Kitabı oku: «Das Leben des Klim Samgin», sayfa 10

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»Mein Zimmerwirt, ein Briefträger, lernt bei mir Geige, weil er seine Mama liebt und sie nicht durch eine Heirat betrüben möchte. »Eine Frau ist schließlich doch ein fremder Mensch«, sagt er. »Versteht sich, heiraten werde ich, aber erst nach Mamas Tode.« Jeden Sonnabend besucht er ein öffentliches Haus und danach ein Bad. Er spielt schon das fünfte Jahr, aber nichts wie Übungen, denn er schwört darauf, wenn er nicht vorher sämtliche Etüden durchgenommen habe, würde das Spielen von Stücken seinem Gehör und seiner Hand schaden.«

Makarow verstummte und wurde finster.

»Was soll das?« fragte Klim.

»Ich weiß nicht«, antwortete Makarow. während er aufmerksam den Rauch seiner Zigarette verfolgte. »Es besteht hier ein Zusammenhang mit Wanjka Dronow. Wanjka lügt zwar todsicher, er hat bestimmt keinen Liebesroman gehabt, aber daß er mit unzüchtigen Photographien gehandelt hat, ist wahr.«

Er schüttelte heftig den Kopf und fuhr fort, leise und erbost:

»Eine blöde Stimmung. Alles ist unwichtig, außer dem Einen. Ich fühle mich nicht als Mensch, sondern nur als ein Organ des Menschen. Beschämend und widerlich ist das. Als schärfe irgend so ein Inspektor dir ein: »Du bist ein Hahn, mach, daß du zu den dir zugewiesenen Hennen kommst!« Und ich will die Henne und will sie auch nicht. Ich will Übungen spielen. Du, gescheiter Kopf, fühlst du etwas derartiges?«

»Nein«, log Klim in bestimmtem Ton.

Man schwieg eine Weile. Makarow saß zusammengekrümmt, mit übereinandergeschlagenen Beinen. Klim fixierte ihn interessiert und fragte:

»Was empfindest du denn für das Weib?«

»Die Furcht Gottes!« sagte finster Makarow, stand auf und griff nach seiner Mütze.

»Ich werde irgendwohin gehen.«

Als Klim sich dieser Szene erinnert hatte, dachte er mit Ärger an Tomilin. Dieser Mensch sollte etwas Beruhigendes wissen, etwas, das von Scham und Furcht befreite, und sollte es sagen. Schon mehrmals hatten Klim und Makarow, – jener behutsam, dieser ausfallend und drängend versucht, mit dem Lehrer ein Gespräch über die Frauen in Gang zu bringen, doch Tomilin war so eigentümlich taub für dieses Thema, daß er Makarow die verärgerte Bemerkung abnötigte:

»Er verstellt sich, der rothaarige Satan!«

»Vermutlich hat er sich verbrannt«, grinste Dronow, und dieses Grinsen, das Klim an die Szene im Garten denken ließ, weckte in ihm den Verdacht: »Wirklich, sollte er gesehen haben? Weiß er?«

Nur ein einziges Mal gab der Lehrer dem ausdauernden Drängen Makarows nach. Beiläufig und ohne die jungen Leute anzublicken, sagte er:

»Über die Frau muß man in Versen reden. Ohne Würze ist diese Speise ungenießbar, und – ich liebe Verse nicht.«

Die Augen zur Decke richtend, empfahl er:

»Lest Schopenhauers »Metaphysik der Liebe«, darin findet ihr alles, was ihr wissen müßt. Als ganz passable Illustration dazu mag euch die »Kreutzersonate« von Tolstoi dienen.«

Alle drei besuchten Tomilin immer seltener. Gewöhnlich trafen sie ihn hinter einem Buch an, er stemmte beim Lesen die Ellenbogen auf den Tisch und hielt sich mit den Händen die Ohren zu. Manchmal lag er mit eingezogenen Beinen auf dem Bett, hielt das Buch auf den Knien, und zwischen seinen Zähnen steckte ein Bleistift. Das Klopfen beachtete er zuweilen nicht, dann mußte man es drei- bis viermal wiederholen.

