Kitabı oku: «Schweizerspiegel», sayfa 8
Gleichmütig, mit einem stummen Nicken, kam er jetzt auch zum Nachtessen, setzte sich breitspurig hin und war bereit, gelegentlich ein Wort über das Wetter zu sagen; aber Christian, der nachmittags im Dorf gewesen war, meldete eine Neuigkeit, die sofort eine ungewohnt lebhafte Unterhaltung zur Folge hatte, und außerdem lag ein Brief von Mama neben seinem Teller. «Dein Vater hält dann am offiziellen Tag die Festrede», sagte Christian. «Ich hab’ es heute vernommen.»
Fred blickte ihn nur kurz und forschend an.
«Soso?» sagte Onkel Robert lebhaft. «Jää, reden kann er, das muß man ihm lassen …»
«Uh, dann kommt ihr doch einmal alle zusammen hieher!» rief Lisi.
«Habt ihr keine eigenen Redner, daß ihr sie müßt von Zürich kommen lassen?» fragte Fred.
«Bei einem Kantonalen hält am offiziellen Tag immer ein Regierungsrat oder ein Nationalrat die Rede», erklärte Christian. «Das ist immer so gewesen. Und dann ist er ja auch Ehrenmitglied des Kantonalverbandes … und als Bürger unserer Gemeinde, nicht wahr … er ist da wirklich als erster in Betracht gekommen.»
«Man könnte gar keinen Geeignetern finden», bemerkte Onkel Robert mit Überzeugung. «So, das freut mich, daß er zugesagt hat …»
Das nahende Schützenfest wurde weiterbesprochen, die Mädchen machten Pläne, und Christian erzählte vom Stand der Vorarbeiten.
Fred hörte nur mit halbem Ohr zu; er wurde beim Gedanken an den Brief, den er in den Hosensack gesteckt und dabei zerknüllt hatte, von trüben Ahnungen erfüllt. Nach dem Essen schlenderte er in den aufheiternden Abend hinaus und wunderte sich, wie hell es noch war. Er hatte während des verflossenen Regenwetters gar nicht bemerkt, daß die Tage so rasch zunahmen. Zerstreut ging er den Fahrweg hinauf und gedachte den Brief bei der Abzweigung eines gewissen schmalen Pfades zu öffnen, aber als er dort ankam, folgte er zuerst noch ein wenig diesem hübschen kleinen Pfade durch die Wiesen und stellte fest, daß in den letzten Tagen das Gras doch stark gewachsen war. Er gelangte zu einem Graben, an dem Christian und der Knecht im Nachwinter gearbeitet hatten, und sah mit Befriedigung, daß er den Zweck erfüllte. Das Grundwasser, das nach einer Regenzeit an dieser Stelle sonst immer durchgesickert und in die Wiese hineingeflossen war, sammelte sich jetzt in diesem Graben und fand weiter unten einen natürlichen Abfluß. Er kehrte um und schlenderte dem Stall zu, wo Bärädi auf einer Handorgel übte. Während er mit trübem Lächeln auf die Wiederholung einer Figur hörte, zu der sich der richtige Baß nicht finden wollte, öffnete er nachlässig den Brief.
«Mein Lieber», schrieb Mama, «ich möchte Dich nur rasch daran erinnern, daß Du vor dem Beginn des Sommersemesters noch zum Schneider mußt. Bitte, komm nicht wieder erst am letzten Tage heim, gelt! Dein Aufgebot zur Offiziersschule ist gekommen, ich schicke es Dir nicht nach, weil ich Dich nämlich allernächstens erwarte, Schatz. (Daß Du dann mitten aus dem Semester heraus einrücken mußt, finde ich nicht grad vorteilhaft.) Nach meiner Berechnung bist Du jetzt auch mit den Hemden und Socken zu Ende, mehr hast Du ja nicht mitnehmen wollen. Also! Gestern war Tante Klara hier und hat sich nach Dir erkundigt …»
Fred steckte den Brief wieder in den Hosensack; die paar Familiennachrichten sparte er sich auf. Mit dem finstern Ausdruck, den sein Gesicht während des Lesens angenommen hatte, ging er noch ein paar Schritte und blieb dann vor der im Grase liegenden Hündin stehen, die ihn mit der Rute wedelnd begrüßte; zerstreut sah er zu, wie sie, den Kopf seitlich zur Erde gedreht, mit den Zähnen einen Knochen bearbeitete.
