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DAS ANDERE LEBEN - November 1986
Die Sonne an diesem Morgen und die Aussicht auf die Ankunft des Koffers mit Post aus der Heimat brachten neue Zuversicht. Ein stilles Abkommen mit den Piloten der angolanischen Fluggesellschaft TAAG bescherte uns einmal wöchentlich die schnelle Beförderung der heiß ersehnten Post, die mit der Interflugmaschine aus Berlin-Schönefeld zur Botschaft in Luanda befördert wurde und nach der Kontrolle durch deren Sicherheitsdienst mehr oder weniger rasch von angolanischen Piloten auf den Weg in die Provinzen gebracht wurde.
Manchmal war der Koffer verschwunden. Zumeist tauchte er aufgebrochen und ramponiert irgendwann wieder auf. Bisweilen aber blieb er verschwunden. Abgesehen vom Wert des Koffers war der Inhalt für Diebe unergiebig, für uns aber unersetzbar. Niemand wusste, welche Nachrichten aus der Heimat verlorengegangen waren. Briefe aus der Heimat waren die einzige Chance, mit unseren Familien in Kontakt zu bleiben. Telefone gab es für uns nicht, und auf meine angolanische Nachbarin Rosa konnte ich mich entweder nicht verlassen, oder auch sie hatte bei diesem Telefonnetz keine Chance. Zweimal hatte ich sie gebeten, für mich anzurufen, aber es gab nie einen Erfolg. Die deutsche Gruppe verfügte über ein Funkgerät, aber das diente nur der Übermittlung von Zustandsberichten der mitgereisten Staatssicherheitsleute an deren Dienststellen in der Hauptstadt oder für einen absoluten Notfall. Die anderen Informanten, die es in der Gruppe gab, und von denen wir wussten oder vermuteten, schrieben wöchentlich Briefe an ihre Dienststellen in der Heimat.
An diesem Tag gab es per Funk ein Avis aus Luanda. Sobald die Boeing 707 vom Inlandsverkehr im Anflug auf die Stadt war, machte sich Björn, unser Sicherheitsmann, auf den Weg zum Flugplatz. Der lag fünf Kilometer östlich vom Stadtrand entfernt. Björn ging keiner anderen Arbeit nach, als die dreißig Leute der Gruppe zu «beschützen». Ihn unterstützten dabei im Wechsel jeweils andere Angehörige der Staatssicherheit, die stets nur sechs Monate im Land blieben. Björn wohnte mit seiner Frau Yvonne über uns und sie blieben mehrere Jahre hier.
Noch war die Luft kühl. Auf der Ostseite wärmte die Sonne bereits die Balustrade, zu der die Wohnungstüren zeigten. Die spartanisch eingerichtete Küche hatte eine separate Tür. Vor dem Sieg der Revolution hielt man auf diese Weise die Dienstboten aus dem Wohnbereich der portugiesischen Herrschaften fern. Diese Küchentür benutzte ich nur, um Björn beim Wasserzapfen den kürzesten Weg zu ermöglichen, oder manchmal, wenn mein Brotteig schon am Morgen mit einem Tuch bedeckt auf einem Hocker in der warmen Sonne stand. Das war an diesem Tage der Fall.
Zum Osten hin lagen die Hütten eines der vielen bairros zwischen dichtem Grün. Nur vereinzelt konnte man sehen, wie das Leben da unten zu erwachen begann. Umso erdrückender für mich die Gewissheit, auf dieser Seite sehr nah am Elend zu sein. Auch wenn es die Augen nicht direkt sahen, das Elend und der tägliche Tod schlichen in mein Gemüt, zerkratzten die Seele und das Gewissen, hier zu sein und doch nicht genug zu tun.
Was aber war genug, und wo sollte man beginnen? So wie es keinen Anfang gab, würde es kein Ende geben.