»Ich bin keine Frau«, pflegte er zu erklären, und hinzuzufügen: »Ich bin nicht nackt.«

Nach einigem Nachdenken ergänzte er noch: »Nicht verheiratet.«

Er durchmaß das Zimmer und lehrte:

»In der Welt der Ideen hat man diejenigen Subjekte zu unterscheiden, die suchen, und solche, die sich verstecken. Jene wollen um jeden Preis den Weg zur Wahrheit finden, wohin immer er führe und sei es auch in den Abgrund, ins Verderben. Die zweiten wollen nichts als sich verkriechen, als ihre Furcht vor dem Leben, ihre Ratlosigkeit vor seinen Geheimnissen in einer bequemen Idee verstecken. Der Tolstoianer ist eine lächerliche Type, aber er vermittelt eine überaus plastische Vorstellung von den Menschen, die sich verkriechen.«

Klim sah, daß Makarow in gebückter Haltung des Lehrers Füße beobachtete, als warte er darauf, daß er stolpere, warte ungeduldig, und daß er seine Fragen aufdringlich und laut stellte, als wolle er einen Eingeschlafenen aufwecken, aber keine Antwort erhielt.

Während er der ruhigen, nachdenklichen Stimme seines Lehrers lauschte, suchte Klim zu erraten, wie die Frau sein mußte, die einen Tomilin lieben konnte. Wahrscheinlich häßlich und unbedeutend wie Tanja Kulikow oder Katins Schwägerin, die alle Hoffnung auf Liebe verloren hatte. Doch diese Grübeleien hinderten Klim nicht, beißende Paradoxe und Aphorismen aufzufangen.

»Der Weg zum wahren Glauben geht durch die Wüste des Unglaubens«, vernahm er. »Glaube als bequeme Gewohnheit ist unendlich viel schädlicher als Zweifel. Denkbar ist sogar, dass der Glaube in seinen krassesten Erscheinungsformen eine psychische Krankheit ist: Gläubige sind Hysteriker und Fanatiker wie Savanarola oder der Protopop Awakum, im günstigsten Fall Schwachsinnige, wie der heilige Franziskus von Assisi.«

Von Zeit zu Zeit unterbrach Dronow ihn mit Fragen sozialen Charakters. Aber der Lehrer blieb ihm entweder die Antwort schuldig, oder er sprach widerwillig und verschwommen.

»Es ist falsch zu glauben, wenn die Menschen zu einer Organisation, zu einer Partei vereinigt seien, müsse ihre Energie wachsen. Das Gegenteil trifft zu: indem die Menschen ihre Wünsche, Hoffnungen und Pflichten auf den Führer abwälzen, drücken sie sowohl die Temperatur als auch das Wachstum ihrer persönlichen Energie herab. Die idealste Verkörperung der Energie ist Robinson Crusoe.«

Als erster wurde Makarow dieser Offenbarungen müde.

»Wir müssen gehen«, sagte er grob. Tomilin gab ihnen seine warme und feuchte Hand, lächelte und unterließ es, sie noch einmal einzuladen. Makarow begegnete Tomilin immer respektloser, und einmal, als man, von einem gemeinsamen Besuch bei ihm kommend, die Treppe hinabstieg, sagte er absichtlich laut:

»Der Rothaarige kommt mir vor wie eine Tarantel. Ich habe dieses Insekt nie gesehen, aber in der altertümlichen Naturgeschichte von Gorisontow heißt es: ›Die Taranteln sind dadurch nützlich, dass sie in Öl gesotten, als bestes Heilmittel gegen ihre eigenen Bisse dienen!‹«

Diese Bosheit entlockte Dronow ein unangenehm rülpsendes Lachen.

In seine Erinnerungen verloren, hörte Klim plötzlich ein eiliges Rascheln im Salon, dann das tiefe Tönen von Saiten, als habe Rzigas Cello, ausgeruht, sich seines gestrigen Gesangs erinnert und versuche nun, ihn für sich zu wiederholen. Dieser Gedanke, der Klim fremdartig anmutete, verschwand gleich wieder, um der Angst vor dem Rätselhaften Platz zu machen. Er lauschte. Ganz klar: die Töne entstanden im Salon, nicht über ihm, wo Lida zuweilen noch spät nachts die Saiten des Flügels zu beunruhigen pflegte.

Klim zündete eine Kerze an, nahm eine Hantel in die rechte Hand und trat in den Salon. Er fühlte, dass seine Beine zitterten. Das Cello tönte jetzt lauter, das Rascheln wurde vernehmlicher. Augenblicklich erriet er, daß eine Maus im Instrument saß, legte es behutsam mit dem oberen Deckel auf den Fußboden und konnte sehen, wie eine junge Maus, winzig wie eine Küchenschabe, unter ihm hervorkugelte.

Durch die Dunkelheit des Zimmers der Mutter spannte sich ein vertikales und straffes Feuerband, das Licht aus dem Schlafzimmer.

