Kitabı oku: «Sweetland», sayfa 2
Clara hatte dem Jungen die Haare schneiden lassen, als sie in St. John’s waren, Nacken und Seiten kurz. Sweetland konnte den Doppelwirbel an Jesses Hinterkopf sehen. Dazwischen standen ein paar Haare hoch, ein unberechenbares Büschel, das seinen eigenen Weg ging, seit er genug Haare zum Kämmen hatte. Bevor Jesse laufen konnte, hatte sich Sweetland diese Haare immer um den Finger gewickelt, damit sie steil aufragten und wie eine Feder im Kopfschmuck der Cowboyfilme aussahen, die er sich zusammen mit Duke in den alten Kinos von Toronto angeguckt hatte. Er nannte ihn Mamas kleinen Indianer.
Jetzt ertrug es der Junge nicht mehr, wenn ihn jemand am Kopf berührte, und Sweetland befürchtete, dass er womöglich schuld daran war. Nur mit Mühe konnte er sein Bedürfnis unterdrücken, den Arm auszustrecken und das Haarbüschel glatt zu streichen.
Die Schlingen waren am Fuß von Fichten ausgelegt, wo Wildwechsel den Weg kreuzten. Sie waren an einen Erlenstock gebunden, den er fest in den Boden gerammt hatte, die silberne Schlinge unter Gestrüpp versteckt. In der ersten Falle lag ein Kaninchen und Sweetland kniete sich hin, um Jesse dabei zu helfen, den Draht vom Hals zu ziehen. Dann band er ein Stück Schnur um die Pfoten, damit der Junge das Tier über der Schulter tragen konnte.
Sie gingen fast zwei Stunden, bevor sie zum Mittagessen anhielten und sich auf einer Lichtung hinter dem Tal niederließen. Die Dachspitze von der Hütte der Priddles halb verborgen zwischen den Fichten und Birken weiter unten. Das Lärmen der Tölpel, die auf der Landspitze von Music House brüteten, hallte zu ihnen hoch. Ihre Bemühungen wurden mit vier Kaninchen belohnt und Sweetland legte sie ins Gras zu ihren Füßen, fette Tiere, seidig glänzend und glupschäugig. Er holte die Sandwiches heraus und sie aßen ein paar Minuten schweigend. Als Jesse aufgegessen hatte, sang er ein bisschen, schmetterte die Details einer längst vergangenen Katastrophe heraus, obwohl es keine Vorführung sein sollte. Das Publikum war unwichtig, wie Sweetland wusste. Das Lied Teil einer privaten Landschaft, die gelegentlich in die Außenwelt hervorkam.
Sweetland suchte in der Tasche nach einer Dose Pfirsiche, das einzige Obst, das der Junge aß. Nur aus der Dose, nur von Del Monte. Sweetland hatte zu Hause einen ganzen Schrank voll. Er öffnete den Deckel und reichte die Dose weiter, als das Lied zu Ende war.
» Pop sagt, dass jetzt nur noch du und Loveless bleiben wollen «, sagte Jesse.
Sweetland blickte zu dem Jungen, der sich auf die Dose konzentrierte und das Obst mit einem Plastiklöffel in den Mund schaufelte. Er hatte bisher kein einziges Mal über das Thema gesprochen. Sweetland war es so vorgekommen, als wäre die Umsiedlung niemals von der wunderlichen Verstandeslandschaft des Jungen registriert worden, obwohl dies inzwischen seit Jahren das Hauptgesprächsthema in der Bucht war. » Werde ich weggehen müssen? «, fragte Jesse. Er blickte noch immer in die Dose, während er aß.
» Nicht, solange ich noch da bin «, sagte Sweetland.
Der Junge schöpfte sich den Rest des Obstes in den Mund, kippte dann die Dose, um den Saft zu trinken. Es war ohnehin unmöglich zu sagen, wie er darüber dachte.
» Also «, sagte Sweetland. » Du bist erst gestern mit der Fähre zurückgekommen, oder? «
» Mom hat mich zum Arzt nach St. John’s gebracht «, sagte er. Als wäre das für Sweetland neu.
» Und was hat dir der Arzt gesagt? Du bist zurückgeblieben, oder? Asozial? Abhängig? Psychisch labil? Psychopathisch? «
» Nein «, sagte der Junge.