Ich riss mich los vom Anblick der dichten Bambusbüsche. Wie immer würde ich im unüberschaubaren Durcheinander die Hütte der Trauernden nicht herausfinden, wo mir am Abend das laute Wehklagen der komba diesen Schrecken versetzt und des Nachts den Schlaf geraubt hatte. Ich lief zur West-Seite der Wohnung und trat auf den Balkon. Nirgendwo auf der nach beiden Seiten ansteigenden Straße hatte sich ein langer, unfreiwilliger Leichenzug hinter einem dahin schleichenden Lastwagen gebildet. Der Weg zum Friedhof war weit. Er lag auf einer Anhöhe, einst außerhalb der Stadt. Heute war er längst umringt, geradezu eingeschnürt von den Elendsvierteln. Man begrub die Toten dicht an dicht in erschreckender Einfachheit. Nur selten zeigte ein Holzpflöckchen die Stätte der letzten Ruhe, die von Unkraut überwuchert bald in Vergessenheit geriet. Ein anderer Teil des Gottesackers, ein morbides Spektakel marmorner Tempel- und Kapellenarchitektur, ließ den Wohlstand der einst Herrschenden erahnen. Dieser Grabmal-Pomp war eines der Privilegien der Portugiesen gewesen und ich fragte mich, wer wohl jetzt deren opulente Grabmäler schmückt.
Die Luft war klar wie an jedem Morgen, doch irgendetwas war anders. Die laute, dicht befahrene Straße war von welkem Laub übersät. So glaubte ich, bis ich begriff, dass es Heuschrecken waren. In meinem Trübsinn hatte ich am Abend vergessen, die Wäsche von der Leine zu nehmen, die die Hälfte meines Balkons überspannte. An jedem Stück Wäsche klebten nun die gefräßigen Biester. Nur mit Ekel und Widerwillen bemühte ich mich, das grüne Getier abzuschütteln. Ich hatte mich an all diese Dinge noch nicht gewöhnt. Den grünen, jungen Tieren sah man ihre Gefährlichkeit nicht an, das einzelne Tier war auch nicht wirklich ekelig, eher grazil. Die Penetranz liegt immer in der Masse, pflegte Arne gerne zu sagen, und das beträfe nicht nur die Heuschrecken. Vier Stockwerke unter mir auf der Asphaltstraße war die Masse verendet. Ob es die Kälte der Nacht war?
Schräg gegenüber entlang der Straße waren die weiß getünchten Villen aus der Kolonialzeit in helles Licht getaucht. Wie aufgereihte Perlen blendete ihr Glanz. Nur ein paar Schritte dahinter, im nahen bairro, kamen die Menschen wie allmorgendlich stocksteif aus ihren Hütten gekrochen und wärmten sich an den gelben Lehmwänden, die sich der Sonne entgegen reckten. Solange ich die Heuschrecken über die Balkonbrüstung aus den Kleidungsstücken schüttelte, war mir beklommen zumute. Nicht der Tiere wegen, es war der Anblick dieser betrüblichen Nachbarschaft. Ich liebte es, hoch oben zu wohnen und den ungehinderten Blick bis zu den Tafelbergen schweifen zu lassen. Dieser Blick aber sah immer zugleich auch das Elend. Die Leute in den flachen, weißen Villen zogen hohe Mauern um sich oder errichteten Zäune aus lebendem Blattwerk, um das Elend, das der Bürgerkrieg gebracht hatte, von sich fernzuhalten. Wenn man mit einem von ihnen über die Menschen im bairro reden wollte, erntete man nur beleidigtes Schweigen. War denen beim Anblick des Elends ebenso beklommen zumute wie mir? Oder fühlten sie sich von den vor dem Krieg geflüchteten Landsleuten gestört? Ohne diesen sinnlosen Krieg hätte jeder Einzelne von denen sein Überleben selbst gesichert.
Warum ging mir das alles durch den Kopf? Die bairros waren — für mich jedenfalls — immer da gewesen und mit ihnen die Erklärung, warum sie da sein mussten. Ich kannte es nicht anders, die Einheimischen kannten die Zeit sehr wohl, als die Stadt nur ihnen gehörte. Damals war es angenehmer, in dieser Stadt — der Perle des Südens — zu leben. Jetzt waren viele Häuserwände zerschossen, die Fenster geborsten und etliche Bauruinen verkamen in jahrelanger Starre, weil deren Bauherren es vor mehr als zehn Jahren vorgezogen hatten, das Land zu verlassen, das kein Herrenvolk mehr um sich haben wollte. Als dann die neue Aggression begann und die lehmigen Krebsgeschwüre die Grünflächen am Stadtrand überwucherten, wurde die Perle matt, verlor ihren Glanz, und mit den Elendsvierteln schwand der junge Glanz einer geeinten Nation. Über Hunderttausend Menschen lebten jetzt in der Stadt, die für zwanzigtausend genügen würde. Die meisten waren notdürftig eingepfercht zwischen selbstgeformten Lehmwänden unter notdürftigen Dächern.