»Sie schläft nicht. Ich werde ihr von dem Mäuschen erzählen.«

Doch als er sich der Tür genähert hatte, prallte er zurück: der Schein der Nachtlampe beleuchtete das Gesicht und den nackten Arm der Mutter, der den behaarten Nacken Warawkas umschlang. Sein struppiger Kopf schmiegte sich an die Schulter der Mutter. Sie lag auf dem Rücken. Ihr Mund stand offen. Sie mußte fest schlafen. Warawka schnarchte gaumig und schien aus irgendeinem Grunde kleiner, als er am Tage war. Dieses ganze Schauspiel hatte etwas Beschämendes, Verwirrendes und zugleich Rührendes.

Wieder in seinem Zimmer, legte Klim sich ins Bett, tief aufgewühlt. Vor seinem geistigen Blick schwebten, eine nach der anderen, die Gestalten der dicken, kleinen Ljuba Somow, der schönen Alina mit ihrer schnippisch aufgeworfenen Lippe, dem kühnen Blick ihrer blauen Augen und ihrer tiefen herrischen Stimme heran. Die Figur Lidas, vertrauter als die der anderen, verdunkelte ihre Freundinnen. Klim dachte an sie und verlor sich in einem sehr dunklen und verschwommenen Gefühl. Er wußte, daß Lida unschön, oft sogar unsympathisch war, und doch fühlte er sich unwiderstehlich zu ihr hingezogen. Sein nächtliches Grübeln über die jungen Mädchen wurde zum Reiz, erregte in seinem Körper eine beklemmende und beinahe schmerzhafte Spannung, und ließ Klim an das abschreckende Buch des Professors Tarnowski über die verderblichen Folgen der Onanie denken, ein Buch, das seine vorausschauende Mutter ihm längst unbemerkt zugesteckt hatte. Er sprang aus dem Bett, zündete die Lampe an und ergriff Melnikows Büchlein »Über die Liebe«. Das Buch war langweilig und handelte nicht von jener Liebe, die Klim aufwühlte. Draußen schüttelte der Wind die Bäume, ihr Rauschen weckte die Vorstellung vom Flug einer zahllosen Vogelschar, vom Rascheln der Mädchenröcke beim Tanz auf den Gymnasiastenbällen, die Rziga veranstaltete.

Klim schlief erst im Morgengrauen ein und erwachte spät, zerschlagen und unwohl. Es war Sonntag, schon läuteten die Glocken den Spätgottesdienst aus. Der Aprilregen klatschte ans Fenster, eintönig summte das Blech der Regentraufe. Klim dachte beleidigt:

»Muß ich wirklich dasselbe durchmachen wie Makarow?«

An Makarow zu denken, ging nicht mehr an, ohne zugleich an Lida zu denken. In Lidas Gegenwart war Makarow erregt und sprach lauter, frecher und spöttischer als gewöhnlich. Aber seine scharfen Züge wurden weicher, seine Augen blitzten fröhlicher.

»Ist es wahr, daß man Makarow wegen Betrunkenheit aus dem Gymnasium entfernen will?« fragte Lida gleichgültig. Klim verstand, daß es eine gespielte Gleichgültigkeit war.

Die Tür öffnete sich zögernd. Das neue Dienstmädchen trat ins Zimmer, dick, dumm, mit gerümpfter Nase und farblosen Augen.

»Die Mama läßt fragen, ob Sie Kaffee wünschen. Weil bald gefrühstückt wird.«

Die weiße Schürze umspannte straff ihre Brust. Klim mußte daran denken, daß ihre Brüste wohl ebenso hart und rauh waren wie ihre Waden.

»Ich will nicht«, sagte er wütend.

Plötzlich fand er, daß Lidas Liebesroman mit Makarow dümmer sei als alle anderen Romane der Gymnasiasten mit den Gymnasiastinnen, und fragte sich:

»Vielleicht bin ich überhaupt nicht verliebt, sondern erliege nur allmählich der Atmosphäre allgemeiner Verliebtheit und bilde mir alles ein, was ich empfinde?«

Doch diese Überlegung, weit entfernt, ihn zu beruhigen, rief ihm nur das halbverrückte Geschwätz des angeheiterten Makarow in Erinnerung. Auf seinem Stuhl schaukelnd und sich abmühend, mit den Fingern die widerspenstigen, zweifarbigen Haarsträhnen zu kämmen, hatte er mit schwerer, betrunkener Zunge gesagt:

