Kitabı oku: «EINFACH. ÜBER. LEBEN.», sayfa 3

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DER MUT EINER UNWISSENDEN

Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, warum wir hier waren. Wenn es um Solidarität ging, warum halfen wir denen nicht, die in der allergrößten Armut vegetierten. So wie diese Hoffnungslosen Opfer unverständlicher Fehlentscheidungen waren, so wurde ich mehr und mehr Opfer meines Gewissens. Ich hatte nichts dagegen, dass wir Frauen seit Anbeginn unseres Aufenthaltes allerlei Solidaritätsgeschenke bastelten, dass wir nähten und strickten. Dass wir Kuchen buken und Säfte kochten, wenn es ein Kinderfest in der Stadt oder in einem großen Betrieb auszugestalten galt. Ich hatte auch nichts dagegen, einigen Leuten aus der Stadt all das abzugeben, was uns aus der staatlichen Versorgung geboten wurde, aber nicht unserem Geschmack entsprach. Das betraf unseren angolanischen Freund Marco ebenso wie die junge Frau, Dida, eine aus der Putzkolonne für das Treppenhaus des Laureano. Marko war eines Abends zu Arne gekommen, weil er einen Brief aus der DDR übersetzt bekommen haben wollte. Marko war eins Basketball-Spieler bei der angolanischen Nationalmannschaft. Nach einer schweren Verletzung wurde er in Bad Saarow geheilt und unterhielt noch immer Briefverkehr mit Schwestern und Ärzten. Er hatte zu uns großes Vertrauen, und bisweilen erwartete er auch, etwas geschenkt zu bekommen.

Dida hingegen brachte immer das kleinste ihrer vielen Kinder mit zu Arbeit, und bisweilen saß das kaum einjährige auf dem puren Beton und knabberte an einem rohen Fisch herum, was mir einen Stich bis unter die Kopfhaut versetzte. Warum sollte ich nicht auch Dida etwas von dem abgeben, was wir ohnehin nicht selbst aßen.

Ich konnte auch all den Leuten, die zum Tauschen in unser Haus kamen, abgeben, was ich erübrigen konnte. Der Gegenwert war maximal etwas Handgeschnitztes oder frische Gartenfrüchte, zu denen wir ansonsten keinen Zugang hatten. All diese Leute litten nicht so, wie die Elenden im bairro in unvergleichlicher Weise zu leiden hatten.

Die simple Einsicht, durchaus Gutes zu tun, aber nicht an der notwendigsten Stelle, nagte an mir. Nicht mehr besonders quälend, nicht mehr besonders vorwurfsvoll, immerhin sah ich jetzt einen vagen Weg vor mir, für den Rest der Zeit nicht unschlüssig den Mond anheulen zu müssen. Das Herz sieht schärfer als die Augen. Mein Herz hatte längst entschieden, wohin mein Hirn mich steuern sollte. Es war Zeit, mich von der zwangsauferlegten Nebenrolle einer mitreisenden Ehefrau zu emanzipieren und meine Nachbarin Hellen sollte teilhaben an diesem guten Gefühl. Noch vermied ich es, ihr genau zu sagen, was in mir vorging.

Die Luft war trocken und es wehte ein leichter Wind. Zehn Uhr stand die Sonne nordöstlich über dem Kopf von Christo Rei und ließ die Blüten der violetten Bougainvillea aufleuchten. Ein Anblick, den Arne besonders mochte, der ihn noch Jahre später, als wir endlich auch ohne staatlichen Auftrag in alle Ecken der Welt reisen durften, in verzückte Erinnerung versetzte, auch wenn er den Namen dieser Blüten noch heute nicht aus seinen Hirnwindungen heraus kramen kann.

In Momenten wie diesen konnte sogar Hellen die Widrigkeit des staubigen Weges ignorieren oder wenigstens tolerieren. Auch ihre Augen blieben ungewöhnlich lange an dem Farbenspiel haften, während ihre Lippen den Vergleich zwischen den Schönheiten dieses Landes und den vielen Unannehmlichkeiten zu formulieren versuchten, denen wir hier ausgesetzt waren. Weil ich dazu schwieg, blieb sie stehen und stippte mich heftig an:

»Stell dir vor Maxi, du müsstest immer hier leben? Neben diesem Dreck und der Armut …« Die Blicke ihrer rollenden Augen tasteten mein Gesicht ab, das sich bemühte, so gleichgültig wie nur irgend möglich zu tun.