»Lauter Dumme und Faule werden es nicht sein, die jetzt dort hausen«, hatte Arne zu seiner Diplomandin Celestina gesagt.
»Wie gebrochen, wie schuldlos entwürdigt müssen die Menschen sich fühlen?«, mischte ich mich in das Gespräch, wohl ahnend, dass die Leute aus den Hütten einst auf dem Land ihr Auskommen hatten.
»Jeder Mensch, vor dem ein Unglück auftaucht, fühlt sich ausgestoßen, minderwertig geworden«, wich Celestina aus, als gäben meine Worte nur ein Gefühl wieder, einen Trugschluss. Sie hatte leicht reden. Ihr ging es gut. Sie hatte einen Beruf, konnte nebenbei studieren und fuhr einen kleinen weißen Käfer, um den sie jeder DDR-Bürger beneidete. Ob sie wirklich dachte, diese Menschen fühlten grundlos, ausgestoßen zu sein? Fragte sie danach, ob ihre Landsleute je Beistand bekamen, ob sie wirklich satt wurden und ihrer Tradition folgen konnten, ihrem Glauben nachgingen oder auch den schon längst verloren hatten? Davon wollte die Studentin nichts wissen.
Später, Gott sei Dank nicht zu spät, bekam ich dann selbst den Blick für den einzelnen Menschen in dieser beklagenswerten Masse, deren bescheidene Wünsche in den Sorgen versickerten, in den Ängsten, in der Hoffnungslosigkeit dieser staubigen Welt. Ich musste erleben, wie sie das ganz normale Leben an sich vorbeiströmen ließen und nur noch in Zeitabständen dachten, die von der einzigen Mahlzeit am Tage bis zur nächsten reichte.
Aber davon später.
An jenem Tag ahnte ich noch nichts davon. Ich ahnte nur, wie gut es mir trotz aller Einschränkung noch ging. Ich beklagte mich nie. Nur meine Unwissenheit über alles, was mich umgab, lähmte mich zuweilen, machte meinen Geist unbeweglich, ließ nur eine Denkrichtung zu. Zurück.
Am folgenden Sonntag brachen wir auf zur Fahrt nach Tundavala. Björn und Bernhard, die beiden OSK genannten Staatssicherheitsleute hatten zuvor den Weg ausgekundschaftet und ihn für sicher befunden. Es war gesetzt, dass kein DDR-Kooperant ohne Begleitung eines der OSKARs, wie wir sie kurz nannten, den Schutz der Gruppe verlassen durfte. Sogar unsere Fahrt zum einzigen freien Gemüsemarkt in dreißig Kilometer Entfernung — auf dem nicht gekauft, sondern getauscht wurde — musste einer der Bewacher mit seiner Waffe begleiten. Es war für keinen von uns noch überlegenswert, jeder hatte sich daran gewöhnt. Hier war es auch leichter als zuhause, diesen Umstand der ständigen Bewachung zu ertragen, hier gab es schließlich eine echte Gefahr.
Die Natur und der klare Himmel sollten uns diesem Tag etwas Leichtigkeit geben. Unser kleiner Konvoi nahm die Straße nordwestlich über die Tafelberge und bog hinter dem Hügel der Igreja Senhora da Monte nach Westen ab. Der Weg entlang einer Bergfalte war ausgewaschen und steinig. Rechtsseitig in der Senke lagerten Unmengen rostiger Hinterlassenschaften des Krieges. Ausgebrannte LKW, auf Minen gelaufene Panzer, zerschossene Kriegsmaschinerie. Die üppige Natur besiegte die Spuren des Verderbens, wo das Verderben noch am Leben war. Überall, wo noch vor Wochen das Braun der Dürre vorherrschte, begann dichte Vegetation zu sprießen. Jetzt war das Land wirklich grün. Nur der Jungaustrieb der kleinwüchsigen Bäume und Sträucher hatte ein rötliches Braun, als hätte die Sonne ihre ganze Pracht darin zur Ruhe gebettet, um sie an diesem Morgen zu neuem Strahlen zu erwecken. Am Wegesrand streckten rosa Agaven ihre Blütenstängel mannshoch in den Himmel. Hin und wieder blitzte das feurige Rot eines Weihnachtssternes durch das üppige Grün. Jetzt ging es der Natur gut, es regnete täglich einmal. So erquicklich diese Zeit auch war, mit dem Regen wuchs neue Gefahr. Tagsüber fühlten wir uns sicher, aber jede Dämmerung hieß Achtung vor der gefährlichen Anopheles.