»Die Physiologie lehrt, daß nur neun von unseren Organen sich in progressiver Entwicklung befinden, und daß wir absterbende, rudimentäre besitzen – verstehst du? Vielleicht lügt die Physiologie, vielleicht aber haben wir tatsächlich absterbende Sinne. Jetzt stell dir vor, der Trieb zum Weibe sei so ein agonisierendes Gefühl. Daher ist es dann wohl so quälend, so ausdauernd, wie? Stell dir vor, der Mensch begehre nach Tomilins Theorie zu leben, he? Das Hirn, der Sitz des forschenden schöpferischen Verstandes, der Teufel hol ihn, beginnt schon, die Liebe als ein Vorurteil aufzufassen, nicht wahr? Und vielleicht sind Onanie und Homosexualität ihrem Wesen nach Bestrebungen, sich vom Weibe zu befreien? Wie denkst du?«

Diese Fragen richtete er an Klim, als sie ihn noch nicht ängstigten, und die betrunkenen Reden seines Kameraden flößten Klim damals nur Widerwillen ein. Doch jetzt erschien ihm das Wort »Befreiung vom Weibe« nicht gar so dumm, und es war beinahe wohltuend, sich zu vergegenwärtigen, daß Makarow immer mehr dem Trunk verfiel, wenngleich es den Anschein hatte, als würde er ruhiger und zuweilen so nachdenklich, daß man glauben konnte, er sei unversehens mit Blindheit und Taubheit geschlagen. Klim fiel auf, daß Makarow, wenn er sich eine Zigarette anzündete, das Streichholz nicht auslöschte, sondern es im Aschenbecher sorgsam zu Ende brennen ließ oder es solange zwischen seinen Fingern hielt, bis es heruntergebrannt war. Die stets aufs neue versengte Haut an seinen beiden Fingerspitzen war dunkel geworden und schwielig wie bei einem Schlosser.

Klim unterdrückte die Frage, weshalb er das tue. Er zog überhaupt vor, stillschweigend zu beobachten, ohne auf Erklärungen zu drängen, eingedenk der unglücklichen Versuche Dronows und Warawkas schlagenden Ausspruchs:

»Dumme fragen mehr als Wißbegierige.«

Neuerdings trug sich Makarow mit dem Buch eines anonymen Autors, »Triumphe des Weibes«. Er pries es so flammend und beredt, daß Klim sich das dicke Buch von ihm auslieh. Er las es aufmerksam durch, fand aber darin nichts der Begeisterung Würdiges. Der Verfasser schilderte in ledernem Stil die Liebe Ovids und Korinnas, Petrarcas und Lauras, Dantes und Beatrices, Bocaccios und der Fiametta. Das Buch war angefüllt mit prosaischen Übersetzungen der Elegien und Sonette. Lange und argwöhnisch grübelte Klim darüber nach, was in aller Welt seinen Kameraden daran so bezaubert haben konnte. Da er es nicht entdecken konnte, fragte er Makarow selbst.

»Du hast es nicht verstanden?« staunte der, schlug das Buch auf und las den ersten besten Satz aus dem Vorwort des Verfassers:

»›Der Sieg über den Idealismus war gleichzeitig der Sieg über das Weib.‹ Da hast du die Wahrheit. Die Höhe der Kultur wird durch das Verhältnis zur Frau bestimmt, verstehst du?«

Klim nickte zustimmend, tat einen Blick in Makarows scharfes Gesicht, in seine frechen Augen und begriff sogleich, daß Makarow die »Triumphe des Weibes« wegen der zynischen Geständnisse Ovids und Bocaccios, keineswegs aber wegen der Dantes und Petrarcas brauchte. Ohne Zweifel diente ihm das Buch lediglich dazu, Lida in eine geeignete Gemütsverfassung zu bringen.

»Wie einfach ist alles im Grunde«, dachte er mit einem scheelen Blick auf Makarow, der mit Wärme von Troubadours, Turnieren und Duellen sprach.

Im Eßzimmer fand Klim die Mutter, die erfolglos versuchte, ein Fenster zu öffnen. Mitten im Zimmer aber stand ein dürftig gekleideter Mann in schmutzigen, langen, bis an die Knie hinaufreichenden Stiefeln. Er hielt den Kopf weit zurückgeworfen, hatte den Mund geöffnet und schüttete ein weißes Pulver auf seine herausgestreckte, zu einem »Boot« gefaltete Zunge.

