Kitabı oku: «Shana»
Micha Rau
Shana
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Impressum neobooks
Kapitel 1
Shana stand vor der Multifunktionswand in ihrem Zimmer und überlegte, was sie anziehen sollte. Sie war nur mit ihrer Unterwäsche bekleidet und musterte sich prüfend von oben bis unten. Der Modesimulator hätte zwar auch so funktioniert, aber manchmal bekam er eine Macke, wenn man komplett angezogen vor ihm stand. Unterwäsche allerdings ignorierte er.
„Hm“, murmelte Shana. „Was zieh ich an? Sportlich? Lässig? Schlabberig? Oder chic?“
Shana war dreizehneinhalb Jahre alt, besaß schulterlange, dunkle Haare, die kaum zu bändigen waren, und haselnussbraune Augen. Ihre Eltern meinten, dass sie ein wenig zu frech sei, aber das sagen wohl alle Eltern. Und sie war schlank. Da war sie allerdings eine Ausnahme, denn alle Leute, die sie kannte, schleppten reichlich Übergewicht mit sich herum.
„Kind, was soll nur aus dir werden?“, seufzte ihre Mutter des Öfteren. „Wenn du erstmal arbeiten musst, brauchst du Kraft. Und wenn du krank wirst, hast du keine Reserven.“
„Ich hab mehr Power als du!“, konterte Shana für gewöhnlich. „Und du bist viel öfter erkältet!“
Diese Diskussionen endeten meist damit, dass ihre Mutter durch den Beamer schwabbelte, um in der Küche den Menücomputer zu nerven.
Shana drehte sich vor dem Spiegel hin und her, stemmte die Arme in die Seiten und grinste,
„Ich werde niemals dick!“, sagte sie mit Nachdruck. Dann warf sie den Kopf in den Nacken und rief laut: „Multiwand, Modeprogramm einschalten!“
Ein leises Summen durchdrang den Raum, während gleichzeitig kleine Röhrchen neben dem Spiegel aus der Wand hervortraten. Ein kaum wahrnehmbares Flimmern umgab jedes von ihnen.
„Welchen Stil wünschen Sie?“, kam eine Stimme aus dem Nirgendwo.
„Mach das Mischprogramm“, antwortete Shana. „Von allem etwas. Und beeil dich. Ich muss in einer halben Stunde bei Krissa sein!“
„Sie stehen außerhalb der Fixpunkte“, dröhnte die Stimme ohne irgendwelche Emotionen. Shana zuckte mit den Schultern und stellte ihre Füße exakt auf die auf ihrem Teppichboden gekennzeichneten Stellen.
„Mach schon“, brummelte sie. „Ich muss mich noch schminken.“
Das Summen verstärkte sich. Augenblicke später schossen aus den Röhrchen scharf gebündelte Lichtstrahlen, so schnell, dass sie nur für den Bruchteil einer Sekunde wahrnehmbar waren. Von einem Moment auf den anderen war Shana eingekleidet. Natürlich nicht richtig, es war nur eine Simulation. Aber die perfekteste, die man sich vorstellen konnte. Obwohl … irgendetwas schien diesmal danebengegangen zu sein.
„Was ist das denn?“, entfuhr es Shana. Entgeistert starrte sie auf eine Hose, die ihr mindestens zehn Nummern zu groß war. Das Oberteil war so riesig, dass sie auch ein Zelt über den Kopf hätte ziehen können. Sie sah aus wie ein grotesker Clown.
„Mama!“ Shana stampfte wütend mit dem Fuß auf. „Multiwand!“, befahl sie. „Kommunikator einschalten! Mit Mutter verbinden!“
„Verbunden“, kam es zurück.
„Mama, warst du schon wieder an meiner Multiwand?“
„Ja, ich geb’s zu!“, lachte ihre Mutter. „Du weißt doch, dass die in unserem Schlafzimmer kaputt ist.“
„Aber du musst fragen, wenn du in mein Zimmer kommst!“, empörte sich Shana. „Und wenn du mein Modeprogramm benutzt, dann stell es wenigstens wieder auf mich ein, wenn du fertig bist! Wenn mich Krissa so sieht, bin ich das Gespött der ganzen Party!“
„Tschuldige!“, säuselte ihre Mutter fröhlich. „Kommt nicht wieder vor!“
„Wehe doch“, grummelte Shana. „Multiwand! Kommunikator ausschalten! Modeprogramm auf Shana wechseln!“
Diesmal unterließ es die Multiwand, etwas zu erwidern. Der nächste gebündelte Lichtstrahl blitzte durch den Raum, und Shana trug passende Klamotten. Eine schwarze, knallenge Jeans, ein weiß-rosa gestreiftes Top und pfirsichfarbene Sneakers.