» Nun, warum bist du dann den ganzen Weg zu ihm nach St. John’s gefahren? «
Er zuckte mit den Schultern. » Keine Ahnung. «
» Deine Mutter ist diejenige, die sich mal untersuchen lassen sollte. «
» Sie geht auch zu ihm «, sagte Jesse. » Sie geht nach mir rein. «
Sweetland lächelte. » Tut ihr aber herzlich wenig Gutes, oder? «
» Ich weiß nicht «, sagte der Junge.
Er war zu weit gegangen, dachte Sweetland, und sagte: » Beachte mich einfach nicht. « Als Entschuldigung.
» Das tue ich auch nicht. «
Er atmete laut aus, blickte ins Tal hinunter. Selbst Sweetland fand, dass es manchmal ein ganz schön langweiliges Leben für den Jungen war, eingesperrt in seinem Kopf. Umgeben von Greisen und ausgedachten Freunden. Und wie auf Kommando sagte Jesse: » Hollis ist einmal nach St. John’s gefahren, um den Arzt zu besuchen. «
» Wo hast du denn davon gehört? «
» Hollis hat es mir erzählt. «
Sweetlands Bruder, über den der Junge sprach. Seit fünfzig Jahren oder länger tot. » Ist das so? «, fragte Sweetland.
» Ein Jahr war er fast den ganzen Winter über in St. John’s. «
Sweetland stand auf und fing an, ihre Sachen einzupacken. » Werd jetzt mal fertig «, sagte er. Ein Gefühl wie krabbelnde Käfer auf der Haut, das er nur loswurde, wenn er sich bewegte. » Wir haben Besseres zu tun, als hier herumzusitzen und zu quatschen. «
Sie nahmen die Kaninchen in Sweetlands Küchenspüle aus. Jesse auf einem Stuhl, um sie an den Hinterpfoten hochzuhalten, während Sweetland mit einem Messer das Fell über den Knöcheln einschnitt, es dann über den ganzen Körper zog, Zentimeter für Zentimeter. Mahagonifarbenes Fleisch und gemasert wie Holz. Die fleckigen Innereien rutschten in die Edelstahlspüle.
Das Telefon klingelte und Jesse sprang vom Stuhl, um den Hörer abzunehmen, doch Sweetland hielt ihn zurück, da er befürchtete, es könnte Clara sein. » Wasch dich «, sagte er. » Es ist Zeit, zum Abendbrot nach Hause zu gehen. «
Der Junge wusch sich die Hände unter dem Wasserhahn, während das Telefon noch eine Weile klingelte. Er sagte: » Holst du morgen Holz? «
» Vielleicht. «
» Ich könnte dir helfen. «
» Bring einen davon runter für deinen Pop «, sagte Sweetland und steckte ein ausgenommenes Tier in eine durchsichtige Plastiktüte. Jesse streckte seine frisch gewaschenen Hände aus, als würde er ein Zeremonienschwert entgegennehmen.
Nachdem er die Spüle gescheuert hatte, ging Sweetland durch den Anbau nach draußen und um das Haus herum zur Vorderseite. Blickte nach Osten und Westen, wie jemand, der sich eine Route überlegte, dann schlenderte er hinunter durch die Bucht. Er kam an Pilgrims Haus vorbei, spähte jedoch nicht in die Fenster, sondern huschte mit abgewandtem Blick weiter.
Sweetland ging zu Duke Fewers Friseurladen, ein Schuppen mit einem einzigen Raum neben Dukes Haus. Darin stand, in den nackten Sperrholzboden geschraubt, ein Frisierstuhl, der so alt war wie Buckleys Ziege. Eine Wand war größtenteils verspiegelt, die andere mit verblichenen Fotos und vergilbten Zeitungsausschnitten beklebt. Ein summendes Neonlicht, ein Jackenständer, ein Waschbecken in der einen Ecke und in der anderen ein Holzofen, um den Raum im Winter zu beheizen. An der Wand unter den Fotos zwei Holzstühle und auf einem niedrigen Tisch dazwischen ein Schachbrett neben einem Stapel Zeitschriften – National Geographic und Time, Sports Illustrated und Maclean’s –, die dreißig Jahre alt und fast so lange nicht mehr angerührt worden waren.