Indessen kamen die Mädchen vom Hause herüber. Lisi schlich sich von hinten an ihn heran und legte ihm die Hände über die Augen. Er rührte sich zunächst nicht, aber dann griff er plötzlich zurück, so daß sie kreischend auswich. «Fred, du machst ein Gesicht wie sieben Tag Regenwetter», rief sie, kam wieder heran und faßte ihn unter dem Arm. «Hast du schlimme Nachrichten bekommen?» Nun trat auch Martha rasch auf ihn zu und faßte ihn unter dem andern Arm, was sie aus eigenem Antrieb, ohne Lisis Beispiel, niemals getan hätte.
«Ach … heim sollt ich wieder!» antwortete er verdrossen. «Saublöd!»
Die Mädchen suchten ihn aufzuheitern, und als sie vor dem Stall zum Knechte kamen, der beim Nahen der Gruppe seinen geläufigsten Ländler angestimmt hatte, begann sich Lisi am vetterlichen Arm zu wiegen. Lisi war ein impulsives, bei jeder Gelegenheit hell auflachendes, lebenslustiges Geschöpf von ansehnlicher Größe, mit einem hübschen, rötlich glühenden Gesichtchen und braunblonden Haaren, die sich häufig in Unordnung befanden und ihr dann ein fröhlich wildes Aussehen verliehen. Neben dieser vollblütigen Schwester entwickelte Martha in Freds Gegenwart auch ihrerseits eine gewisse Lebhaftigkeit, die oft rührend wirkte, da sie nicht einem natürlichen Temperament entsprang, sondern ihrem instinktiven Wunsch, den Vetter mit denselben Mitteln an sich zu ziehen wie Lisi. Ihre bescheidene persönliche Anziehungskraft und ihr besonderer Reiz beruhten aber auf dem Gegenteil. Sie war eine schlanke, stille Gestalt mit braunem, immer sehr ordentlich getragenem Haar und einem länglichen, dunkeläugigen, etwas blassen Gesicht, das am häufigsten einen mütterlich ernsten Ausdruck zeigte, wie sie denn unter gewohnten Umständen auch ein häuslich braves und arbeitsames Wesen an den Tag legte.
Außer diesen Eigenschaften hatte weder Martha noch Lisi einem Städter gegenüber viel einzusetzen. Sie waren keine Bauernmädchen mehr, deren Ursprünglichkeit den Mangel an Bildung aufwiegt, sie hatten ein welsches Institut besucht, französisch gelernt und an Tanzkursen teilgenommen, sie trugen zum Ausgang Kleider nach der Mode, Stöckelschuhe und seidene Strümpfe, und wenn sie von der Zukunft träumten, fiel ihnen kein Bauernhof ein, sondern die Stadt. In diesen Anfängen waren sie steckengeblieben. Ihre geistigen Bedürfnisse gingen nicht über das Allgemeinste hinaus, das die Öffentlichkeit ihnen bot. Sie gehörten zu jener Volksmasse, über die man in höher gebildeten Kreisen die Nase rümpfte, und ein Intellektueller wie ihr Vetter Paul, der die Menschen ausschließlich nach dem Grad ihrer geistigen Kultur beurteilte, wußte nichts mit ihnen anzufangen; nach seiner Meinung waren sie langweilige Provinzgänse. Fred urteilte anders und hatte sein natürliches Wohlgefallen an ihnen.
«Kommt, wir gehen auf die Heubühne!» rief Lisi, begeistert von diesem Einfall. «Es sind neue Bretter drauf, es ist schön glatt, wie gemacht zum Tanzen.»
«Ach nein, Lisi!» widersprach Martha. «Ihr fallt noch herunter!»
Aber Lisi ließ sich nicht abhalten und schob den Vetter, der ihr gutmütig folgte, auf die fest anliegende, mächtige Heuleiter.
Martha zauderte mit bekümmerter Miene einen Augenblick, dann stieg sie hinter den beiden auch hinauf.
Die anderthalb Meter breite Brücke lag unter dem Dachfirst, in der Längsrichtung des Gadens. Auf der einen Seite war der Heustock bereits verschwunden, und hier gähnte jetzt eine dunkle Tiefe; auf der andern Seite aber lag noch soviel Heu, daß man es wagen durfte, hinabzuspringen.
Lisi tanzte mit Fred auf der Brücke hin, aber Fred war nicht zum Tanzen aufgelegt und trieb nur Unsinn, er hielt sich die Tänzerin scherzhaft weit vom Leibe und hüpfte mit krummen Beinen wie ein Frosch tolpatschig um sie herum, als ob er sein Lebtag noch nie getanzt hätte.
«He nein, Fred, tu doch nicht so dumm!» rief Lisi. «Hast du gehört? Wenn du nicht recht tanzen willst, werf ich dich ins Heu hinunter!»