»Man kann überall leben. Der Ort ist nicht das Wichtigste.«

Es schien, als fragten Hellens Augen, was für mich das Wichtige sei, aber sie war zu sehr damit beschäftigt, dem Unrat auszuweichen, der mit jedem Schritt zunahm, den wir auf den bairro zugingen,.

»Das Wichtigste im Leben ist immerhin, genau zu wissen, was das Wichtigste ist«, vollendete ich meine Gedanken, ohne wirklich auf Hellens Befindlichkeit achtgegeben zu haben. Ich war nicht bei der Sache, meine Unruhe war kaum zu beherrschen, aber irgendwie traf mich ihre Frage. So wenig ich früher daran geglaubt hätte, einmal in diesen Winkel der Welt zu geraten, so sehr bewusst machte mir eben diese Tatsache, dass man immer auf einen plötzlichen Wandel des Lebens gefasst sein musste.

»Arne meint, wegen des Klimas würde er gerne bleiben.«

»Und du?«

»Ich natürlich nicht!«

Meine Worte kamen zu barsch über die Lippen. Es war nicht fair. Ich benutzte Hellen an diesem Vormittag für meine Zwecke, nun sollte ich auch ihre Nachteile ertragen. Mehr noch, ich sollte nett zu ihr sein.

»Es ist doch das uralte Lied: An grauen Novembertagen wünschst du dir den Himmel von Afrika, und wenn du ihn hast, denkst du an nichts anderes, als an erfrischenden Regen. Das Wichtigste ist beides dennoch nicht. «

Hellen stöhnte leise. Dieses Stöhnen kannte man nicht nur von Hellen. Es war ein winziges Indiz des Aufbegehrens unserer, an ihr Geschick gewöhnten Generation.

»Wenn wir wenigstens verreisen dürften wohin wir wollen. Ans Mittelmeer oder in die Alpen. Wäre das nicht klasse, Maxi?«

Ich glaubte ihr, dass sie es nur in die ferne Welt zog, nicht aus dem heimischen System. Sie hatte eine erwachsene Tochter im Alter unseres Sohnes Nico, der verheiratet war aber nicht sorgenfrei, weshalb diese Ehe kein Hort für unser Tochter Ina war.

»Bist du der Landschaft wegen mit Dietmar mitgegangen?« Wenn ich Hellen richtig einschätzte, hatte sie auf alles, was sich im Leben ihrer Ehe je geändert hatte, den größeren Einfluss, auch wenn dieser nur im Abwenden scheinbar nachteiliger Entscheidungen ihres Mannes lag.

Hellen stolperte neben mir her wie ein Huhn im Schnee und antwortete atemlos. »Wir wussten doch nicht, wohin man uns schickt. Ich wäre lieber in ein reiches Land gegangen. Aber wer weiß, vielleicht hätte ich dann nie wieder nach Hause zurück gewollt.«

Das war neu. Hellen schwärmte zwar nicht zum ersten Mal von fantastischen Gegenden der Welt, doch zum ersten Mal war es ihr gelungen, mich neugierig zu machen:

»Heißt nicht gewollt auch nicht gegangen?«

»Wo denkst du hin!« Der Satz kam genauso barsch über ihre Lippen, wie kurz vorher einer von mir. Nur eines war anders. Hellen trug jetzt nicht die Züge ihrer ständigen Abscheu gegen dieses Stückchen Land, gegen Schmutz und fehlende Hygiene zur Schau. Ihre Augen begannen zu leuchten wie die Bougainvillea.

»Ich freue mich auf mein Zuhause.« Sie streckte ihre Hände in die Luft und spreizte die Finger: »Noch neun Monate, Maxi. Neun. «

Sie konnte nicht verbergen, was ihr bei dem Gedanken an zuhause durch den Kopf ging. Doch dann war es doch ungewöhnlich. Hellen, die beinahe ausschließlich von Hausfrauensorgen bewegt wurde, begann ein Loblied auf die Sozialleistungen in der DDR zu singen. Zu guter Letzt legte sie einen Finger auf die Lippen und sprach von ihren westdeutschen Verwandten, von denen niemand wissen durfte.