Duke saß mit der drei Tage alten Zeitung, die mit der gestrigen Fähre angekommen war, auf dem Frisierstuhl. Er hatte seine Beine einer Gottesanbeterin auf eine Weise übereinandergeschlagen, die kaum menschlich erschien. Blickte nicht auf, als Sweetland hereinkam und wirkte so, als wäre er mit halbgeöffneten Augen unter den schweren Lidern eingedöst, abgesehen von dem gewohnten Tremor in den Händen, der die Zeitung wackeln ließ. » Bin in einer Minute fertig «, sagte er schließlich, und Sweetland nahm Platz und blickte auf die aktuelle Partie auf dem Schachbrett.
Duke hatte den Frisierstuhl in einem Gebrauchtwarenladen für Bauzubehör in St. John’s gekauft, als die Kabeljau-Bestände zusammenbrachen und die Regierung 1992 die küstennahe Fischerei verbot. Sweetland hatte damals versucht, es ihm auszureden. Zunächst einmal gab es in jener Zeit nur rund neunhundert Menschen, die in Chance Cove lebten, und jeder ließ sich die Haare in Reet Verges Küche schneiden, mit Ausnahme von Ned Priddle, der kahl wie eine Billardkugel war. Und außerdem hatte Duke noch nie in seinem Leben Haare geschnitten. Kein Mann und keine Frau waren dazu bereit, sich auf den Stuhl zu setzen und Duke mit der Schere an sich ranzulassen.
Duke raschelte mit der Zeitung. » Pilgrim war vorhin da. Meinte, du und Jesse guckt draußen nach den Fallen. «
» Haben ein paar an der Rückseite gefunden, über der Hütte der Priddles. «
» Pilgrim sagt, Clara wäre nicht so glücklich darüber. «
» Kann ich mir nicht vorstellen «, sagte Sweetland leise.
Duke besaß ein Rasiermesser und eine Rasierschale und bot eine Rasur für einen Dollar fünfzig an. Soweit Sweetland wusste, hatte er auch für dieses Angebot keine Interessenten. Abschreibung, so nannte Duke es, als er das Firmenschild aufhängte. Obwohl sich alle fragten, was er da genau abschrieb. Mehr als zwanzig Jahre war er an sechs Nachmittagen die Woche hier gewesen, hatte den Boden gewischt und die Zeitung gelesen, und die Passanten durch das kleine Fenster neben der Tür beobachtet. Seine Ex-Frau hatte die Insel vor fünfundzwanzig Jahren verlassen, seine Kinder waren in verschiedene Ecken des Festlands gezogen. Er plauderte mit den Männern, die auf eine Tasse Tee vorbeischauten, ein Blick aufs Schachbrett, hier oder da ein Zug. Duke spielte weiß und verlor nie.
» Wer war am Brett? «, fragte Sweetland.
Duke reckte den Hals und blickte über die Schulter. » Das waren so sieben oder acht, seit du das letzte Mal hier warst. «
» Du hast Loveless nichts berühren lassen. «
» Du stehst im Schach «, sagte er und schüttelte die Zeitung aus. » Falls du es nicht gemerkt hast. «
» Loveless denkt noch immer, es sei ein gottverdammtes Schachbrett. «
» Er meint es gut. «
Sweetland knurrte. » Wie die beschissene Regierung. «
Duke nickte, was bei ihm fast einem Lachen gleichkam. » Hab dich gestern gar nicht bei der Versammlung gesehen. «
» Du hast die Anwesenheit kontrolliert, was? «
» Nur Loveless und du und Queenie haben gefehlt. War kaum zu übersehen. Hayward denkt, dass du und Queenie was miteinander haben. «
» Wegen Loveless ist er nicht besorgt? «
» Hayward ist paranoid «, sagte Duke. » Er ist kein Idiot. «
» Na ja «, sagte Sweetland, als könnte man daran durchaus zweifeln.
» Du hast gehört, er hat schließlich auch für das Paket unterschrieben «, sagte Duke.
» Hab ich gehört. «
» Also nur noch du und Loveless. «
Er blickte zu dem Mann auf dem Stuhl. Sweetland wusste, wie er zu dem Thema stand, doch Duke Fewer war der Einzige auf der ganzen Insel, der kein einziges Mal versucht hatte, ihn irgendwie zu überreden. Der Friseurladen fühlte sich wie der letzte sichere Ort an, den er noch hatte. » Fang jetzt nicht an «, sagte er.