Klim trat zu seinem Onkel, machte eine Verbeugung und reichte ihm die Hand, ließ sie aber gleich wieder sinken. Jakow Samgin, ein Glas Wasser in der einen Hand, rollte mit den Fingern der anderen aus der Hülle des Pulvers ein Kügelchen, leckte sich die Lippen und sah in das Gesicht seines Neffen mit einem unnatürlich glänzenden Blick seiner grauen Augen, deren Lider entzündet waren. Nachdem er einen Schluck Wasser genommen hatte, stellte er das Glas hin, ließ das Papierkügelchen fallen und drückte sodann mit seiner dunklen, knochigen Hand die Hand des Neffen. Mit hohler Stimme fragte er:

»Das ist wohl der jüngere? Klim? Und Dmitri? Aha, Student? Naturwissenschaftler natürlich?«

»Sprich lauter, das Chinin macht mich allmählich taub«, verständigte Jakow Samgin Klim. Er setzte sich an den Tisch, schob das Service mit dem Ellenbogen zur Seite und zeichnete mit dem Finger einen Kreis aufs Tischtuch.

»Also einen geheimen Treffpunkt gibt es nicht? Zirkel sind nicht mehr da? Sonderbar. Was treibt man denn jetzt?«

Die Mutter zuckte die Achseln und zog die Augenbrauen in eine Linie zusammen. Ohne ihre Antwort abzuwarten, sagte Samgin zu Klim:

»Du staunst? Hast solche noch nicht gesehen? Ich, mein Lieber, habe zwanzig Jahre in Taschkent, im Gebiet von Semipalatinsk zugebracht, unter Menschen, die man gut und gern Wilde nennen kann. Ja. Als ich in deinen Jahren war, nannte man mich ›L'homme qui rit‹.«

Klim bemerkte, daß sein Onkel L'homme wie »Ljom« aussprach.

»Hab Gräben ausgehoben. Bewässerungskanäle. Dort wütet das Fieber, Freund.«

Der Onkel musterte das Eßzimmer und rieb sich fest die Backe ab.

»Hm, Iwan ist reich geworden. Was macht er? Sein Geschäft geht?«

Er sandte noch einmal seinen tastenden Blick durch das Zimmer und entfärbte es in Klims Augen.

»Wie ein Bahnhofsbüfett.«

Er brachte ins Eßzimmer den Geruch dumpfigen Leders und noch einen anderen, ebenso schweren. Von seinen knochigen Schultern hing eine weite, eisengraue, vorn aufgeknöpfte Jacke herab, darunter wurde ein graues Hemd von grobem Leinen sichtbar. Um den runzligen Hals, unterhalb des spitzen Adamsapfels, schlang sich, zu einer Schnur zusammengedreht, ein seidenes Tuch, alt und rissig in den Falten. Das erdfarbene Gesicht, die greisen, spärlichen Nadeln des gestutzten Schnurrbarts, der kahle, verräucherte Schädel mit den Überresten krausen Haars im Nacken, hinter den dunklen, ledernen Ohren, – das alles machte ihn einem alten Soldaten oder einem ausgestoßenen Mönch ähnlich. Doch seine Zähne blitzten weiß und jung, und der Blick seiner grauen Augen war klar. Dieser ein wenig zerstreute, doch tiefsinnige Blick unter buschigen Brauen und tiefen Stirnfalten hervor schien einem Halbverrückten zu gehören. Der ganze Onkel hatte etwas beklemmend Fremdes. Die Möbel büßten unter seiner Gegenwart ihr solides Aussehen ein, die Bilder verblaßten, vieles andere wurde schwer, überflüssig, beengend. Des Onkels Fragen klangen wir die Fragen eines Examinators, die Mutter war erregt, antwortete trocken, kurz und schuldbewußt.

»Nun, und was für Zirkel habt ihr auf dem Gymnasium?« vernahm Klim, und da er schlecht unterrichtet war, antwortete er unsicher, doch achtungsvoll, als wäre es sein Lehrer Rziga, der fragte:

»Tolstoianer. Dann noch Ökonomisten . . . ein paar.«

»Erzähle!« forderte der Onkel auf, »Die Tolstoianer sind eine Sekte? Man erzählte mir, sie gründen Kolonien in den Dörfern.«

Er schüttelte den Kopf.

»Das hat sich überlebt. Wir haben es selbst getan. Ich kenne ja die Sektierer gut, ich war Propagandist bei den Molokanen im Gouvernement Saratow. Über mich, sagt man, hat Stepniak geschrieben, – Krawtschinski, kennst du ihn? Gussew – das bin ich.«

Gut, daß er die Antworten nie abwartete. Immerhin, über die Tolstoianer wollte er Genaues wissen.