„Na also, warum nicht gleich so!“, machte Shana zufrieden. „Multiwand! Auswahl auf die Merkliste! Und weiter!“
Als nächstes projizierte die Multiwand eine paillettenbesetzte Bluse mit weißer Hose und schwarzen Pumps.
„Zu affig!“, murrte Shana. „Das nächste!“
Ein kurzer Blitz, und Shana sah aus wie ein kleines Mädchen. Latzhose über Ringelshirt und lila Turnschuhe.
„Igitt!“, entfuhr es ihr. „Das ist ja grauenvoll! Mach das weg!“
Gerade, als der Projektor ein neues Outfit produzierte, ertönte ein Signalton.
„Anruf von Krissa“, sagte die Computerstimme monoton. „Soll ich verbinden?“
Shana zögerte einen Moment und sah kritisch an sich herab. Diesmal hatte das Modeprogramm ein enges T-Shirt mit einem Totenkopf drauf und dazu einen himmelblauen Minirock und Stöckelschuhe gewählt. Shana schüttelte ihren dunklen Schopf.
„Was baust du heute bloß für einen Mist?“, murmelte sie in gespielter Verzweiflung. „Multiwand! Modeprogramm aus! Auswahl von der Merkliste produzieren und in Ausgabe umleiten!“
Der Signalton piepte immer noch.
„Soll ich jetzt verbinden?“
„Ja, aber ohne Visualisierung.“
Die Röhrchen blitzten ein letztes Mal, dann zogen sie sich neben dem Spiegel in die Wand zurück. Shana stand wieder in ihrer Unterwäsche da.
„Krissa?“
„Ja, ich wollte dich fragen, ob du ein paar Zitronenröllchen mitbringen kannst. Unser Küchencomputer macht aus irgendeinem Grund keinen Nachtisch mehr.“
Shana sah auf ihre Armbanduhr. Um drei waren sie bei Krissa zu einer Animationsfilmparty verabredet.
„Kein Problem, das schaff ich noch. Sag mal, was hast du für Filme?“
„Keine Ahnung. Belly hat die Filme ausgesucht.“
„Mann, das wolltest du doch mit mir machen!“, entfuhr es Shana etwas theatralisch empört. „Ich hätte uns Martial Fights besorgen können! Da spielt Cross Layer mit!“
„Wenn du deine Karte für Martial Fights benutzt hättest, hättest du Ärger bekommen und die Karte wäre gesperrt worden“, meinte Krissa belehrend. Dann entfuhr ihr ein Kichern.
„Was lachst du?“ Shana war sauer. „Ich hab mir von Carl den Entsperrungscode besorgt. Jetzt krieg ich alle Filme, die ich will!“
Irgendwo im Raum entstand Krissas Stimme, und wenn Shana den Visulator eingeschaltet hätte, hätte sie ihre Freundin auch sehen können, aber sie wollte nicht unbedingt, dass man sie in Unterwäsche erblicken konnte, zumal sie ihr knappstes Höschen und den gewagtesten BH anhatte.
„Dafür … dafür …“, gluckste Krissa, und man merkte ihr an, wie sie ihr Lachen krampfhaft zu unterdrücken versuchte, „… dafür wirst du gewaltigen Ärger mit deinen Eltern kriegen!“
„Das merken die nie!“, sagte Shana selbstsicher. „Aber warum lachst du eigentlich so blöd? Das ist doch nicht lustig! Wenn Belly die Filme ausgesucht hat, bringt der einen alten Western und Liebe zwischen den Welten mit, das kannst du vergessen! Nach dem Western hauen die Jungs ab. Und mit dem blöden Liebesquatsch kannst du mich jagen!“
Krissa lachte schallend. „Du kennst den Film doch gar nicht! Nun hab dich nicht so! Und außerdem hat unser Essenmacher deine Lieblingsschokokugeln gespeichert.“
Krissa lachte jetzt aus vollem Hals, und plötzlich war es Shana, als würde da noch jemand im Hintergrund lachen.