»Die loben unser Sozialsystem, aber bei uns leben will keiner von denen da drüben.«

Noch viele solche Worte holperten aus ihrem Mund, wie ihre Füße über den ausgetretenen Weg. Mir schien es, als müsste ich sie auffangen, bremsen. Ich hatte keine Lust, mit Hellen über diese Dinge zu reden. Sie redete sonst nie über Politik. Warum heute, wo meine Sinne fest auf ein bestimmtes Ziel gerichtet waren. Meine Unlust war nicht zu überbieten, dennoch ging ich auf Hellen ein:

»Jeder wünscht sich das, was er nicht hat. Wir die Reisefreiheit und deine Westverwandten mehr Sorge um den Menschen. Das ist wie mit dem Himmel von Afrika und dem gewohnten Novemberregen.«

Hellen war stehen geblieben und zupfte sich mit staunenden Augen herumfliegende Samen von der Bluse.

»Eines hab ich nie verstanden, Maxi. Die nennen es Demokratie und sind stolz darauf. Und wir tun dasselbe, obwohl doch Welten dazwischen liegen.«

Angesichts der immer drückenderen Hitze und der Mühsal, die uns das Laufen bereitete, vermied ich es, jeglichen Anschein von Interesse zu hinterlassen. Hellen hatte trotzdem gesiegt. Im Stillen dachte ich nach. Auch wenn ich mir manchmal wünschte, in einigen Dingen des Lebens freier entscheiden zu können, weniger biegsam den Erwartungen der Obrigkeit zu entsprechen, so ruhte doch jene Ahnung in mir: Die mündigen Bürger in der freiheitlichen Demokratie, auf die so manch einer von uns neidisch schielte, könnten einer gnadenlosen gesellschaftlichen Konfrontation ausgesetzt sein. Parteiengerangel. Machtkampf. Ellenbogengesetz. Wir hingegen hatten keine andere Wahl, dafür aber die gutgläubige Hoffnung, die Zuversicht auf eine friedliche Welt, auf die Solidarität mit benachteiligten Völkern, auf den Siegeszug der Menschenwürde auf diesem Planeten und den Stolz, auf neuen Wegen der menschlichen Gesellschaft zu schreiten.

Während mein Kopf den Schlagabtausch zwischen dem goldenen Westen mit seinem Wirtschaftswunder und dem unschätzbaren Sozialwunder im Osten führte, liefen unsere Füße durch den Staub der realen afrikanischen Welt. Dieser Staub umhüllte bereits unsere Schuhe und kroch langsam bis zu den Knöcheln. Ich musste mich zwingen, nicht auffallend schneller zu laufen, war ich doch kribbelig auf den Moment, den ich beabsichtigt, aber Hellen verheimlicht hatte.

Nachdem ich im Durcheinander von Trampelpfaden und Hütten beinahe die Orientierung verloren hätte, quälte der trocken-muffige Geruch eines Abfallberges unsere Nasen. Hier war die Stelle, an der wir in Richtung Damm abzubiegen hatten, um jene Hütte zu finden, nach der ich suchte. Prompt wollte Hellen zurückgehen und begann mit ihrem Gezeter von tückischen Krankheiten, die man sich auf diesen Wegen holen könne. Nicht umsonst sei uns nahegelegt worden, diese Gegenden zu meiden. Wegen der jämmerlichen Volkskunst sollten wir dieses Risiko nicht eingehen. Außerdem fände ich in Luanda an jeder Ecke ein solches Krokodil. Das hier sei eh΄ kein wertvolles Schwarzholz, nur mit Schuhkrem eingefärbte Pinie oder Eukalyptus, und wer weiß, was Kenner davon halten würden.

»Man braucht immerhin einen selo für jedes Teil. Was für den Zoll nicht wertlos ist, wird auch nicht wertlos sein. Später einmal wird der ideelle Wert für uns der größere sein.«

Warum war ich nicht still, warum verhandelte ich noch? Es war ohnehin zu spät umzukehren. Wenn der Dürstende das Wasser spürt, gibt es kein Zurück mehr. Selbst bei größter Gefahr.

Hinter dem Müllberg saßen Kinder, wühlten im Unrat nach Essbarem und starrten uns mit großen Augen an. Einige von ihnen reckten ihre schmutzigen Hände uns entgegen und ich war sicher, wir würden bis zu unserem Ziel eine kleine Eskorte aus hungrigen Mündern mit uns ziehen, die Grimassen schneiden und wilde Verrenkungen aufführen würden. Ich war diese Wege durch den bairro noch nicht oft genug gegangen, um so viele Kinder zu bemerken. Der Schlafende weiß von nichts. Nur wer sich auf den Tag einlässt, dem öffnen sich die Augen.