«Oder ich dich!» erwiderte Fred und packte sie an.
Lisi kniff ihn so kräftig in beide Arme, daß er sie fahren ließ, und rannte, von ihm verfolgt, die Brücke entlang, sprang aber plötzlich mit einem fröhlichen Schrei auf den Heustock hinunter. Fred sprang sogleich hinter ihr her, und gleich darauf wagte auch Martha den Sprung.
Lisi aber glitt, eh Fred sie fassen konnte, vom Heu hinab und rannte zur Leiter, auf der sie knapp vor dem hitzig werdenden Verfolger die Brücke wieder erreichte.
Martha glitt vom Stock hinab und blieb unten. «Tut doch nicht wie Kinder!» rief sie. «Ihr fallt sicher noch herunter!»
Aber die Jagd ging weiter, Lisi rannte bis zur Mitte der Brücke, dann sprang sie abermals hinab, und Fred ließ nicht auf sich warten. Als Kinder hatten sie das unzählige Male wiederholt und beim Sprung entzückt aufschreiend eine grauslich wohlige Beklemmung erlebt. Es war auch jetzt noch ein Vergnügen, man spürte im Fallen einen merkwürdigen, kitzligen Druck in der Zwerchfellgegend und plumpste nach der fröhlich bangen Spannung so tief ins Heu hinein, daß man ordentlich Mühe hatte, sich wieder hinauszuarbeiten. Lisi blieb nun jedenfalls stecken, bis der Vetter bei ihr war, ob sie sich nun ergeben wollte oder nicht. Unter seinen strafenden Griffen wieherte sie zuerst wie eine junge Stute, dann gab sie die Abwehr auf, begann zu wimmern und schien bereit, alles auf sich zu nehmen.
Fred drückte sie tief ins Heu hinein, schnaufte sich aus und hielt die Erschöpfte nieder. So verharrten sie eine Weile, das Heu knisterte leise, und der trockene Staub, den sie aufgewirbelt hatten, drang ihnen in die Nase. Auf einmal spürte Fred auf seinem Kopfe Lisis Hand, die über sein Haar zurückfuhr und mit sanftem Druck auf seinem Nacken verweilte.
Martha stand atemlos lauschend unten in der Dunkelheit. «Lisi!» rief sie gedämpft. Als sie keine Antwort erhielt, ging sie zu der Stelle, über der das Heu knisterte, aber der Stock war zu hoch, man konnte weder hinaufklettern noch etwas sehen. Da lief sie aufgeregt zum hintern Tor hinaus und dem Hause zu, als ob sie dort Hilfe zu holen gedächte, aber auf halbem Weg begann sie zu zögern und änderte plötzlich die Richtung. Sie bog nach Westen ab, in die Wiese hinein, die von der Abendröte über dem nahen Bergwald schon kein Licht mehr empfing, und schlich mit feuchten Augen durch die Dämmerung; es schien ihr gleichgültig, daß sie dabei das schönste Gras zertrat.
Am nächsten Morgen unternahm Fred schon früh eine letzte Forschungsreise durch das Rustobel hinab. In den oberen Teilen hielt er sich nicht auf, aber weiter unten, wo er selten gewesen war, drang er nur langsam und neugierig spähend vorwärts. Das Tobel wurde breiter, die Hänge waren weniger steil, aber noch ebenso dicht bewachsen, und wo sich Lichtungen öffneten, hatte man wieder reihenweise junge Tännchen angepflanzt. Manchmal kam ein schmaler Pfad von der Wiese herab, lief dem Bach entlang und verlor sich. In der Nähe von Bauernhöfen gab es am Hang oft häßliche nackte Stellen, die von allem möglichen Kehricht übersät waren. Eine solche Ablage umging Fred oben auf der Wiese und bemerkte dabei, daß er nicht mehr weit von einem Weiler entfernt war, dessen Hausdächer man auf beiden Seiten des Tobels zwischen den Obstbäumen gewahrte. Er stieg wieder hinab, folgte dem Bach noch eine Weile und wollte dann gemächlich umkehren; da entdeckte er eine von Kindern angelegte, aber verlotterte kleine Wassermühle. Am Rade fehlten zwei Schaufeln, eine der Seitenstützen, auf denen sich die Achse gedreht hatte, war zerbrochen, und das Kanälchen, das dem Rad vom Bach her Wasser zugeleitet, ließ sich im versandeten Geröll nur noch erraten. Der Schaden war aber nicht unheilbar. Fred stellte vor allem eine neue Seitenstütze her, legte die Achse wieder auf und trieb das Rad mit dem Finger an; es drehte sich. Jetzt mußte kanalisiert werden, und zwar so, daß das Wasser am Ende genau auf die Radschaufeln hinabfiel. Vorsichtig reinigte und verdichtete er die noch vorhandene Fallschwelle, dann grub er nach rückwärts den alten Kanal wieder auf und öffnete ihn schließlich mit großer Spannung gegen den Bach hin. Das Wasser strömte in das Kanalbett, floß rasch zur Schwelle, fiel hinab – das Rad drehte sich. Fred sah strahlend zu, das Rad drehte sich unter dem Fall und hörte nicht auf, sich zu drehen. Er betrachtete es lange und aus verschiedenen Entfernungen, dann begann er den Kanal auszubauen und befestigte die nachgiebigen Kiesdämme mit großen würfelförmigen Steinen, die er weit herum zusammensuchte.