»Nun, was machen die denn? Kolonien, schön, aber sonst?«

Klim schielte zur Mutter hin, die am Fenster saß. Er hätte sie gern gefragt, warum es kein Frühstück gab. Aber die Mutter blickte zum Fenster hinaus. So teilte er denn, um nicht aus dem Konzept zu kommen, dem Onkel mit, im Flügel wohne ein Schriftsteller, der ihm besser als er über die Tolstoianer und alles Wissenswerte Auskunft geben könne, er selbst sei zu sehr mit den Wissenschaften beschäftigt.

»Für uns waren die Wissenschaften kein Hindernis«, tadelte der Onkel und schürzte seine greise Lippe. Dann fragte er ihn nach dem Schriftsteller:

»Katin? Kenne ich nicht.«

Es gefiel ihm sehr, daß der Schriftsteller unter Polizeiaufsicht stand, er lächelte:

»Ah, also einer von den Ehrlichen. Zu meiner Zeit waren ehrliche Schriftsteller – Omulewski, Nefedow, Boshin, Stanjukowitsch, Sassodimski. Lewitow war ein Schwätzer. Slepzow liebte den Klatsch. Uspenski ebenfalls Es gab zwei Uspenskis, der eine schrieb frech, der andere so so la la, mit einem ironischen Lächeln.«

Er überließ sich seinen Gedanken. Plötzlich fragte er die Mutter:

»Ich vergaß, Iwan schreibt mir, er habe sich von dir getrennt. Mit wem lebst du denn, Wera? Wohl mit einem reichen Mann? Advokat, wie? Aha, Ingenieur. Liberaler? Hm . . . Und Iwan ist in Deutschland, sagst du? Warum nicht in der Schweiz? Er ist zur Kur dort, nur zur Kur? Früher war er gesund. Aber ohne feste Grundsätze. Das war allen bekannt.«

Er schrie wie ein Tauber, seine heisere Stimme klang herrisch. Auch die kargen Antworten der Mutter wurden lauter, noch einige Augenblicke, und sie würde zu schreien anfangen.

»Wie alt bist du, fünfunddreißig, siebenunddreißig, was? Jugendlich«, sagte Jakow Samgin, verstummte unvermittelt, zog ein Pulver aus seiner Jackentasche, nahm es ein, trank ein paar Schlucke Wasser nach, setzte das Glas fest auf den Tisch und befahl Klim:

»Nun denn, führe mich zu deinem Schriftsteller. Zu meiner Zeit hatten Schriftsteller etwas zu sagen.«

Über den Hof bewegte sich Onkel Jakow, indem er sich langsam umblickte wie jemand, der sich verlaufen hat und mühsam längst vergessene Einzelheiten aus seinem Gedächtnis hervorsucht.

»Das Haus gehört Iwan?«

»Dem Großvater, aber Warawka hat es ihm abgekauft.«

»Wer?«

Klim wußte nicht, wie er antworten sollte, da antwortete der Onkel, ihm ins Gesicht blickend, selbst:

»Verstehe, der Ehegenosse deiner Mutter. Warum wirst du verlegen? Eine ganz gewöhnliche Sache. Die Frauen lieben das, – Luxus und dergleichen. Was für ein Stutzer bist du, Bruder«, schloß er unvermittelt.

Katin empfing Samgin achtungsvoll wie einen Vater und überschwenglich wie ein Jüngling. Er lächelte, verbeugte sich, schüttelte mit beiden Händen die dunkle seines Gastes und sagte hastig:

»Ich sah Sie vom Fenster aus und fühlte sofort: das ist er! Sarachanow schrieb mir aus Saratow . . .«

Onkel Jakow musterte lächelnd die ärmliche Behausung, und Klim bemerkte sofort, wie sein dunkles, runzliges Gesicht heller und jünger wurde.

»Na, na«, sagte er, während er auf dem verfallenen Sofa Platz nahm. »So, so. Na, in Saratow weilt noch der und jener. In Samara scheinen irgendwelche . . . Ich verstehe nicht. Simbirsk ist wie eine unbewohnte Hütte.«

Er zählte noch einige Wolgastädte auf und fragte schließlich:

»Nun, und was macht ihr hier? Reden Sie lauter und nicht so schnell, ich höre schlecht, das Chinin macht taub«, und als wage er nicht zu hoffen, daß man ihn verstehe, hob er die Hände und zupfte an seinen Ohrläppchen. Klim dachte, diese von der Sonne versengten, dunklen Ohren müßten bei der Berührung knistern.