» Macht für mich keinen Unterschied. Ich gehe weg, Regierungspaket hin oder her. Lauras Sippschaft hat ein Zimmer, das auf mich wartet. «
» Mein Gott «, sagte Sweetland. » Wer wird dann bloß den Friseurladen übernehmen, wenn du weg bist? «
» Du kannst mich am Arsch lecken «, sagte Duke.
» So ein Hungerhaken wie du hat gar keinen Arsch. «
Sweetland zog seinen König aus dem Schach und Duke faltete die Zeitung zusammen und kletterte vom Stuhl. Es war ein komplizierter Vorgang, die langen Gliedmaßen wieder nebeneinander auf den Boden zu stellen. Er kam hinüber zum Brett und nahm seinen Turm, stellte ihn dann zitternd ab. » Schach «, sagte er.
Sweetland lehnte sich verärgert zurück. » Verdammter Loveless «, sagte er.
Duke setzte sich auf den leeren Stuhl gegenüber von Sweetland. Beide Männer starrten auf das Brett, als rechneten sie damit, dass sich eine der hölzernen Figuren von allein bewegte und sie das auf keinen Fall verpassen wollten. Duke räusperte sich. » Manche sagen, sie würden dich ausräuchern, wenn du das Paket nicht annimmst. «
» Wer ist manche? «
» Das war nur Gerede. «
» Hast du gehört, wie jemand gesagt hat, dass sie mich ausräuchern wollen? «
» Nicht direkt «, sagte Duke. » Es gibt Leute, die gehört haben, dass man darüber redet. «
» Nun, die können mich alle am Arsch lecken. «
» Die Leute ärgern sich, Moses. Hundert Riesen sind eine Menge Geld. «
Sweetland starrte Duke an und versuchte herauszufinden, was er damit sagen wollte. Ob es eine Nachricht von jemandem war, die ihm aus zweiter Hand mitgeteilt wurde. Er sagte: » Du meinst also, ich soll das Paket annehmen? «
Duke hob den Blick. » Du erinnerst dich, was bei dem letzten Ratschlag passiert ist, den ich dir gegeben habe. « Er seufzte laut und zeigte zum Brett. » Ziehst du oder guckst du nur? «
Sweetland stand auf. » Muss drüber nachdenken «, sagte er.
» Ich habe noch genug Zeitung zum Lesen. «
Sweetland drehte sich an der Tür um. » Lass bloß Loveless das Brett nicht berühren «, sagte er.
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Nachdem er das Rettungsboot angebunden hatte, wurde Sweetland bewusst, dass seine Chance, den Weg durch den Nebel zu finden, bei fünfzig zu fünfzig lag. Er hielt sich vom Nebelhorn am Burnt Head fern, und als er den Eindruck hatte, ein ganzes Stück hinter den Fever Rocks zu sein, fuhr er nach dem Kompass langsam in westliche Richtung. Das Motorgeräusch hallte jetzt gelegentlich schwach von den unsichtbaren Klippen steuerbord zurück.
Er fuhr ganz langsam, suchte in der Finsternis nach einem Anzeichen von Land. Selbst das Rettungsboot war kaum noch zu sehen, wenn er hinter sich blickte.
Er fuhr weiter, hielt sich im tiefen Wasser und versuchte einzuschätzen, wie weit er schon an der Insel entlanggefahren war. Er fuhr an einer Nische in der steilen Felswand vorbei, ein hohler Raum im zurückgeworfenen Echo des Motors, und hoffte, dass es Lunin Cove war. Er stellte den Motor ab und warf einen Jigger aus, ließ die Schnur laufen, bis der mit einem Gewicht beschwerte Haken achtzehn Faden tief auf den Boden traf. Er war über der Offer Ledge, das bedeutete noch knapp fünf Kilometer bis zur Mole. Er fuhr noch eine halbe Stunde ohne Sicht, der Nebel immer dichter. Als er den Motor stoppte und den Jigger ins Wasser ließ, traf der weniger als einen Faden tief unter ihm auf die Tom Cod Rocks.