Ich war das erste Mal hier oben. Alle aus unserer deutschen Gruppe fuhren gerne hier herauf auf die Felsplateaus über der Schlucht, die über sechshundert Meter in die Tiefe reichte. Hier war die Luft rein und würzig. Der einzige Hinweis auf Zivilisation war ein einsames Wirtshaus. Davor war der Weg zu Ende. Ein junger Mann im schneeweißen Hemd und dunkler Hose machte sich an den Blumenrabatten zu schaffen, ein anderer lehnte gelangweilt in der Tür. Hier herauf verirrte sich kaum ein Gast und auch wir hatten es nur auf den Picknickplatz unweit des Hauses abgesehen. Steinerne Bänke und Tische, gemauerte Grillroste und schattenspendende Bäume — Rudimente aus der Kolonialzeit. Mehr brauchten wir nicht.
Ich sog die würzige Luft tief in meine Lungen, ehe das gleißende Licht der Mittagssonne uns in den Schatten der wenigen Eukalyptusbäume verdammen sollte, die dem Holzraub der Hoffnungslosen noch entgangen waren.
Beinahe dreißig meiner Landsleute verteilten sich in kleinen Gruppen um die steinernen Tische. Jedes Paar hatte einen gut gefüllten Picknickkorb dabei und selbst gemachte Säfte. Dieser Tag hatte noch etwas Besonderes. Jemandem war es gelungen, einen Kasten N’Gola-Bier außer der Reihe zu organisieren. So alle zwei bis drei Wochen hatten wir Anspruch auf einen kleinen Kasten pro cartaò de abastecimento. Das war jene Lebensmittelkarte für den hiesigen Einkauf, die nur der bekam, der Arbeit hatte. Zwanzig kleine Flaschen Bier waren lächerlich wenig für alle, aber immerhin, es war Bier, auch wenn es zuweilen nach Stachelbeeren schmeckte.
Die fenda von Tundavala ist eine gewaltige Schlucht im Bruch zwischen Serra da Chela und Serra da Neve. Zu dieser Zeit stürzten kleine Bäche von den Felsen herab und ergossen sich in die Täler, wo sie in der dürstenden Erde versiegten. Da, wo das Wasser sich sammeln konnte, traf sich Alt und Jung.
Die Waschplätze nahe der Stadt, oft zwischen Felsgestein gelegen, waren die Badestuben für Mensch und Vieh und die Tummelplätze der Kinder. Berge von Textilien wurden hier von den Frauen gewaschen. Sie lachten und redeten dort miteinander, bis die Sonne die über heiße Felsbrocken ausgebreiteten Kleidungsstücke getrocknet hatte. Wenn die Frauen mit ihren Kiepen auf den Köpfen —bisweilen waren sie auch noch voller nasser Wäsche — und mit ihren Babys auf dem Rücken wieder nach Hause gingen, lachten sie ebenso, als wäre es keine Anstrengung.
Der schwere süße Geruch gelber Akazien breitete sich über dem Picknickplatz aus und kroch mir unerträglich stark in die Nase. Arne hatte sich einem Skatspielertrupp angeschlossen und die Frauen lamentierten über diverse häusliche Verrichtung, die für jede Einzelne nichts als Rückständigkeit bedeutete. Auch ich konnte der fremden Lebensart kein Lob abringen. Zum Lamentieren war ich noch weniger geboren worden. Keiner von uns hätte es ändern können, wenn Brot aus den Transportsäcken auf die dreckige Ladefläche des offenen Lastwagens kullerte und das Vieh, dessen Fleisch wir maximal viermal im Jahr erhielten, in Holzfällermanier zerteilt wurde.
Ich dachte an Carlos und daran, wo er wohl wohnen könnte. Ganz bestimmt da weit unten im grünen Land, von wo er seinen Blick auf die Felsen gerichtet haben mochte, die er nie erklimmen sollte. Und ich dachte an meine Kinder.