Als ich zum ersten Mal unten in der Stadt Kinder im Müll gesehen hatte, war meine einzige Regung pures Entsetzen, Verachtung für die Eltern, die nicht auf ihre Kinder achteten. Es seien doch keine Ratten, und der Unrat sei kein Ort für das Spiel eines Kindes, das gesund und kräftig werden sollte, um seine Eltern einmal ernähren zu können.

Wie hatte man sich inzwischen an den Anblick gewöhnt!

Ich konnte plötzlich nicht mehr reden, nicht darüber, worüber Hellen gewöhnlich schwatzte. Ich wünschte, auch ihr ginge es wie mir. Doch der Anblick des Elends führt bei verschiedenen Seelen durchaus zu verschiedenen Resultaten. Hellen trat heftig mit den Füßen in das dürre Gras neben dem staubigen Weg und ließ wieder ihr ständiges »igitt« durch die in Ekel festverbissenen Zähne schlüpfen. Dabei rümpfte sie ununterbrochen die Nase. Mindestens genauso energisch versuchte sie, mich noch einmal zur Umkehr zu bewegen. Sie tat mir leid. Was musste sie ob ihrer empfindsamen Wahrnehmung gelitten haben. Es gab hier kaum zwanzig Meter Weg, auf dem kein Unrat lag, kaum ein Gebüsch, aus dem nicht die Exkremente gen Himmel stanken. Nur um die Opuntien schwirrten die Schmeißfliegen nicht in Scharen herum, obwohl gerade diese bombastischen Gebüsche als Ersatz für fehlende Latrinen dienten. Die Natur weiß sich offenbar besser zu helfen, als der Mensch dem Menschen.

Je näher wir der Hütte in der dritten Reihe kamen, desto sicherer war ich, wenn auch nur für einen kurzen Moment, dass meine Knie zitterten. Ich vermisste den Widerhall der Mörser, dennoch konnte es keine Vorahnung gewesen sein. Mein Herz raste in dem Maße, wie der löchrige Zaun mehr und mehr vom Elend preisgab, von dem wir nichts ahnen konnten. Diesmal waren an Enkembes Hütte auch zwei Männer anwesend. Sie knieten auf der blanken Erde und zimmerten notdürftig eine kleine Kiste zusammen, keine sechzig Zentimeter lang. In der Tür lehnte, abgemagert und mit fadem Gesicht jene Frau, die vor einigen Tagen mit schwangerem Leib zusammen mit der Alten Hirse gestampft hatte.

Mir war sofort klar, woher dieser Schmerz in mir rührte. Jene Kiste, für die sich der Vater heute einmal Zeit nahm, sollte das tote Baby aufnehmen, das keine Chance hatte, in dieser Welt zu überleben. Alle fünf Sekunden stirbt auf dieser Erde ein Mensch an den Folgen der Unterernährung, das hatte ich im Sputnik gelesen.

»Es war der Hunger«, sagte ich, fest davon überzeugt, Hunger sei auch in diesem Land die Todesursache Nummer eins.

»Dieser verdammte Krieg«, fluchte Hellen, in dem sie sich beide Hände vor ihren erschrockenen Mund presste. Ob es wirklich nur der Krieg war, der den Hunger brachte, bezweifelte ich. Für Politiker war der Krieg der Vater aller Rechtfertigungen. Wir waren keine Politiker, wir mussten es uns nicht so einfach machen. In einem aber hatte Hellen Recht. Nicht Malaria, nicht Tuberkulose oder Aids waren die Ursachen des Massensterbens. Nicht einmal die kriegsbedingte Übervölkerung dieser Stadt schien das Problem zu sein. Ich musste nicht einmal an meine angolanischen Nachbarn Rosa und Tharkino denken, man brauchte sich nur umzusehen. Die Lebensmittelknappheit war nichts als der Auswurf korrupter Ungerechtigkeit.

Um Hellen bei der Stange zu halten, murmelte ich die Weisheit eines Experten der Welthungerhilfe vor mich hin, die mir schon seit geraumer Zeit nicht aus dem Sinn ging:

»Auch wenn die meisten Opfer nicht im strengen Sinne verhungern, so sterben sie doch an Krankheiten, die bei guter Ernährung nicht lebensbedrohlich gewesen wären.«

Ich spürte Hellens Hand auf meinem Arm und hörte ihr stoßartiges Raunen, doch zu reden war sie nicht imstande.