Endlich mußte er umkehren, man war im Rusgrund pünktlich mit dem Mittagessen, und er wollte nicht am letzten Tage noch zu spät kommen. Statt nun aber den bequemen Fußweg durch die Wiese hinauf einzuschlagen, kehrte er durch das Tobel zurück. «So, Schluß, es ist zu Ende!» dachte er, und dieser Gedanke, den er am Morgen noch gewaltsam unterschlagen hatte, ließ ihn nicht mehr los. Weiter oben, an einem der steilen Hänge, glitt er aus und hielt sich, um schneller vorwärtszukommen, von nun an mehr an das Bachufer, wobei er unbekümmert durch das Wasser watete, wenn ihm hohes Geröll den Weg versperrte. Am Horizont seiner Vorstellungen tauchte die Stadt auf mit ihrer Hatz und ihrem Lärm, mit Hörsälen, Laboratorien, achselzuckenden Professoren und studentischem Komment, mit ihrer geschniegelten Gesellschaft und mit der Kaserne, dieser öden Drillanstalt, wo er bald wieder den Hampelmann spielen mußte. «Hol’s der Teufel! Warum bleib ich nicht einfach hier?»
Er sprang in diesem Augenblick von einem Block auf den nächsten hinüber, glitt aus, stürzte heftig hin und spürte im rechten Fuß einen so rasenden Schmerz, als ob man ihm mit einem Messer das Gelenk durchstieße. «Verflucht, oh verflucht!» stöhnte er laut, mit verkniffener Miene, und blieb regungslos liegen, die Stirn eiskalt umhaucht. Nach ein paar bangen Minuten erholte er sich ein wenig und versuchte vorsichtig, seine unbequeme Lage zu ändern, aber kaum bewegte er den Fuß, ja noch eh er ihn bewegte, beim bloßen Versuch schon, spürte er denselben Schmerz im Gelenk, einen unverschämt plötzlichen, stechenden Schmerz. Er blieb nun eine Weile liegen, so wie er eben lag, und begann sich mit dem Gedanken abzufinden, daß er den Fuß verstaucht, ausgerenkt oder gebrochen hatte. «Soso … aha … na ja!» sagte er kleinlaut.
Indessen begann der Fuß offenbar anzuschwellen und einen immer heftiger spannenden Druck auf den Schuh auszuüben. «Ich muß den Schuh ausziehen», dachte Fred, und versuchte es, aber nur einmal. «Verdammt, verdammt, ich kann doch nicht hier liegenbleiben!» Er begann zu rufen. «Heh! Heh! … Uuui! Heh … Hilfe!» Sowie er «Hilfe» rief, kam ihm das lächerlich vor, er schämte sich, er hatte sein Lebtag noch nie um Hilfe gerufen. Und man schrie doch wegen eines schmerzenden Fußes nicht um Hilfe! «Heh … heh da!» rief er noch ein paarmal, doch war nun offenbar niemand da oben auf den Wiesen, und im Rusgrundhaus konnte man ihn unmöglich hören. «Quatsch!» sagte er ärgerlich. Es war ihm klar, daß er allein hier fortkommen mußte.