Mein mütterlicher Schmerz im Herzen und die nächtliche Angst seit meiner Ankunft, wandelten sich bald in nachdenkliche Stille. Ich fühlte mich merkwürdig untätig, obwohl es täglich viel Mühe bereitete, das profane Leben abzusichern. Mein Herz wurde nie leicht und mein Kopf war wie leergeblasen.
Das änderte sich erst viel später, als ich anfing, heimlich zum Bairro zu laufen…
KINDER IM STAUB DER STRASSE
Ich erinnere mich ungewöhnlich gut an den Tag, wo die Veränderung ihren ungewollten Anfang nahm. Es war Sonntagvormittag. Wir waren — ordentlich bei Björn abgemeldet — mit unseren deutschen Nachbarn Hellen und Dietmar zu Fuß den weiten Weg bis zum Stadtpark gegangen, der hier feira genannt wurde, weil in diesem Areal alle großen Zusammenkünfte stattfanden. Der Morgen war noch mild, und wir genossen die Ruhe. Zu dieser Zeit hielten sich kaum Menschen da draußen am Fuße der Tafelberge auf. Eigentlich war es der netteste Vormittag, den wir je mit Hellen und Dietmar verbracht hatten. Wir saßen auf einer Bank und lauschten den Wasserspielen, die das Schwimmbecken im unteren Park speisten. In einem bombastischen Gummibaum zirpten Zikaden. Wir hielten unser Picknick ab und erzählten von zuhause, von den Kindern und unseren Berufen, die wir Frauen vermissten. Der Tag ging dahin, aber keiner verspürte Lust, wieder von hier aufzubrechen, Dabei war es höchste Zeit. Wir hatten und bis gegen Sechzehnuhr abgemeldet. Gegen Siebzehnuhrdreißig begann die Sonne rasant hinter die Bergen zu verschwinden und ab Achtzehnuhr war es zu jeder Zeit stockdunkel. Der Weg zurück war lang. Beinahe eine Stunde war zu laufen, aber Dietmar meinte, es gäbe einen kürzeren Weg quer durch den bairro.
Wir liefen auf halber Distanz zwischen Tafelberg und Stadtzentrum durch ein unendlich großes, unendlich verwirrendes Gebiet. Offiziell nannte man diese Ansammlungen der Flüchtlingshütten bairro, aber wir wussten längst, dass dieses Wort schlicht Stadtteil heißt. Dies hier waren in Wahrheit Elendsviertel, wo die Straßen ihre Namen verloren, sich in Trampelpfade verengten um ganz zu versanden. Hier atmete die Wirklichkeit unter der Weite des afrikanischen Himmels unheimliche Bedrückung. Hier hausten die Ärmsten der Armen, Menschen ohne Arbeit und ohne Besitz. Ihr fremdes Zuhause war nichts als vier nackte Lehmwände unter einem Wellblechdach. Sie hatten sich aus dem Staube gemacht, aus Furcht vor Überfällen und vor Zwangsrekrutierungen ihrer Söhne in die Armee des »schwarzen Hahnes« Jonathan Savimbi, der bei der Befreiung von den Portugiesen der Wegbegleiter des Staatspräsidenten Eduardo dos Santos war.
Nach dem Sieg hatte der Geruch von Macht die einstigen Freunde entzweit, ihr Streben nach Vormacht in verschiedene Lager getrieben — zu Lasten der Menschen, für die sie Verantwortung zu tragen hätten.
Hier im Staub am Rand der Stadt fühlten sich die Menschen zwar sicherer als zu Hause auf ihrem Stück Land, das sie nährte. Versorgt und behütet waren sie hier keinesfalls. Die städtische Infrastruktur war für zwanzig-, vielleicht auch dreißigtausend Menschen ausgerichtet. Jetzt warteten hier über hunderttausend Menschen auf das Ende des längsten und mörderischsten Krieges auf diesem Kontinent.
Durch die Elendsviertel zu gehen, war uns seitens der DDR verboten. Es sei zu gefährlich, zu unübersichtlich. Das konnte jeder, der sich einmal darin verirrt hatte, guten Gewissens bestätigen.