»Es gäbe genug zu essen auf dieser Welt«, murmelte ich, selbst unschlüssig, was in diesem Moment am Zaun leidgeprüfter Menschen zu tun sei. Das allerdings durfte ich mit Hellen nicht bereden, nicht jetzt. Noch eine Weile standen wir betroffen herum. Nur ein schäbiger Zaun trennte uns von dem Elend, genug, um zu ergründen, jeder für sich und ohne Worte, wie viel fremden Leides man ertragen kann. Auch Hellen schien das gleiche Entsetzen gepackt zu haben wie mich.

»Die armen Kinder«, zischte sie dicht neben mir, zog an meiner Bluse und schob ihr Gesicht dicht hinter meinen Kopf, als dürften diese Menschen da hinter der Absperrung sie nicht erkennen, ihr Wohlergehen nicht begreifen.

Ich war in diesem Moment auch nicht gerade stark, und immer, wenn ich mich schwach fühlte, dachte ich an mein Kind, das so unerreichbar fern von mir war. Dafür sei es wohlernährt und gutgebildet, sehnsuchtsvoll im Moment, aber an Körper und Geist unversehrt, wie man sagt.

Heute bin ich von der Unversehrtheit der kindlichen Seele nicht mehr überzeugt, aber die Zeit half mir über die Trugschlüsse des Lebens hinweg. Sie heilte nicht die Wunden mütterlichen Leidens, wohl aber die meiner Unwissenheit. Sie machte mich klüger, aber nicht ruhiger. In diesem Moment unschlüssigen Verharrens war ich endlich einmal wütend.

Im hinteren Winkel des Hofes, wo die Sonne ein helles Dreieck in den Sand malte, hockten die Kinder der Familie beieinander mit großen, ängstlichen Augen. Sie sprachen kein Wort. Auf den ersten Blick waren es ganz normale Kinder, zerzauste Wuschelköpfe, verschmierte Münder, gelb-verkrustete Nasen und ebensolche Krümel in den Augenwinkeln. Man konnte sicher sein, sie waren nicht an diesem Morgen so schmutzig geworden. Also fehlte es an Wasser. Vom einzigen Bach, der durch diese Stadt floss, waren wir soeben gekommen, etwa drei Kilometer von hier entfernt. Neben der Hauptstraße dicht beim Laureano floss er von West nach Ost durch die bairros dieser Stadt. Wie weit es von hier bis zur Quelle unterhalb der Igreja Senhora da Monte war, konnte ich nicht abschätzen, aber es war sehr weit für nackte Füße.

Das Auffälligste an den Kindern waren ihre runden Bäuche, die die Kleinen wohlgenährt erscheinen ließen, wüsste man nicht um die Folgen der Unterernährung. Nur Enkembe hatte keinen so aufgedunsenen Bauch. Er stand bei seinen Geschwistern und bastelte an einem Drahtgestell herum. Not beflügelt zuweilen die Fantasie. Enkembe hatte aus Draht und einer zerbeulten Fanta-Dose ein kleines Vehikel geformt, das die Grundform eines Autos erkennen ließ. Er hatte uns bemerkt, rührte sich jedoch nicht vom Fleck. Ein wenig beklommen winkte ich ihm zu. Nur mit den Augen und einem leichten Lächeln, schon kam er angeflitzt. In meiner Tasche zusammengeknüllt steckte ein Ringelpullover, den ich eigens für den Jungen mitgenommen hatte. Das war es, was mir den ganzen Weg über eigenartig auf der Seele brannte. Man wusste nie, womit man den Menschen hier eine Freude bereiten konnte. Einmal wollte ich einer Landfrau meine Strickjacke schenken. Sie saß vor ihrer armseligen Hütte bei den Hügeln außerhalb der Stadt und stillte ihr Kind. Die pralle Brust quoll aus den Löchern ihres zerfetzten Kittels. Dennoch wehrte die Frau meine großzügige Gabe ab. Für sie hatte das Ding keinen praktischen Wert. Ihrer Geste zufolge wollte sie lieber pano, irgendeinen Stoff, in den sie sich selbst nach Belieben wickeln oder ihr Kind damit auf dem Rücken festbinden konnte. Sicher war Stoff auch hilfreich für die Nacht, deckte den Körper zu, oder auch zwei. Jedenfalls besser, als die schön gemusterte Jacke, die nur für einen einzigen Menschen taugte, nur für den Tag geschaffen war und nur für einen Teil des frierenden Körpers reichte.