„Du schwindelst!“, entfuhr es ihr. „Gerade hast du gesagt, dass euer Essenscomputer keinen Nachtisch mehr hinkriegen kann! Sag mal, ist da noch jemand bei dir?“
„Ja“, lachte die andere Stimme. „Ich bin’s, Belly!“
Shana wurde heiß. Belly! Er hatte alles mit angehört! Jetzt würde er ganz schön sauer auf sie sein. Aber sie schien sich getäuscht zu haben, denn Belly und Krissa lachten um die Wette.
„Was zum Teufel ist denn da bei euch los? Seid ihr übergeschnappt?“
„Nein“, sagte Krissa zuckersüß. „Der BH steht dir super! Belly kriegt schon Stielaugen ...“
Shana hörte, wie die Verbindung abbrach. Mit einem Satz war sie beim Generalbedienteil ihrer Anlage, wo ihr ein hämisches Visual Broadcast On entgegenblinkte.
„Verdammt, verdammt, verdammt! Du blöde Multiwand! Ich hatte gesagt ohne Visualisierung!“
Shana wurde rot. Na, das konnte ja heiter werden. Belly hatte sie in BH und Höschen gesehen! Wenn sich das rumsprach, war sie geliefert. Sie ballte die Fäuste. Krissa hätte ihr doch sagen können, was los war!
„Na warte!“, murmelte sie wutentbrannt und war drauf und dran, der Multiwand einen kräftigen Tritt zu geben, als ihr Blick auf die kleine Öffnung fiel, die sich in ebendem Moment in der Wand bildete. Keine zwei Sekunden später schob sich eine kleine Schublade hervor, und in ihr lagen die Klamotten, die Shana aus der Merkliste des Modeprogramms hatte produzieren lassen. Schwarze Jeans, weiß-rosa gestreiftes Top, pfirsichfarbene Sneakers.
Shana griff sich das Top und hielt es anerkennend von sich.
„Sei bloß froh, du blöde Multiwand“, grunzte sie. „Wenn du das auch noch verbockt hättest, hätte ich dir den Stecker rausgezogen!“
*
Zwanzig Minuten später stand Shana fertig herausgeputzt in ihren neuen Klamotten wieder vor der Multiwand, in den Händen ein Tablett mit zwanzig Zitronenröllchen, im Gesicht einen Schmollmund und im Kopf bange Gedanken, ob Belly sie wohl ständig anstarren würde. Noch schlimmer, wenn Krissa alles aufgezeichnet und den anderen vorgespielt hatte, wie Shana halbnackt vor der Kamera stand …
„Egal, da musst du durch!“, murmelte Shana. „Multiwand! Beamer an! Ziel: Krissa!“
„Beamer an“, tönte es zurück. „Ziel Krissa eingestellt.“
Wo eben noch der Spiegel an der Wand hing, bildete sich nun ein schimmernder Rahmen. Der Umriss schien zu fließen, als ob silberfarbenes Wasser die Seiten bilden würde. Im Rahmen selbst waberte Nebel umher, ohne jedoch aus ihm herauszutreten.
Shana holte tief Luft. „Na denn!“
Sie tat zwei entschlossene Schritte, mit dem dritten durchdrang sie den Rahmen und tauchte in den Nebel ein. Augenblicke später waren ihre Umrisse verschwunden. Für einige Sekunden summte es noch hinter der Multiwand, ehe ein leises klick ertönte, der Nebel sich auflöste und der Rahmen verschwand. Zurück blieb eine weiße Wand, auf der sich lediglich das manuelle Bedienteil befand. Das gab es eigentlich nur für den Fall, wenn die Sprachsteuerung einmal ausfallen sollte. Aber die war eigentlich idiotensicher.
Als Shana aus dem Gegenstück des Beamers in Krissas Zimmer auftauchte, waren alle anderen schon da. Sobald sie wieder klar sehen konnte und registrierte, dass sie die Letzte war, musste sie kurz schlucken. Sie kam sich vor wie eine Delinquentin, die vor ihre Richter treten musste. Aber dann streckte sie sich und beschloss, lieber als Erste in die Offensive zu gehen.