Nun liefen wir auf einem Damm entlang, der noch die Reste des Schienenstranges einer Zubringerbahn trug. Das machte mich ruhig. Die Gleise würden irgendwo spitzwinkelig auf den Bahnhof treffen. Von da aus verlief die Asphaltstraße in Richtung Stadtmitte, an der das Laureano stand, das Haus, in dem die meisten DDR-Kooperanten wohnten und das noch immer den Namen seines portugiesischen Erbauers trug, wie viele Häuser in der Stadt.
Vom Damm aus konnte man über die notdürftigen Umfriedungen in die Höfe der Hoffnungslosen blicken. Die ärmlichen Behausungen aus Lehm und Gras hatten selten Türen. Die Eingänge waren mit Stofffetzen geschützt, bestenfalls diente am Abend ein Wellblechrest als Tür. Solche Bleche lehnten überall an den Hauswänden. Ihr Vibrieren begleitete mit schaurigen Klängen das dumpfe Schlagen der Stampfstöcke in die Getreidemörser. Vor jeder Hütte gab es eine Feuerstelle aus aufgeschichteten Steinen. Dort kohlten die Enden dicker Baumstämme oder zusammengesammelter Äste. Äxte oder Sägen besaß keiner hier.
Die Höfe waren sauber gefegt, aber Berge von Müll und stinkendem Unrat türmten sich ein paar Schritte entfernt an den Wegen. Magere, von nächtlichen Kämpfen zerschundene Hunde, Hühner und sogar Ziegen liefen frei herum und wühlten im Abfall nach Brauchbarem.
Je näher man der Stadt kam, sah man kleine Gartenflecken zwischen den Hütten, was von längerem Aufenthalt zeugte. Hier wie dort war die Zeit zu leben kurz bemessen worden, das einst erhoffte Kriegsende aber war schon lange verstrichen.
Dieser bairro erstreckte sich kilometerweit vom Rande des Stadtkerns bis zum Fuße des Tafelberges, und sogar an dessen Hängen klebten schon vereinzelt Behausungen, als hätte sie die vorzeitliche Sintflut dort hinauf gespült. Längs des schmalen Weges sahen die Höfe trist aber sauber aus, während weiter an der Peripherie Unrat und Dreck vorherrschten. Hinter einem üppigen Busch aus Zuckerrohr und Bambus blitze das seltene, halbrunde Gebilde eines Backofens aus Lehm hervor.
In dieser Zeit spürte man noch das Wachsen der Natur, ehe die jungen Pflanzen durch die schwirrende Hitze der Tage erstarren sollten, bis der Himmel ihnen wieder den Segen schickte, der ihr Siechtum für ein paar Wochen beendete.
Eine kleine Menschenansammlung zwang uns, einen Bogen um üppiges Gestrüpp zu schlagen. Da wo der Weg in einen kleinen Platz auslief, saßen ein paar Männer in ein Spiel mit Kieselsteinen vertieft. Die Runde wurde von Schaulustigen flankiert, die in ärmliche Kleider gehüllt waren. Die kleinen Kinder hüpften splitternackend dazwischen herum. Ein verkrüppelter Junge mit dem Körper eines ausgehungerten Gerippes schaukelte, nur auf seine übergroßen Hände gestützt, über den festgestampften, lehmigen Boden. Seine nackten Beine — zum ewigen Schneidersitz verschränkt — schimmerten wie Elfenbein, hell und knöchern. Das Muster der hingeworfenen Steine musste einen der mürrischen Alten in Trance versetzt haben. Seinem Mund entwichen unheimliche Worte, seine Hand deutete auf den Krüppel, der allem Anschein nach durch seine pure Anwesenheit zum Schuldigen für das Pech des Alten im Spiel erklärt wurde.
Wir liefen eiligst in angemessener Entfernung vorbei, in der Hoffnung, nicht Zeugen eines Unheils zu werden. Es kam vor, dass diese selbst ernannten Weisen in den vom Schicksal geplagten Wesen die Ursache irgendeines Unheils erkannten und sie dafür kollektiv bestraften.
