisch auf denselben.

Dorn zeigte ein sanftmütiges Lächeln. „Er ist mit dem Schmücken fertig. Es tut mir Leid, dass ich unser Gespräch hier abrupt beenden muss. Aber ich darf Herbert nicht weiter warten lassen. Er wird schnell unwirsch.“ Dorn reichte Titus die Hand. „Es hat mich sehr gefreut, Sie kennen zu lernen, Herr Hardt. Grüssen Sie Herrn Kranz von mir. Und sagen Sie auch Lisa schöne Grüsse.“ Er machte kehrt und eilte zu dem taubstummen Mann.

Titus blieb noch einer Weile vor dem unheimlichen Gemälde stehen. Es fiel ihm schwer, das eben geführte Gespräch einzuordnen. Er gehörte nicht zu den Leuten, die alles für bare Münze nahmen. Im Gegenteil, Titus gehörte zu den Zweiflern und Skeptikern. Andererseits besaß er genug Toleranz, um nicht sogleich Dinge als absurd abzutun, nur weil er sie nicht verstand. Er glaubte weder an das Übernatürliche noch glaubte er nicht daran. Er wusste einfach nicht, ob es Dinge dieser Art gab. So lange es weder Beweise dafür noch dagegen gab, lag alles, was damit zu tun hatte, im Bereich des Möglichen.

Dennoch konnte er nicht verhindern, dass er sich in diesem Ort nicht sonderlich wohl fühlte. Was passierte in Tiefenfall zwischen Weihnachten und Dreikönig? Eigentlich hatte sich Titus mit Gregors Forschung nicht weiter abgeben wollen. Nun aber kreisten seine eigenen Gedanken um dieses Thema. Was hatten die verschwundenen Kinder zu bedeuten? Waren sie vielleicht längst wieder aufgetaucht, ohne dass Dorn etwas davon mitbekommen hatte? Kinder spielten gerne Streiche. Gelegentlich büchsten sie auch von zuhause aus.

Titus holte einmal tief Luft und stieß den Atem langsam aus. Er sollte erst einmal einen Kaffee trinken, um sich aufzuwärmen.

Als er vor der Kirche stand, konnte er beim besten Willen nicht sagen, durch welche der Gassen er auf den Platz gekommen war. Aber egal. Um seinen Rückweg zu finden, hatte er noch genug Zeit. Im schlimmsten Fall konnte er den Pfarrer fragen. Zunächst brauchte er etwas Warmes zu trinken. Er entdeckte ein Café, das sich ihm direkt gegenüber befand, und schlenderte darauf zu.

Die Glastür wurde plötzlich aufgerissen.

„Titus!“ Gregor stand am Eingang des Cafés und winkte ihm zu. „Ich hab dich gerade durch eines der Fenster gesehen.“

Er versuchte, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen. „Ich dachte, du holst, deine Freundin ab.“

„Sie sitzt da drinnen.“

Titus zögerte. „Dann lasst euch nicht stören.“

Gregor lachte auf. „Du wirst sie sowieso kennen lernen. Wieso also nicht gleich jetzt?“

Titus suchte vergeblich nach einer Ausrede. „Da hast du auch wieder Recht.“

„Bist du den ganzen Weg hierher zu Fuß gekommen?“, wollte Gregor wissen, als mit Titus das Café betrat.

Der Duft nach Kaffee und Sahnetorten schlug ihm entgegen. „Geflogen bin ich jedenfalls nicht.“

Gregor lachte. „Eine dumme Frage, ich weiß.“

„Ich habe mit dem Pfarrer gesprochen.“

Sein Freund blieb stehen. „Du warst in der Kirche?“

„Hätte ich nicht sollen?“

„Doch, doch. Natürlich.“

„Das Gemälde …“

Gregor wies ihn mit einer flüchtigen Handbewegung an, zu schweigen. „Nicht jetzt“, flüsterte er. „Später können wir darüber reden.“ Darauf setzte er sich wieder in Bewegung.

Titus zuckte mit den Schultern und folgte ihm. Die Inneneinrichtung verblüffte durch ihr Jugendstildesign. Ein völliger Gegensatz zu dem mittelalterlichen Ambiente des Ortes.

Gregor steuerte auf einen der Tische zu, die direkt neben dem Fenster standen. Eine junge Frau saß dort und blätterte in einem Buch.

„Das ist Theresa“, stellte Gregor sie ihm vor.

Gregors Assistentin blickte auf und zeigte dabei ein entspanntes Grinsen. Sie trug einen engen braunen Pullover, der ihre Rundungen voll zur Geltung brachte. Ihr langes, blondes Haar reichte ihr bis über die Schultern. Ihr dunkler Lidschatten und ihre kirschroten Lippen erhöhten ihre attraktive Ausstrahlung.

Sie reichte Titus die Hand. „Nett, Sie kennen zu lernen, Herr Hardt.“

Titus versuchte, nicht auf ihren Busen zu schielen. „Ganz meinerseits.“ Er setzte sich. Die plötzliche Wärme, die ihn umgab, juckte auf seiner Haut. Er bestellte sich eine Tasse Kaffee.

„Keinen Kuchen?“, wunderte sich Gregor.

„Ich hasse Süßkram.“

„Gregor erwähnte, dass Sie Schriftsteller sind“, eröffnete Theresa pflichtbewusst die Konversation.

„Ich versuche damit, mein Geld zu verdienen.“

Theresa runzelte die Stirn. Seine Antwort war wohl etwas zu grob ausgefallen.

„Er ist manchmal ein bisschen griesgrämig“, schaltete sich Gregor in das Gespräch ein. „Aber man gewöhnt sich relativ schnell daran.“

Theresa lächelte wieder, wenn auch etwas verunsichert. „Sie sind erst gestern hier angekommen?“

Titus hasste solche rhetorischen Fragen. Mit Sicherheit wusste sie die Antwort schon. Wahrscheinlich hatte ihr Gregor bereits seine ganze Biographie erzählt. „Gregor lud mich ein, über Weihnachten hier zu bleiben. Allerdings frage ich mich, ob ich die Einladung inzwischen nicht bereue.“

„Oh.“

„Ich glaube, mit dem Ort stimmt etwas nicht.“

Gregor forderte ihn mit einer Geste auf, leiser zu sprechen. „Du befindest dich gerade in der Höhle des Löwen, Titus. Wieso schreist du nicht gleich deine Bedenken laut heraus, sodass alle es mithören können?“

„Also gut, ich war auf dem Friedhof“, flüsterte Titus.

„Auf dem Friedhof?“, staunte Gregor.

„Wieso nicht? Ich dachte, vielleicht würden mich die alten Gräber auf irgendeine neue Idee bringen. Aber nichts dergleichen. Stattdessen stellte ich etwas recht Sonderbares fest. Am ersten Weihnachtstag 1981 kam es hier zu mehreren Todesfällen.“

„Ist das wahr?“ Theresa betrachtete Titus erschrocken.

„Irgend so ein Typ aus dem Ort lauerte mir auf dem Friedhof auf. Ich fragte ihn, ob er wisse, was damals geschehen sei. Er sagte nur, ich solle abhauen.“

Gregor meinte: „Das Gespräch sollten wir besser zuhause weiterführen. Reden wir so lange lieber über etwas Anderes.“

„Und sieh dir einmal diese bizarren Dornen auf dem Kirchendach an …“

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