„Hey, Happy Birthday, Krissa!“
Ihre Freundin kam ihr entgegen und nahm ihr das Tablett mit den Zitronenröllchen ab.
„Hi, Shana! Mein Geburtstag war vor zwei Wochen!“
„Ja, aber da hast du nicht gefeiert!“
Krissa lachte fröhlich, und Shana war heilfroh, dass sie keine blöde Bemerkung über ihren BH machte. Belly kam auf sie zu und hob die Hand. Shana schlug ein.
„Alles klar?“
„Alles klar! Ging mir lange nicht so gut! Die letzte Woche mit dem Lerncomputer war ätzend, aber das weißt du ja.“
Er blickte ihr lächelnd in die Augen. So sehr sie auch in den seinen forschte, konnte sie nicht sagen, ob er an das Bild von ihr dachte, was sich ihm vorhin dargeboten hatte. Sie beschloss, das Thema abzuhaken und dankte den beiden im Stillen.
Die anderen Gäste lümmelten in bequemen Sitzkissen herum. Shana klatschte jeden von ihnen ab und ließ sich dann in das letzte freie Kissen fallen.
Ihre Blicke tasteten ihre Freunde ab. So oft sahen sie sich nicht, denn in der Regel quatschte man über Videokonferenzen oder man traf sich allenfalls bei McBeam. Schließlich konnte man sich über die Projektoren im Zimmer des anderen abbilden lassen. Dann stand da zwar ein Trugbild, das all das plapperte, was sein Original im eigenen Zimmer von sich gab, aber jeder fand das cool. Außer Shana, die es liebte, ohne die Multiwand mit ihrer Freundin zu quatschen. Krissa war eigentlich die einzige, die das auch wollte und ihre eigene von Zeit zu Zeit abschaltete. Aber auch Krissa war ziemlich faul, gestand sich Shana ein. Wenigstens war sie nicht ganz so dick wie die anderen. Mit ihren dreizehn Jahren wog sie nur siebzig Kilo, und damit war sie in ihrer Klasse die Zweitleichteste.
Shanas Blick fiel auf Belly. Sie mochte ihn irgendwie. Er war immer schlagfertig, aber nicht frech. Er war ein guter Schüler, aber sich bewegen war absolut nicht seine Sache. Belly war nicht dick, er war fett. Shana seufzte. Schade, fand sie. Sie mochte die Schwabbelbäuche der anderen nicht, aber es war schwer, einen schlanken Menschen zu treffen. Und wenn es denn einen gab, der das Sportprogramm der Multiwand tatsächlich auch benutzte, dann war es meistens ein Angeber. Und die konnte Shana nicht ausstehen.
Krissa hatte sieben Gäste eingeladen, und alle waren aus ihrer Klasse. Shana wusste, dass sie weit auseinander wohnten, aber das spielte keine Rolle. Man hatte ja die Beamer. Das Schulministerium hatte sie nach ihren Charaktereigenschaften ausgewählt und eine zwanzigköpfige Klasse zusammengestellt. Man dachte, der Computer würde das besser hinkriegen als lebendige Lehrer, aber na ja … die Harmonie in der Klasse hielt sich in Grenzen. Wenn die zwanzig Kinder tatsächlich zur Schule gegangen wären und in einem Raum zusammen hätten sitzen müssen, es hätte wahrscheinlich jeden Tag eine Menge Zoff gegeben. So aber bestand der Unterricht in täglichen sechs Stunden dauernden Videokonferenzen, während deren die Köpfe der zwanzig Kinder und der jeweiligen Lehrer auf die Multiwand projiziert wurden, man aber beim Unterricht bequem im Bett liegen konnte, wenn man wollte. Shana wusste, dass ihre Großeltern noch in richtige Schulen mit Klassenräumen gegangen waren. Irgendwie wünschte sie sich, das auch tun zu können, wenn sie auch nicht recht wusste, warum. Sie dachte, es wäre einfach besser, wenn man in echt dabei sein konnte. Na ja, sie wollte ja auch unbedingt schlank sein und nicht so dick wie die anderen.