Etliche Meter weiter, vor einer größeren Hütte, die über zwei Türen und einen Stall für Ziegen und Federvieh verfügte, saßen Halbwüchsige über Schnitzarbeiten gebeugt. Einer sprang auf und winkte uns zu, näher zu kommen, um etwas zu kaufen. Ein anderer Junge schnitzte ein Krokodil, das Arne gefiel. Obwohl er den Boss der Schnitzer hinter sich wusste, redete Arne nur mit dem Jungen. Der aber durfte nicht verhandeln, schien trotzdem sehr stolz über die unverhofften Worte des Fremden zu sein. Seine Augen blitzten noch weiß, wo das Weiß hingehörte, weil das giftige Gebräu des gujome seine Leber noch nicht zerfressen hatte. Der Mund des Jungen lächelte kindlich, samtig: Nein. Er habe noch nie ein Krokodil gesehen. Er arbeite nach, was sein patron gearbeitet habe, als er noch ein zé-ninguém war, wie er einer sei. Jetzt brauche der patron nicht mehr zu arbeiten. Er sprach mehr mit den Händen, die flink und geschickt zu hantieren gewohnt waren, als mit dem Mund, der immer wieder zu Lauten griff, die fremd klangen. Wir verstanden ihn dennoch. Krokodile, so meinte er, lebten im Wasser. Hier aber gäbe es kaum Wasser. Noch schlimmer sei es im Westen, nur trockene Flussbette sogar in der Regenzeit.
Ich zeigte auf ein Nashorn, das bereits mit Wichse schwarz poliert neben anderen Figuren auf einem Holzklotz stand. Es gefiel mir.
»Nao conheces tambèn?«, fragte ich fonetisch vermutlich unkorrekt, denn ich hatte nur halbherzig und nur autodidaktisch Portugiesisch gelernt. Doch das störte diese Menschen nicht. Es war ja auch nicht ihre Sprache. Eindringlinge hatten sie ihren Vätern und Großvätern und Urgroßvätern auferlegt. Unter sich sprachen sie die Sprache ihrer Väter. Keiner von uns kannte sich aus mit den Volksstämmen und deren Sprachen, so, wie wir DDR-Bürger die große Welt nicht kannten, nicht kennen durften. Aber mehr als irgendwo sonst spürte man hier das großherzige Bemühen zu akzeptieren, wie ein jeder in der Lage war, sich verständlich zu machen.
Die Augen des Jungen huschten hastig hin und her, von uns zum patron und zurück. Nein. Er habe auch noch nie ein Nashorn gesehen, sagte es lächelnd. Die Kinder in den bairros kannten die afrikanischen Tiere weniger gut, als die Kinder in Europa.
Der Boss saß unbeweglich auf einem Holzklotz im Schatten und rauchte, die Beine weit auseinandergestellt, die Ellenbogen auf die Schenkel gestützt, seinen Oberkörper nach vorne gebeugt. Arne ging zu ihm und versprach, später auch das Krokodil noch zu holen, wenn es fertig sei. Dem Jungen steckte er behände ein paar Bonbons zu, in der Hoffnung, der Boss würde sie ihm lassen. Ein einziges Bonbon hatte hier den gleichen Schwarzmarkt-Preis wie ein Stangenbrot aus dem staatlichen Handel.
Der Mann hatte in seiner Trägheit nichts bemerkt, während die Augen des Jungen zu glühen begannen. Unruhig scharrten seine Füße im Staub, doch er beugte sich tief über das Krokodil aus hellem Holz und schnitzte weiter.
»Ate logo«, rief Arne zum Abschied. Er zwinkerte dem Jungen zu und zog das Zaunfeld aus Draht und Binsen wieder ordentlich vor den Ausgang. Kaum waren wir außer Sichtweite, zupfte Hellen Arne am Ärmel und wetterte in ihrem unverwechselbaren Jargon: »Schade um die Bonbons, Arne. Der Alte lässt die dem Jungen nicht. Da wette ich.«
Im Innersten wusste ich, dass es so sein konnte, aber Wasser auf die nie verstummende Mühle von Hellens Lamento zu kippen, behagte mir nicht. Wenn ich schwieg, hielten ihre Tiraden meist nicht lange an. Also schwieg ich in der Gewissheit, auch niemals im Leben gewusst zu haben, wohin unsere Soli-Spenden flossen. Immer hatten wir gehofft, sie mögen die Bedürftigen erreichen. Ohne diese Hoffnung, ohne das Vertrauen in die Instanzen, funktioniert keine Solidarität. Auch nicht die gewaltige, pflichtgemäße der sechzehn Millionen Menschen meines Heimatlandes.
Schon bald hörten wir hastige Schritte und ein Schnaufen dicht hinter uns.