Der erste Hinweis drang durch den weißen Dunst, als er die Schnur hochbrachte – ein leises Brummen, das genauso körperlos und diffus schien wie der Nebel. Als die Männer im Rettungsboot es hörten, standen sie auf und blickten sich irritiert um. Sweetland fuhr eine Weile westlich, hielt dann wieder an. Diesmal war es eine Stimme, vor ihm und ein gutes Stück backbord. Er stoppte noch drei oder vier Mal, bevor er sie erkannte. Es war Tennessee Ernie Ford, der » The Old Rugged Cross « vom Kirchturm sang. Da oben war nie eine Glocke gewesen, nur eine Lautsprecheranlage, die vor dem Gottesdienst am Sonntagmorgen eine Stunde lang Kirchenlieder oberhalb von Chance Cove abspielte. An klaren Tagen konnte man es kilometerweit auf dem Wasser hören, und auch jetzt schaffte es Fords elektrisch verstärkter Bariton durch die dicken Nebelschwaden bis hinaus zu ihnen, als sie langsam an der Küste entlangfuhren. » Softly and Tenderly «, » What A Friend We Have in Jesus «, » Whispering Hope «. Sweetland summte mit, auch wenn der Motor die Aufnahme gelegentlich übertönte.
Tennessee Ernie Fords Stimme schwebte steuerbord an ihnen vorbei, bis sie ungefähr vom Heck her die Sünder anflehte, nach Hause zu kommen, was bedeutete, dass Sweetland am Zugang vorbeigefahren war. Er wendete langsam, kam zu der versteckten Mündung der Bucht, und die Insel ragte plötzlich aus dem Grau heraus, die auffällige Linie der Mole schnurgerade oberhalb der Wasseroberfläche. Er feuerte drei Schuss mit seinem Zweiundzwanziger, um Aufmerksamkeit zu erregen und sie wissen zu lassen, dass er kam.
Er blickte zurück zum Rettungsboot, winkte den schattigen Gestalten, die in seine Richtung blickten. Er fand, dass sie nicht sehr beruhigt wirkten, bei ihm im Schlepptau zu sein.
Er feuerte drei weitere Schüsse ab und kam dann in das ruhige Wasser der Bucht. Die weiße Kirche schwebte auf der Landzunge, und dröhnte noch immer ihr protestantisches Flehen heraus. Der Kai wurde langsam deutlicher, als er näherkam. Am Kai standen bereits Menschen in ihrer Sonntagskleidung, die auf dem Weg zur Kirche waren, und Dutzende weitere kamen aus ihren Häusern weiter oben am Hügel, Männer und Frauen und Kinder mit ihren Hunden. Alle rannten herbei, um die gespenstischen Ankömmlinge zu sehen.
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Sweetland war mitten in einer Partie Texas Hold’em, als Clara zum Haus kam. Er hatte sie schon den ganzen Abend erwartet und sich nicht richtig auf das Spiel konzentrieren können. Er spielte das Short Deck, hatte zwei Paare, Buben über Neunen. Spielte gerade hellwach mit einem leichtsinnigen Anfänger, der sich als Flush angemeldet hatte, im Jackpot fast zweihunderttausend.
» Du guckst nicht etwa Pornos, oder? «, fragte sie.
» Hab ich zur Fastenzeit aufgegeben «, sagte er und winkte sie in die Küche, ohne vom Laptop aufzusehen. Clara stellte die Plastiktüte mit dem Kaninchenkörper auf den Tisch und setzte sich.
Er sah sich die River Card an und Flush setzte All-In. » Ach, verdammt «, sagte er.
» Das ist kein echtes Geld «, sagte Clara.
» Gott sei Dank! « Er faltete die Hände und seufzte laut, schloss dann langsam und widerstrebend das Laptop.
Clara hob die Tüte mit dem Kaninchen an, um sie ein Stück näher zu ihm zu schieben. » Es ist außerhalb der Saison. «
» Dieses Jahr sind es einfach zu viele «, sagte er. » Sie werden im Wald sterben, wenn der Winter kommt. «
» Ich will es nicht im Haus haben «, sagte sie.
Er sah zu der Plastiktüte auf dem Tisch. Wässrige Blutstriemen in den Falten. » Ich habe nur ein Dutzend Fallen ausgelegt «, sagte er. » Der Junge liebt es, da draußen zu sein. «
» Jesse hat eine Woche Schule mit mir in St. John’s verpasst «, sagte sie. » Mehr darf er nicht verpassen. «
» Es war dein Hund, der heute Morgen Krawall geschlagen und ihn aufgeweckt hat. «
» Hättest du ihn nicht einfach wieder nach Hause schicken können? «
Sweetland zuckte mit den Schultern. » Er hat seinen Großvater gefragt, ob er mitkommen darf. «
Clara legte eine Hand über die Augen und wirkte wie ihre Mutter, dachte Sweetland. Sonst hatte Clara fast nichts von Ruth, doch diese subtile Geste der Erschöpfung oder Furcht oder Verärgerung, das war Sweetlands Schwester, wie sie im Buche stand. Er trug das Fleisch durch die Küche zur Kühltruhe, um etwas mehr Abstand zwischen sich und diese unheimliche Verwandlung zu bringen.