Shana schüttelte die Gedanken ab. Heute jedenfalls waren ihre liebsten Freunde da. Neben ihr und Belly waren Jeronimo, Dali, Nora, Lasita und Biene gekommen. Biene hieß Biene, weil sie sich als kleines Kind einmal aus Versehen in die unerwünschte Zone gebeamt hatte und gleich von einer Biene gestochen worden war. Das hatte nicht nur sie, sondern die meisten anderen davon abgehalten, es ihr nachzutun.
Jeronimo und Dali waren Zwillinge. Die beiden Jungs traten immer gemeinsam aus dem Beamer, was bei manch älterem Modell bisweilen an die Energiereserven ging. Shana hatte immer Angst, dass sie nicht komplett zusammengesetzt wieder erscheinen würden, sozusagen ein Bein hier und ein Arm da. Aber bis jetzt war es immer gut gegangen. Nora ging erst ein Jahr in ihre Klasse. Sie war hängen geblieben und nicht sonderlich helle, aber dafür war sie das ehrlichste Mädchen auf der Welt. Und Lasita war die schönste in ihrer Klasse. Vermutlich sogar von allen registrierten Schülerinnen. Sie brauchte eigentlich keine Multiwand, die sie einkleidete. Alles, was sie je anziehen würde, hätte die Jungs umgehauen, gestand sich Shana ein wenig eifersüchtig ein. Allerdings war sie trotzdem zu dick.
„Belly hat die Clips ausgesucht“, rief Krissa fröhlich. „Ich kann nichts dafür!“
Shana wurde aus ihren Gedanken gerissen und griff sich eines der Zitronenröllchen, die ihre Freundin herumreichte.
„Wenn ihr was trinken wollt, sagt der Multiwand Bescheid. Ich hab euch freigeschaltet.“
„Okay, danke“, meinte Nora. „Multiwand! Eine Orazico, bitte!“
„Habe ich Sie richtig verstanden?“, kam es von der Wand. „Eine Oraziko?“
„Ja, eine Oraziko. Meine Wand weiß, was das ist“, meinte Nora schnippisch. „Eine Orangen-Zitronen-Cola!“
„Ich nehme an, ich mische Orangensaft mit Zitronensaft und Cola?“, meinte die Stimme unbeirrt.
„Korrekt“, grinste Nora.
Krissa schüttelte den Kopf. „Orazico! Du bringst noch das System meiner Multi mit deinen Wünschen durcheinander!“
„Egal“, sagte Belly ungerührt und hielt einen kleinen Chip hoch. „Hier, ich hab drei Stück besorgt. Das ist mein Geburtstagsgeschenk für Krissa. Mehr Geld hatte ich nicht“, grinste er. „Sucht euch einen aus.“
„Was hast du?“, fragte Dali. „Hoffentlich nicht nur Mädchenfilme!“
„Na ja …“, druckste Belly. „Schließlich hat Krissa Geburtstag. Aber keine Sorge, ich hab für alle was dabei. Duell im Staub der letzten Tage, Martial Fights und Liebe zwischen den Welten.“
„Du hast Martial Fights besorgt?“, fragte Shana ungläubig. „Der ist erst ab 21! Woher hast du den Entsperrungscode?“
„Von Carl.“
Shana verdrehte die Augen. „Der hat wohl allen den Code verkauft! Irgendwann wissen unsere Eltern, dass wir den Code haben, und dann gibt’s Ärger.“
„Ich darf Martial Fights nicht sehen“, kam es halblaut von Nora. Wie auf Kommando drehten sich alle Köpfe zu ihr.
„Nicht mal heimlich?“, fragte Jeronimo verblüfft. Er konnte anscheinend gar nicht glauben, wie jemand einen solchen Film ausschlagen konnte. „Das merkt doch keiner.“
„Doch“, sagte Nora mit fester Stimme. „Ich kann nicht schwindeln. Und wenn ich zurückkomme und meine Eltern mich fragen, was wir gesehen haben …“
„Also fällt Martial Fights aus“, stellte Krissa fest, was Shana und die Jungs zu einem enttäuschten Aufstöhnen veranlasste. „Bleiben noch Duell im Staub der letzten Tage und Liebe zwischen den Welten. Wer ist für welchen?“
Nach einigem Hin und Her endete die nicht zu umgehende Abstimmung mit einem Unentschieden.