»Amigo, obrigado! Amigo!« Der Junge war uns gefolgt, in seiner Hand glitzerte es bunt. Er lachte breit und deutete auf eine armselige Hütte am Ende des holprigen Weges.
»A minha casa.«
Er lehnte seinen Körper gegen den Pfosten am Stacheldrahtzaun und schob das lose Feld einen Spalt breit zurück. Geschmeidig wie eine Katze wand er sich hindurch und lief zu den Frauen, die vor der Hütte mit wuchtigen Schlägen Maismehl oder Hirse stampften. Die jüngere, hochschwangere Frau im zerfetzten Kittel trug ein Kleinkind auf den Rücken gebunden, dem das ständige Auf und Ab das Wiegenlied ersetzte. Die Frauen blickten ernst, keine hielt inne. Nicht einmal beim Anblick der bunt verpackten Bonbons erhellten sich ihre Gesichter, die runzelig und matt aussahen, wie vertrocknete Mangos. Wortlos nahm die ältere entgegen, was der Junge ihr reichte und trug es in die Hütte. Diesen Moment nutzte die jüngere, um ihren Körper einen Moment zu strecken. Mit einer Hand den Rücken stützend, ließ sie ihre Augen blitzschnell den Stand der Sonne suchen, ehe das rhythmische Schlagen erneut den stark gewölbten Bauch und gleichsam das Baby auf dem Rücken erschütterte.
Auf dem säuberlich gefegten Boden türmte sich ein kleiner Haufen gelber Kolben. Zwei kleine Mädchen saßen davor und puhlten den Mais mit ihren wundgescheuerten Fingern. Ein anderes Kind, vermutlich ein Junge, spielte im Dreck. Einen Vater sahen wir nicht. Es dauerte nicht lange, bis der freundliche Junge sich wieder durch den Drahtzaun zwängte und seine dunkle, von Schwielen durchfurchte Hand auf den Arm meines Mannes legte. Ich konnte meinen Blick nicht lösen vom Anblick der Kinderhand, die sich so deutlich von der Haut des weißen Mannes abhob, der in den Augen des Jungen ein weiser Mann zu sein schien. Oder ein reicher? Es war nicht nötig zu grübeln, was für das Kind, das vermutlich seine Familie zu ernähren hatte, als wertvoller galt.
»Eu Enkembe«, sagte er mit strahlenden Augen, die scheu zu den Frauen hinüber blitzten, deren dumpfes Schlagen mit den Stöcken wieder den erbarmungslosen Takt ihres Lebens bestimmte. Der Junge blieb stehen, ohne ersichtlichen Grund. Er schien ruhig, nur die nackten Füße, die bis zu den Knien mit hellem Staub bedeckt waren, scharrten unruhig über den trockenen Weg. Arne strich dem Kind über das krause Haar, das hart und knotig aussah, aber nicht schmutzig und nicht verfilzt.
»Eu Arne, deste Maxi, a minha Esposa. Deste Amigos Allemaes«, stelle er uns der Reihe nach vor, um irgendetwas zu erwidern. Dann fiel ihm ein zu fragen, warum der Junge keines der Bonbons probiert habe. Enkembe zog die Schultern bis zu den Ohren und er erklärte, er habe nicht das Recht, darüber zu entscheiden. Sein Vater würde es tun, später. Er wies mit dem Kopf in die Richtung, wo sich die Männer dem Stumpfsinn und den magischen Steinbildern hingaben, während den Frauen die Last der harten Arbeit blieb. Dieses weibliche Fügen in die Tradition machte mich ebenso betroffen wie das ganze Elend ringsum. Zuerst hatte ich gedacht, dass diese unerträgliche Wirklichkeit ein Traum sein musste, man wischt sich die Augen und sieht wieder klar. Wenn ich nachts darüber nachgedacht hatte, war mir unsere Anwesenheit in diesem Land so sinnlos erschienen. Wenngleich Arnes Arbeit einen Sinn machte, so war es doch nur ein winziger Tropfen auf heiße, brodelnde Lava. Von mir fiel nicht einmal dieser Tropfen auf die Erde. Wenn ich aber bei Tage meine Augen mit dem Elend quälte, dann schien das kleinste bisschen Hilfe so wichtig und so zwingend. Das Elend zu sehen und sich einzubilden, nicht helfen zu können, erkannte ich bald als Selbstbetrug.