Er biß die Zähne zusammen und begann sogleich mit wütender Miene auf den drei heilen Gliedern aus dem Geröll zu kriechen, wobei er das rechte Bein wie einen toten Gegenstand hinter sich her zog und dem heftigen Schmerz, den er bei jedem Anstoßen des Fußes empfand, die ganze erzürnte Kraft seiner Verachtung entgegensetzte. Auf diese Art schleppte er sich im Verlauf einer halben Stunde schräg den Hang hinauf und setzte sich oben erschöpft auf die Böschung. Nach kurzer Rast dachte er an den Brief, den er Mama schreiben mußte. «Liebe Mama, Deiner Aufforderung kann ich leider nicht Folge leisten, ich bleibe vorläufig im Rusgrund.» So gedachte er anzufangen; dann wollte er ein paar allgemeine Gründe dafür anführen, ferner sein ungeheures Bedauern ausdrücken, daß er vermutlich weder das Semester noch die Offiziersschule besuchen könne, und erst ganz am Schluß so nebenbei den Unfall erwähnen. Schmunzelnd legte er sich das zurecht, dann fällte er mit dem Taschenmesser in mühsamer Arbeit die zwei jungen Eschenstämmchen, die er sich beim Hinaufkriechen zum Ziel gesetzt hatte, und benutzte sie auf dem Heimweg als Krücken, wobei ihn die Achselhöhlen bald mehr zu schmerzen begannen als der nun ruhig hängende Fuß.
Er kam vor das Haus, sehr müde, und wurde zuerst von Christian entdeckt.
«Was hast du angestellt?» fragte Christian besorgt.
«Ich bin ein wenig ausgeglitscht … nicht der Rede wert.»
«Häng dich mir da an den Rücken! Ich trag dich die Treppe hinauf …»
«Ja, eigentlich könnte ich selber …» antwortete er zögernd, doch er konnte nicht mehr selber, er war erschöpft, und da sich Christian ohne viel Worte bereitstellte, machte auch er keine Umstände, schlang ihm von hinten die Arme um die Schultern und ließ sich tragen.
Im Hause selbst aber entstand eine ziemliche Aufregung, die Mädchen empfingen ihn mit Schreckensrufen, die in eine Flut von Fragen und Mitleidsbeteuerungen übergingen, die Hausfrau rief Jesus, Maria und Josef an, schickte Christian sogleich mit dem Wagen ins Dorf zum Arzt und erteilte den Töchtern unwirsche Befehle. «Aech, macht doch keine Geschichten!» rief Fred, ernstlich geärgert, und noch als er geborgen in seiner Kammer lag, verwahrte er sich gegen die verschiedenen, seiner Ansicht nach übertriebenen Maßnahmen, die Tante Marie für nötig hielt.
Nach zwei Stunden wurde ihm von einem ältern freundlichen Landarzt der Fuß wieder eingerenkt, was er leicht erbleichend, aber lautlos ertrug. Darauflag er denn als Patient am hellen Nachmittag in seinem buntgeblümten breiten Bett, das rechte Bein auf etwas erhöhtem Lager, den immer noch anschwellenden Fuß in einem Verband mit essigsaurer Tonerde, und begann das Ereignis zu bedenken, eher neugierig als mißmutig, wie einen listigen kleinen Zufall, der die Weiche plötzlich anders stellt als die unentrinnbaren Mächte der Eltern, des Vaterlandes und der Hochschule es haben wollten. «Man muß nur ein bißchen den Fuß verrenken», dachte er belustigt, «dann fällt alles um, was uns lenkt. Was gäbe es für ein Geschrei, wenn ich ohne diesen nichtigen Anlaß fünf Wochen aus meiner Karriere streichen würde! Am Fleisch und Bein hängt alles!» In der Frühe des zweiten Tages, als die Rusgrundsonne hinter den waldigen Hängen heraufkam und seine Kammer erfüllte, stellte er schmunzelnd fest, daß er an diesem Tage unbedingt unter allen Umständen wieder in Zürich sein mußte.
Am nächsten Morgen erfuhr er zu seiner Überraschung freilich, daß vor einem kranken Fuß denn doch nicht alles umgefallen war. Mama nämlich, die seinen Brief gar nicht erst beantwortete, kam, von Gertrud und dem Hausarzt begleitet, in einem geräumigen Mietauto, einem Sechsplätzer, ganz einfach hierher gefahren. Er wurde sorgfältig in die Stadt zurück befördert und nach einer Röntgenaufnahme des Fußes wieder in sein eigenes Bett gesteckt. Indessen fand er sich damit ab. Gertrud hatte bei der Heimfahrt versprochen, ihn zu ihrer neuesten Hausmusik im Wagen abzuholen, sobald der Arzt es erlauben würde, außerdem mußte man ihn auch hier in Ruhe lassen, und die Übersiedlung änderte nichts an der belustigenden Tatsache, daß ein geschwollener Fuß sich stärker erwies als die Notwendigkeit der akademischen Bildung und der Ruf des Vaterlandes.