„Losen wir“, entschied Krissa. „Multiwand! Zufallsgenerator für eine Wette einschalten! Kopf ist Liebe zwischen den Welten und Zahl ist Duell im Staub der letzten Tage!“
„Zufallsgenerator ist eingeschaltet“, tönte es monoton aus der Wand. „Dauer bis zum Abbruchbefehl, Umdrehungsgeschwindigkeit der virtuellen Münze vierhundert Kilometer pro Sekunde.“
Auf der Multiwand erschien ein Monitor, der eine fußballgroße Münze zeigte, die sich sofort in rasende Drehung versetzte, bis nur noch ein schwirrendes Etwas in der Mitte des Bildschirms flimmerte.
„Stopp!“, schrie Krissa. Im Bruchteil einer Sekunde verharrte die Münze und zeigte die Seite, auf der das Bildnis des letzten Regierungschefs eingraviert war.
„Entscheidung gefallen“, sagte die Wand. „Kopf. Liebe zwischen den Welten.“
„Okay“, sagte Krissa und kümmerte sich nicht um das enttäuschte Gestöhne derjenigen, die für den anderen Anifilm gewesen waren.
„Gib her das Ding!“
Belly reichte Krissa den Chip, die ihn in einen kleinen Schlitz im manuellen Bedienteil einführte. Augenblicklich verschwand der Monitor mit der Münze, und die Multiwand begann, erwartungsvoll zu summen.
„Drei Filme erkannt“, sagte die Stimme. „Liebe zwischen den Welten ausgewählt. Warten auf Startbefehl. Mit Werbung oder ohne?“
„Bloß keine Werbung“, meinte Krissa, ging zurück zu ihrem Kissen und ließ sich darauf nieder. „Fang an, aber nicht lauter als Stufe 8!“
Das leise Hintergrundsummen verstärkte sich, und überall im Zimmer schoben sich die Spitzen der Animationsprojektoren hervor. Zu jeder Animationsfilmanlage gehörten Hunderte dieser bleistiftdicken Nadeln. Eine Anifilmanlage in die Multiwand zu integrieren war sündhaft teuer. Krissa hatte sie von ihren Eltern zum Geburtstag bekommen, aber Shana wusste, dass Krissa damit nicht angeben würde. Ihre Eltern verdienten weit mehr Geld als die meisten anderen, aber ihrer Wohnwabe merkte man das nicht an. Jedenfalls war Krissa die einzige, die jetzt eine Anifilmanlage besaß. Da brauchten sie an den Wochenenden nicht mehr ins Kino zu gehen. Shanas Vater hatte gesagt, dass in der Zeitung gestanden hätte, dass das Kino sowieso bald schließen müsste, wenn jedermann in Zukunft eine Anifilmanlage besitzen würde.
Das Zimmer verdunkelte sich. Dann setzte eine dramatische Orchestermusik ein, die den Boden zum Beben brachte.
„Multiwand!“, brüllte Krissa. „Ich hab gesagt, nicht lauter als 8!“
Augenblicklich verringerte sich die Lautstärke auf ein erträgliches Maß. Fahles Licht durchdrang Krissas Zimmer, das jetzt kein Zimmer mehr war, sondern eine unwirkliche Landschaft. Die Projektoren schufen die fantastische Illusion einer weiten Prärielandschaft, die auf einem fernen Planeten zu finden sein musste, denn die Farben des Grases, des Himmels und des am Horizont im Dunst hervorragenden Gebirges waren vollkommen unirdisch. Die Landschaft erstreckte sich über Meilen und wirkte bedrohlich und faszinierend zugleich.
„Ich find Liebesschnulzen lahm“, grummelte einer der Jungs.
„Wart’s ab!“, entgegnete Belly, der den Film ja schließlich ausgesucht hatte.
Plötzlich erfüllte ein seltsames Pfeifen die Umgebung. Das Geräusch klang unangenehm in den Ohren und schwoll mit einemmal zu einem lauten Röhren an. Dann, wie aus dem Nichts kommend, schoss ein schwarzer Raumgleiter über die Köpfe der verblüfften Kinder hinweg und entfachte einen kleinen Wirbelsturm, der die Zuschauer aus den Sitzkissen riss.