Der Junge schien nicht so weltfremd, er würde sich sicher über den farbenfrohen Pullover freuen, dachte ich. Mir war das gute Stück von jeher zu auffällig gemustert, zumindest für eine Frau um die vierzig mit schlichtem Selbstverständnis. Irgendwann in diesem Land und mit ungeeigneten Waschmitteln war er beim Waschen auch noch eingelaufen. Es fiel also nicht schwer, auf diesen Pullover zu verzichten. Ich zog ihn erst aus der Tasche, als Enkembe vor mir stand. So wie ich ihn an den Körper des Jungen hielt, ging er ängstlich einen Schritt zur Seite. Es schien, als erinnerte er sich in diesem Moment an Arnes Worte über das Krokodil und gab mir zu verstehen, dass er nicht zu tauschen berechtigt sei.

»Eu nào queria trocar«, sagte ich wahrheitsgemäß, obwohl sich Hellen bereits wunderte, warum ich plötzlich nichts tauschen wollte. Die Szenerie jenseits des Zaunes hatte offenbar ihren Hang zum Protest erstickt. Zum Tauschen wäre mir, hätte ich es vorgehabt, in der Tat nicht mehr zumute gewesen. Zwar schien auch der Junge verwundert, sein Blick aber senkte sich traurig. Sanft, beinahe ehrfürchtig berührten seine zerschundenen Hände das weiche Material, das ich ihm mit Nachdruck über die Schultern legte.

»Para ti.«

»Para mi?«, flüsterte er fragend. Dabei füllten sich seine großen Augen wässrig. Wenn man will, kann man feuchte Augen bei einem heranwachsenden Kind als Ausdruck eines tapfer ertragenen Leides ansehen. Ich sah sie so, weil ich nur Freude in den Augen des Jungen erwartet hatte, den ganzen Morgen schon. Ich lächelte und schluckte schwer an dem Kloß, der meine Kehle blockierte. »Sim, sim, para ti.«

Mit kurzem Nicken gab ich ihm ein Zeichen, er solle ihn überstreifen. Enkembe zögerte und warf seine Blicke um sich, doch niemand befahl ihm, es nicht zu tun. Niemand hinter dem Zaun gab auf ihn acht. So wie er meine Hand auf seiner Schulter spürte, erstarrte er. Ich konnte nicht anders, als meinen Finger über seine Haut streichen zu lassen, behutsam doch vor den Blicken der Leute an der Hütte verborgen. Ich würgte schwer am Kloß in meinem Hals. »So para ti!« Das sollte ihm die nötige Sicherheit geben, es sei ein Geschenk nur für ihn und das könne ihm keiner mehr nehmen. Der Junge blickte auf, blinzelte mit einem lachenden Auge zu mir auf und schlüpfte ungeschickt mit vor Ehrfurcht erstarrten Gliedern durch die Ärmel, ehe sein Kopf nach einem rasanten Aufwärtsschwung der schon ringelbedeckten Arme durch die Halsöffnung schlüpfte.

Ich merkte schnell, dass sich hinter Enkembes wachem Blick etwas ganz Besonderes verbarg, etwas, das in diesem Umfeld nicht ans Tageslicht drängen durfte, wohl aber im Verborgenen loderte, genau so, wie es in meiner eigenen, überaus armen Kindheit gewesen war. Niemand durfte bemerken, wie ständige Hoffnung, wie unerfülltes Sehnen nach wahrlich winzigen Freuden die arme Kinderseele verbrannte. Am wenigsten sollte meine Mama es spüren, die sich schon viel zu sehr zu mühen hatte, um fünf hungrige Mäuler durch die Wirren der Nachkriegszeit zu bringen.

Dieser Junge wird sich von seinem widrigen Leben ebenso wenig unterkriegen lassen, da war ich sicher. Solange ich in der Nähe war, klebten seine Blicke an mir, stolz, leuchtend. Ein heimliches Flehen aber blieb. Ich musste mich zurückhalten, durfte keine Hoffnung schüren, die nicht zu halten war.

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