3
Gertrud hatte bald das Streichquartett, bald die zwei Geiger zum Spiel ins Hartmannsche Haus geladen und war dabei mit Albin Pfister freundschaftlich vertraut geworden; dieser Mensch «interessierte» sie desto mehr, je näher sie ihn kennenlernte, und sie dachte in ihrer gesellschaftlichen Unbefangenheit gar nicht daran, aus konventionellen oder anderen Gründen sich den Umgang mit ihm zu versagen. Ihren Bekannten gegenüber gestand sie denn auch unbedenklich, dieser Pfister sei ein «heillos sympathischer und flotter Kerl». Sie wußte nicht oder noch nicht, was sie zu verschweigen gehabt hätte.
Eines Abends, nachdem die zwei Geiger zum Schluß ein Duo gespielt hatten, fragte sie Albin, an ein früheres Gespräch anknüpfend, plötzlich leise und lebhaft: «Haben Sie mir das Verzeichnis mitgebracht?»
Albin bewegte mit einem ratlosen Lächeln langsam den Kopf, indes seine Hände mit dem Violinbogen zu spielen begannen, den er eben entspannt hatte. «Überlegt habe ich es mir lange», sagte er, «aber … ich kann Ihnen nicht so viel Bücher aufschreiben, wie ich gerne möchte, Sie würden niemals alles lesen … und eine Auswahl zu treffen, ist furchtbar schwierig …»
«Ich will aber alles lesen!» rief Gertrud und erhob sich. «Schreiben Sie alles auf, was Sie …»
«Gertrud, mach dir doch keine Illusionen!» sagte Paul mit einer müden Handbewegung, während er seine Geige, ein altes französisches Instrument, sorgfältig einhüllte. «Du würdest das unmöglich verdauen …»
«Ach was!» rief Gertrud betrübt und ärgerlich zugleich.
«Das möchte ich nicht behaupten», sagte Albin lächelnd, «aber … Sie haben mich gebeten, von Pauls und meinem eigenen Maßstab auszugehen. Dieser Maßstab beruht aber auf einer jahrelangen intensiven Lektüre, die durchaus nicht planmäßig vor sich gegangen ist, sondern scheinbar willkürlich, in Wirklichkeit aber, wie ich überzeugt bin, nach einem geheimen persönlichen Gesetz … ja, nach einem Gesetz, dem, grob gesagt, im Materiellen ungefähr das Gesetz unsrer Ernährung entspricht …»
«Jawohl!» rief Paul, dem dieser Gedanke gefiel. «Genau so! Und nun stell dir vor: du bist klein und hungrig und verlangst jetzt dieselben Speisen und Getränke, die uns während zehn Jahren groß und satt gemacht haben. All das verlangst du auf einmal und hoffst uns dadurch einzuholen …»
«Mein Gott, wie kompliziert!» erwiderte Gertrud unwillig. «Man will ein paar Bücher lesen und …»
«Ein paar Bücher … das ist wieder etwas anderes. Lies aber bitte das Hauptwerk von Schopenhauer, den ganzen Nietzsche, die gesammelten oder meinetwegen ausgewählten Werke von Dostojewski, Tolstoi, Ibsen, Strindberg, Flaubert, Zola und so weiter. Lies das alles ohne die besondere innere Bereitschaft, die jeder einzelne dieser Autoren verlangt, um verstanden oder erlebt zu werden, und du wirst dich am Ende übergeben müssen …»
«So hab ich’s also endgültig verpaßt und bleibe eine dumme Kuh», antwortete sie gereizt.
«Nein, so kommen wir nirgends hin», sagte Albin entschieden. «Und du übertreibst, Paul. Frau Hartmann hat auch Voraussetzungen, nur andere als wir, und …» Er wandte sich an Gertrud. «… Sie kennen Ibsen, Zola und haben auch von den Russen dies und jenes gelesen … ich werde Ihnen doch ein Verzeichnis machen, wenn Sie mir einen Blick in Ihren Bücherschrank gestatten wollen …»
«Ja, bitte kommen Sie!» Ohne Paul weiter zu beachten, ging sie Albin voran in den kleinen Salon. Hier ließ sie sich auf den nächsten Stuhl fallen. «Ach, Paul macht mich immer ganz mutlos», sagte sie finster. «Ich mag nicht mehr von solchen Dingen reden, wenn er dabei ist …»
«Ja, Paul ist ein Skeptiker. Es gibt Dinge, die ich jetzt auch nicht mehr ohne weiteres mit ihm bereden möchte …»
«Nicht wahr?» sagte sie lebhaft. «Mir ist manches … ich will nicht sagen heilig, aber doch so wichtig, daß ich seine Glossen darüber einfach taktlos finde und in Zukunft überhaupt nichts mehr sagen werde … Ja, also das sind die paar Bücher, die ich besonders gern habe … die im Wohnzimmer haben Sie ja schon gesehen …»
Albin stand vor einem kleinen nußbraunen Schrank mit Glastüren und warf nach kurzer Musterung einen erstaunten Blick auf Gertrud, den sie neugierig lächelnd auffing. «Baudelaire, Mallarmé, Maeterlinck …?» fragte er und fuhr dann mit wachsendem Erstaunen fort: «Rilke, George, Hofmannsthal … Ja, aber … davon haben Sie mir nie etwas gesagt! Ich dachte immer, Sie … ja …»
«Jaja, ich sei so eine durchschnittliche Romanratte», ergänzte sie, erhob sich rasch und trat neben ihn. «Sehen Sie, hier …»
«Nein, gewiß nicht! Aber Sie stellten sich so ahnungslos … Ja, das ist ein wundervolles Buch!»