„Ohhh Mann!“, entfuhr es Jeronimo. „Das war der Hammer!“
„Hab ich doch gesagt!“, grinste Belly, der sich wieder in sein Kissen hievte und im Leder festkrallte. „Pass auf, da kommen noch mehr!“
Kaum hatte Belly das gesagt, zischten drei, vier, fünf weitere kleine Kampfmaschinen dicht über dem Boden dahin, kaum ein paar Meter über den Köpfen der Zuschauer. Wieder wurden sie durcheinander gewirbelt. Staub und kleine Steinchen flogen durch die Gegend. Die fünf Raumgleiter folgten dem ersten, der jetzt in einem wahnwitzigen Manöver nach oben schoss. Offensichtlich wurde hier jemand verfolgt und versuchte zu flüchten.
„Jetzt knallt’s!“, brüllte Belly, der den Film schon kannte und sich vorsorglich die Ohren zuhielt. Kaum hatte er ausgesprochen, begannen die fünf Verfolger auf den Flüchtenden zu feuern.
Wuuuummm, wuuuuuummm, wuuuuummm! Die dumpfen Schallwellen wirkten wie Stöße gegen die Brust, die Detonationen setzten sich im Boden der Steppe fort und erfassten die Körper der Zuschauer, die gebannt und mit bangem Herzen der Szene zuschauten. Dann schien es, als würde sich die flüchtende Maschine einen Treffer eingefangen haben. In mehreren Kilometern Höhe begann sie zu trudeln und stürzte unkontrolliert ab.
„Oh nein!“, entfuhr es Shana. Doch der Pilot der scheinbar abstürzenden Maschine hatte seine Gegner genarrt. Nach ein paar Sekunden im freien Fall, während der die anderen Maschinen gefährlich nahe an ihn herangekommen waren, begannen plötzlich sämtliche Waffensysteme der abstürzenden Maschine gleichzeitig zu feuern. Weil sie im Fallen um ihre eigene Achse rotierte, wirkte das wie die Feuerkraft einer ganzen Armee. Die Angreifer hatten nicht den Hauch einer Chance. Bevor sie auch nur begriffen, dass ihr Gegner sie hereingelegt hatte, zerplatzten ihre Maschinen in der Luft, und ein Schauer aus Trümmerteilen regnete aus dem Himmel herab. Als sie auf den Boden trafen, warfen sich die Kinder flach auf den Bauch. Zischend und pfeifend schossen Querschläger durch die Gegend und verfehlten sie nur knapp. Mit rasendem Herzen schützte Shana ihren Kopf mit den Armen und traute sich kaum, aufzusehen.
Erst, als der Lärm des letzten Aufschlags schon mehrere Sekunden zurücklag, hob sie den Kopf und schaute sich um. Überall lagen die Überreste der fünf Kampfflieger herum. Hier und da qualmte ein größeres Wrackteil vor sich hin. Der Kampf war vorüber. Und es gab einen tollkühnen Sieger. In der Ferne hatte der Pilot seine Maschine abgefangen und war gerade dabei, in einem weiten Bogen zum Platz des Geschehens zurückzukehren.
Langsam setzte sich Shana auf.
„Und das soll Liebe zwischen den Welten sein?“, fragte Krissa entgeistert. „Wo ist denn da die Liebe?“
„Na ja …“, meinte Belly grinsend und versuchte, sein Sitzkissen wieder in die richtige Position zu bringen. „Eben zwischen den Welten! Da gibt’s Zoff zwischen den Einwohnern zweier Planeten. Ich sag euch, Jungs, die Kampfszenen sind super!“
Belly hob beschwichtigend die Arme, als die Mädchen wie wild protestierten. „Hey, ist ja auch Liebe dabei! Keine Sorge! Da verliebt sich nämlich der Pilot hier in ein Mädchen von dem anderen Planeten, und irgendwann geht alles gut aus. Aber vorher …“ Belly machte den Jungs ein Zeichen. „… geht die Post ab!“
„Ich hab’s nicht ausgesucht“, meinte Krissa entschuldigend und sah dabei zu, wie der Pilot der Siegermaschine mit seinem Fluggerät in den Tiefflug überging und langsamer wurde.