Der Schriftsteller schilderte nun das Leben der Intelligenz im Ton eines Menschen, der voraussieht, daß man ihn wegen irgendeiner Sache beschuldigen wird. Er lächelte verlegen, bewegte entschuldigend die Hände, nannte Namen von Freunden, die Klim kaum bekannt waren, und fügte regelmäßig kummervoll hinzu:

»Er hat ebenfalls einen Posten bei der Landschaftsversammlung angenommen . . . als Statistiker.«

»Bei der Landschaftsversammlung, das ist gut«, billigte Onkel Jakow, schränkte aber ein: »Das genügt aber nicht.«

Dann seufzte er, seinen Adamsapfel vorschiebend:

»Verwildert seid ihr.«

»Klugwerden nennt man das jetzt«, erklärte schuldbewußt Katin. »Es gibt sogar eine Erzählung zu dem Thema Verrat an der Vergangenheit. Die heißt wörtlich so: ›Klug geworden.‹ Sie ist von Bobrykin.«

»Bobrykin ist ein Schwätzer«, verurteilte der Onkel. Er hob die Hand. »Ahmen Sie ihn nicht nach, Sie sind jung. Man darf Bobrykin nicht nachahmen.«

Leise ging die Tür auf. Scheu trat die Gattin des Schriftstellers ins Zimmer. Er sprang auf und nahm sie an der Hand:

»Meine Frau. Jekaterina, Katja.«

Jakow Samgin musterte freundschaftlich die Frau und schmunzelte:

»Eine Popentochter?«

»Ja.«

»Die ganze Erscheinung! Man irrt sich nicht. Kinder?«

»Sie sterben alle.«

»Hm. Und was liest denn jetzt so die Jugend?«

Katin sprach jetzt leiser und weniger lebhaft. Ungeachtet der Freude, mit der der Schriftsteller den Onkel begrüßt hatte, schien er ihn zu fürchten wie ein Schüler seinen Lehrer, während Onkel Jakows heisere Stimme heftiger wurde und in seinen Worten zahlreiche gurrende Laute mittönten.

Klim wäre gern weggegangen, es schien ihm aber unpassend, den Onkel allein zurückzulassen. Von der Ofenecke aus beobachtete er, wie die Frau des Schriftstellers um den Tisch herumging und geräuschlos das Teeservice aufdeckte, während sie scheue Blicke auf den Gast warf.

Sie schrak sogar zusammen, als Onkel Jakow sagte:

»Die Revolution wird nicht mit Zwischenakten gemacht.«

Klim war froh, als das Mädchen ihn zum Frühstück holte. Onkel Jakow lehnte die Einladung ab.

»Ich nähre mich nur von gekochtem Reis, Tee und Brot. Und wer frühstückt auch um zwei Uhr?« tadelte er, nach einem Blick auf die Wanduhr.

Daheim im Eßzimmer lief Warawka stirnrunzelnd und sich den Bart mit einem Kamm striegelnd auf und ab. Er empfing Klim mit der Frage:

»Und der Onkel?«

»Er nährt sich nur von gekochtem Reis.«

Schweigend ging man zu Tisch. Die Mutter seufzte und fragte:

»Wie gefällt er dir?«

Klim, der die Stimmung erriet, antwortete:

»Er ist sonderbar.«

Die Mutter lehnte sich zurück, kniff die Augen zu und sagte:

»Wie ein Gespenst.«

»Ein hungernder Hindu«, bekräftigte ihr Sohn.

»Er kann nicht älter sein als fünfzig«, grübelte laut die Mutter. »Er war fröhlich, ein flotter Tänzer, ein Spaßvogel. Plötzlich ging er ins Volk, zu den Sektierern. Eine unglückliche Liebe scheint dabei mitgespielt zu haben.«

»Sie haben alle eine unglückliche Liebe mit einer ganzen Geschichte. Diese Geschichte heißt ›Messalina‹, Klim. Sie liebt den Umgang mit jungen Leuten, aber nur flüchtigen. Er hat kaum mit ihr zu spielen und zu träumen angefangen, da haben schon neue Liebhaber seinen Platz eingenommen.«

Er wischte sich sorgfältig mit der Serviette den Bart ab und begann eindringlich zu belehren, daß nicht die Herzen und die Tschernyschewskis die Geschichte machen, sondern die Stevensons und Arkwrights, und daß in einem Land, wo das Volk an Hausgeister und Zauberer glaubt und die Erde mit einem Holzpflug aufritzt, Gedichte nichts vermögen.

»Als erstes brauchen wir einen guten Pflug. Dann erst ein Parlament. Kühne Reden sind wohlfeil. Man muß Worte finden, die die Instinkte bändigen und zugleich den Verstand wecken«, krähte er immer hitziger, durch irgendwas gereizt, und sein Gesicht lief rot an. Die Mutter schwieg besorgt, und Klim verglich unwillkürlich ihr Schweigen mit der Furchtsamkeit der Schriftstellersgattin. Auch die jähe Erbitterung Warawkas hatte etwas Verwandtes mit dem erregten Ton Katins.