«Warum soll ich davon schwatzen! Ich habe auch mein Refugium …»
«Hm … wir sind den Frauen gegenüber Pedanten, wenn wir glauben, sie brauchten ebenso lange Umwege wie wir, um zu solchen Büchern …» Er brach plötzlich ab, zog einen schmalen Band heraus und sagte beschämt lächelnd: «Aber das gehört nicht hieher, leider!» Auf dem hellgrauen Kartondeckel stand schwarz gedruckt: Albin Pfister, Sonette.
«Für mich gehört es hieher!» erwiderte sie, nahm ihm das Buch weg und schob es wieder hinein. «Kennen Sie das hier?» fragte sie rasch und hielt ihm einen andern Band vor Augen. «Diese Gedichte hab’ ich furchtbar gern …»
Sie standen neben einander zwischen den geöffneten Glastüren, unterhielten sich über die Bücher und fanden immer wieder etwas, das sie beide als bedeutsam oder besonders schön empfunden hatten. Ihre Gesichter waren gerötet vor Wärme und Lebhaftigkeit und ihre Augen strahlten dasselbe freudige Verständnis aus. Albin begann mit wachsendem Eifer davon zu sprechen, welche Haltung dieser neuen Dichtung zugrunde liege, worin ihr Neues bestehe, warum man sie nicht mit den literarischen Erscheinungen der Dekadenz verwechseln dürfe, und wie sie im Begriff sei, den Naturalismus zu überwinden.
An alle diese Erörterungen erinnerte sich Gertrud später nicht mehr, ihr prägte sich nur ein, wie Albin aus sich heraustrat, wie eine klar bestimmte männliche Begeisterung aus seinen ehrlichen Augen leuchtete, wie sein ganzes bescheidenes Wesen etwas kräftig Überzeugendes annahm, und wie sie selber dabei die merkwürdige, durchaus körperliche Empfindung hatte, den Boden des Salons unter ihren Füßen zu verlieren, wie sie sich dann plötzlich gegen diesen Mann zu wehren begann und dem Gespräch ein unerwartetes, kühles Ende bereitete, das sie lange nachher noch beschämend und unverständlich fand. Auch Albin wußte später kaum mehr, was er alles gesagt hatte. Er sah in der Erinnerung an diese Stunde nur Gertruds kräftig schlanke Gestalt, wie sie gleich groß, frei und grad zu seiner Rechten stand, wie sie sich auf ein Knie niederließ, um ein Buch vom untersten Brett zu nehmen, und mühelos neben ihm wieder auffuhr, wie sie zurücktretend sich schief herabbückte, um einen Titel zu lesen, und dabei auf eine ganz besondere Art den Nacken bog, er sah ihren leicht über eine Buchseite gebeugten Kopf und das locker den Scheitel überfließende Haar, er sah ihr nahes, lebhaft glühendes Gesicht und immer wieder die Vertrauen und Liebe erweckenden Augen, die erst am Ende erschrocken zu wissen schienen, was über alle Worte hinaus zwischen ihnen vorging.
Als sie in das Wohnzimmer zurückkehrten, lehnte Hartmann am Flügel, die Rechte mit einer flüchtig gefalteten Zeitung neben sich auf die Kante gestützt, im straffen Gesicht einen Ausdruck verhaltenen Zornes, den Gertrud genau kannte. Er stand vor seinem ungleichen Schwager Paul, der mit ernster Miene sehr bequem in einem ledernen Klubstuhl saß, warf den Eintretenden einen kurzen Blick zu und beantwortete dann irgendeine Frage; mit der Begrüßung Albins übereilte er sich nicht. Gertrud bezog seinen Ausdruck, ja seine bloße Gegenwart zuerst unwillkürlich auf sich und Albin, erkannte aber an der Art seines Blickes sogleich, daß ihn etwas anderes beschäftigte.