„Die ganzen Getränke sind umgefallen“, sagte Nora hilflos.
„Macht nix“, entgegnete Krissa. „Das kann die Wand nachher regeln. Wir haben ein brandneues Multifunktionscleaningelement.“
Stumm sahen die Kinder zu, wie der Raumgleiter immer näher kam, um dann schließlich keine zehn Meter von ihnen entfernt sanft auf dem Steppenboden aufsetzte. Ein leises Sirren ertönte, dann öffnete sich eine Luke und heraus kam …
„Cross Layer!“, rief Krissa überrascht. „Warum hast du mir nicht gesagt, dass Cross Layer mitspielt?“
„Na ja“, machte Belly verlegen. „Ich wollte was für Jungs und Mädchen, und ich wusste ja, dass du auf Cross Layer stehst …“
„Du bist ein Schatz!“, strahlte Krissa.
„Psssst!“, machte Shana. „Es geht weiter!“
Der Anifilm dauerte geschlagene zwei Stunden, aber alle fanden ihn nicht eine Minute langweilig. Am Ende bekam Cross Layer seine Geliebte vom gegnerischen Planeten und handelte einen Friedensvertrag aus. Als sich die beiden Hauptdarsteller in der letzten Szene liebten, wechselte die Multiwand die Perspektive und schwenkte zum Horizont, denn diese Einstellung war erst ab sechzehn. Der Entsperrungscode nutzte zwar beim Ausleihen, aber er trickste die eigene Multiwand nicht aus.
„Schade …“, meinte Krissa gedehnt.
„Sind auch Jungs da“, lachte Shana. „Die dürfen das noch nicht sehen!“
Als der Film zu Ende war, zogen sich die Projektoren zurück und Krissas Zimmer verwandelte sich in sein normales Aussehen.
„Multiwand!“, rief Krissa fröhlich. „Aufräumen! Saubermachen! Chip ausgeben!“
In der Wand entstand ein rechteckiges Loch, aus dem ein kleines Reinigungsgerät hervorsurrte, das sich sofort daran machte, die umgekippten Getränkebecher aufzusammeln, die Flecken zu entfernen und die Krümel der Zitronenröllchen zu entsorgen.
„Hat jemand Hunger?“, fragte Krissa in die Runde. „Wie wär’s mit McBeam?“
Ein begeistertes Ja! kam zur Antwort. McBeam gehörte einfach zu jedem Geburtstag. Krissa nahm den Chip aus dem Bedienteil heraus und reichte ihn Belly zurück.
„Danke. Der Film war klasse! Den seh ich mir garantiert noch mal an!“
„Ja, wenn du sechzehn bist!“, lachte Lasita. „Damit du die letzte Szene sehen kannst!“
Als sich die Freunde kichernd auf den Weg zu McBeam machten, wofür sie Krissas Beamer benutzten, ging Shana durch den Kopf, was sie dort wohl essen konnte. Denn so lecker es auch bei McBeam war, es gab dort kaum etwas, von dem man nicht zunahm.
„Na, egal“, dachte sie. „Heute mach ich mal eine Ausnahme. Dafür esse ich morgen nicht viel, wenn ich draußen bin.“
Für einen Moment dachte sie noch daran, wie es morgen wohl sein mochte, wenn sie wieder einmal heimlich in die unerwünschte Zone ging. Niemand ahnte, dass sie das tat. Es war zwar nicht verboten, aber alle Eltern impften ihren Kindern ein, es nicht zu tun. Es sei zu gefährlich. Shana lächelte. Gefährlich war es nicht. Das hatte sie inzwischen herausgefunden. Aber es war anders als jeder Anifilm. Ganz anders. Sie wünschte, sie könnte morgen jemanden mitnehmen. Aber sie wusste nicht, wen sie fragen sollte. Die anderen würden niemals mit nach draußen gehen. Sie würden ja auch nicht weit kommen, so dick wie sie waren.
Shana seufzte. Dann bemerkte sie, dass ihre Freunde schon längst durch Krissas Beamer durchgegangen waren und sie als Letzte im Zimmer ihrer Freundin stand. Entschlossen tat sie zwei Schritte und verschwand durch den flimmernden Rahmen zu McBeam.
*