»Ich gedenke, ihn im Zwischenstock unterzubringen«, sagte still die Mutter.

»Aber Dronow?« wandte Warawka ein.

»Ja, ich weiß auch nicht . . .«

Warawka zuckte die Schultern.

»Wie du willst.«

Aber Onkel Jakow weigerte sich im Zwischenstock zu wohnen.

»Treppensteigen ist schädlich für mich, ich habe kranke Beine«, erklärte er und zog zum Schriftsteller, in das kleine Zimmer seiner Schwägerin. Die wurde in der Kammer untergebracht. Die Mutter fand es taktlos von Onkel Jakow, nicht bei ihr zu leben. Warawka stimmte ihr darin zu:

»Es ist eine Demonstration.«

Onkel Jakow führte sich in der Tat ein wenig ungewöhnlich auf. Wenn er im Hause vorsprach, grüßte er Klim zerstreut und wie einen Fremden, schritt durch den Hof wie über eine Straße und blickte erhobenen Hauptes, den mit grauen Borsten verzierten Adamsapfel weit vorgereckt, mit den Augen eines Unbekannten in die Fenster, Er verließ den Flügel erst gegen Mittag, während der größten Hitze, und kehrte abends zurück, mit nachdenklich gesenktem Kopf, die Hände vergraben in den Taschen seiner dicken kamelhaargelben Hosen.

»Eine alte Axt«, nannte Warawka ihn. Er verhehlte nicht seine Unzufriedenheit mit Jakow Samgins Anwesenheit im Flügel. Täglich sagte er in grobem Ton etwas Herabsetzendes über ihn, was offensichtlich die Mutter bedrückte und selbst das Dienstmädchen Fenja ansteckte, die sich gegen die Bewohner des Flügels und ihre Gäste ängstlich und feindselig benahm, als hielte sie sie für imstande, das Haus anzuzünden.

Klim, vom Verlangen nach dem Weibe gepeinigt, fühlte, daß er abstumpfte, bleichsüchtig und hinfällig wurde wie Makarow, und er beneidete haßerfüllt Dronow, der zwar das Wolfsbillet erhalten, sich jedoch beruhigt hatte, und nachdem er in Warawkas Kontor eingetreten war, beharrlich fortfuhr, sich bei Tomilin für die Reifeprüfung vorzubereiten.

Klim, der nicht wußte, was er mit sich anfangen sollte, besuchte zuweilen den Schriftsteller. Dort waren neue Gestalten aufgetaucht: die langnäsige Heilgehilfin Isakson und ein kleiner Greis, dessen Augen hinter dunklen Gläsern versteckt waren. Er rieb sich jeden Augenblick die rundlichen Hände und rief:

»Das unterschreibe ich!«

Es kam ein Handwerker, nach seinen Händen zu urteilen, ein Schlosser. Seine Lieblingsredensart war:

»Das haben wir so nötig wie der Hund ein fünftes Bein.«

Die Fensterläden wurden geschlossen, die Scheiben verhängt, doch die Frau des Schriftstellers trat trotzdem von Zeit zu Zeit ans Fenster, hob die Gardine hoch und starrte auf das schwarze Quadrat. Ihre Schwester eilte auf den Hof, sandte Blicke zum Tor hinaus, und Klim hörte sie später beruhigend zu Katins Frau sagen:

»Niemand. Es ist keine Seele draußen.«

Klim achtete fast gar nicht auf die ihm allzu bekannten Reden und Streitigkeiten. Sie gingen ihn nichts an, interessierten ihn nicht. Auch der Onkel trug nichts Neues bei, er war wohl der am wenigsten Redegewandte von allen, seine Gedanken waren grobgezimmert und liefen alle auf eins hinaus: »Man muß das Volk auf eine höhere Stufe heben.«

Klim suchte den Flügel stets dann auf, wenn er vermutete oder sah, daß Lida hinging. Das bedeutete, daß auch Makarow dort sein würde. Aber seine Augen sagten ihm, daß sie noch etwas anderes als Makarow hinzog. Aus einem Winkel und – trotz der verqualmten Stickluft – fest in einen orangefarbenen Schal gehüllt, fixierte sie mit zusammengepreßten Lippen und dem strengen Blick ihrer dunklen Augen die Menschen. Klim fand, in diesem Blick und in Lidas ganzem Betragen lag etwas Neues, beinahe Komisches, ein gewisser gemachter Witwenernst.

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