Paul begann seine Schwester spöttisch zu mustern, während Albin und der Hausherr mit einem knappen Händedruck sich höflich begrüßten.
«Was ist los?» fragte Gertrud mit gemachtem Erstaunen.
«In Österreich ist ein Ehepaar erschossen worden», antwortete Paul achselzuckend. «Zufällig waren es kaiserliche Hoheiten.»
Hartmann streifte Paul mit einem verächtlichen Blick und gab seiner Frau mit einem Hinweis auf die Nachricht das Zeitungsblatt.
«Mein Gott, das ist ja furchtbar!» sagte Gertrud leise. «Der Thronfolger …»
«Ein Zufall wäre noch viel abscheulicher», sagte Hartmann mit schrägem Blick auf Paul. «Wenn man sich vorstellt, daß irgendein Schuft zufällig einen Erzherzog erschießt … unerträglich ist nur das eigentlich Sinnlose … aber hier handelt es sich um ein politisches Attentat, das ist klar!»
«Furchtbar!» wiederholte Gertrud, während sie das Blatt an Albin weitergab. «Ein neunzehnjähriger Lyzeumsschüler … wie kommt der dazu …»
«Steht in der Meldung», antwortete Hartmann. «Unter dem Einfluß der oppositionellen bosnischen Politik. Es beruht dort alles auf gewissen nationalen Gegensätzen …»
«Sarajevo, ist das …?»
«Die Hauptstadt von Bosnien. In der Meldung eines andern Blattes werden bereits die Serben verdächtigt …»
Paul erhob sich gemächlich und trat zu Albin. «So … wollen wir …?»
Albin nickte und begann Abschied zu nehmen.
«Also wie steht’s mit dem Quartett?» fragte Gertrud, während sie die beiden in den Garten hinab begleitete. «Wollt ihr hieher kommen, oder …?»
«Ach, ich weiß nicht … Junod hat etwas gemunkelt, daß wir bei ihm spielen sollen», antwortete Paul. «Das wird ja natürlich furchtbar kompliziert, aber … wir wollen vorläufig lieber nichts verabreden …»
«Hat’s jetzt nicht gedonnert?» fragte Gertrud und hielt auf dem Gartenweg an.
«Wo? Es ist ja eine ganz klare Nacht! Irgendein Auto oder ein Tramwagen …»
«Ja wahrhaftig … man sieht die Sterne … man ist wie geblendet, wenn man aus dem Licht kommt … ja, gut’ Nacht, Paul, ich lasse Papa und Mama grüßen … gut’ Nacht, Herr Pfister!»
Albin, der seit der Begrüßung Hartmanns kein Wort mehr gesprochen hatte, erkannte in der Dämmerung ihre Hand nicht und zögerte eine Sekunde, dann wünschte er etwas undeutlich gute Nacht und folgte eilig seinem Freunde.
Gertrud blieb zwischen den jungen Blautannen, die den Weg säumten, mit gespannter Miene einen Augenblick stehen, dann kehrte sie rasch in die Wohnstube zurück. Ihren Mann hörte sie in seinem Arbeitszimmer auf und ab gehen. Leise trat sie in die verdunkelte Kinderstube, wo sie ihr Lager eingerichtet hatte. Es war bald halb zwölf Uhr, die Kinder, die gegen zehn Uhr wach gewesen waren, schliefen ruhig. Mit derselben gespannten Miene wie im Garten, nur um einen Zug gequälter, blieb sie vor dem Bette stehen, tat ein paar ziellose Schritte und blieb wiederum stehen, raffte aber endlich, als ob alles Nachdenken ja doch zu keinem vernünftigen Schlusse führen könnte, ein paar Gegenstände auf dem Toilettentisch zusammen und begab sich damit in das gemeinsame Schlafzimmer.
Eine Viertelstunde darauf trat Hartmann ein und begann nach einem kurzen, forschenden Blick auf seine Frau sogleich die Uniformbluse aufzuknöpfen. «Es ist schwer, mit deinem Bruder ein vernünftiges Gespräch zu führen», sagte er so ruhig und selbstverständlich, als ob er nicht wochenlang allein in diesem Zimmer geschlafen hätte. «Er hat mir gegenüber so eine Art von Ressentiment … ich weiß nie, was hinter seinen Worten steckt … und dieser Mord ist doch wirklich kein Anlaß zu Journalistenwitzen.»