Jesse war noch ein Säugling gewesen, als Clara nach Sweetland zurückkehrte und kein Wort darüber verlor, wer der Vater war oder was aus ihm geworden war. Soweit er wusste, hätte Clara das Kind genauso irgendwo unter einem Felsen finden und nach Chance Cove bringen können, um es als ihr Eigenes aufzuziehen. Sie war fast zehn Jahre weggewesen, zunächst an der Universität in St. John’s, und dann als Wanderarbeiterin auf dem Festland. Nach ihrer Rückkehr ging sie in den ersten Monaten immer sonntags mit Jesse auf dem Rücken hinaus zum Leuchtturm. Er konnte sie kommen sehen, wenn er im Turm war und sich der rote Fleck ihrer Goretex-Jacke über die Marsch bewegte. Er beobachtete, wie sie langsam vorwärtskam, bis sie schließlich nahe genug war, damit er ihre Gesichtszüge erkannte. Dann ging er die Wendeltreppe hinunter und setzte den Kessel auf.
Sweetland hatte kein Wort über ihre Entscheidung verloren, für die Schule von der Insel zu gehen, obwohl er von Anfang an dagegen war, da Ruthie tot war und Pilgrim allein im Haus zurechtkommen musste. Und auf eine kleine, gehässige Weise hatte er sich von Clara abgewandt. Soll sie doch kriegen, was sie will, dachte er, ohne jemals darüber nachzudenken. Eine kaum wahrnehmbare Kälte ihr gegenüber, die er sofort verleugnet hätte, wenn sie es ihm vorgeworfen hätte. Er saß an seinem Küchenfenster, als sie vom Kai die Fähre bestieg. Sie wandte sich um und sah den Hügel hinauf, da sie wusste, dass er sie beobachtete. Er hatte die ganze Zeit kein Wort von ihr gehört, als sie unterwegs war, abgesehen von dem, was er aus zweiter Hand durch Pilgrim oder Queenie erfuhr.
Er nahm an, dass Clara sonntags den ganzen Weg bis zum Leuchtturm ging, um den erwarteten Kirchgang zu vermeiden. Sie saß dann auf dem Sofa und trank Tee, während Sweetland mit Jesse über den Boden krabbelte, ihn an den Füßen hochhob und Pupse auf seinen Bauch blies, um den Jungen zum Lachen zu bringen. Ihm war noch kein Kind begegnet, das weniger zum Lachen neigte, und er nahm es als persönliche Herausforderung, ihn von diesem Leiden zu heilen. Er konnte jetzt nicht mehr sagen, ob er schon damals gespürt hatte, dass mit Jesse etwas nicht in Ordnung war, oder ob es ihm nur in der Rückschau so vorkam, dass es eine unnatürliche Distanz im Blick dieses Kindes zu geben schien. Als schaute der Junge vom weit entfernten Ende eines Tunnels auf die Welt.
Bei diesen Besuchen sagte Clara kaum ein Wort, sah nur zu, wie Sweetland mit Jesse auf dem Boden herumalberte. Zwischen ihnen war eine bedeutungsvolle Stille, als würde sie darauf warten, dass ihr für irgendein Vergehen vergeben würde. Oder um ihm die Gelegenheit zu bieten, selbst um Vergebung zu bitten. Und sein Versagen, das eine oder andere zu tun, war eine weitere Sache, die sie jetzt gegen ihn einnahm. Dabei bestand die schlichte Wahrheit darin, dass er sich davor fürchtete, mit dieser Frau zu sprechen.
» Jesse sagt, er wird mit dir hierbleiben, wenn alle andere gehen «, sagte Clara. Sie hatte die Stimme erhoben und Sweetland merkte, dass dies der wahre Grund für ihr Kommen war. Dass es sie Mühe kostete, das Thema anzuschneiden.
» Wirklich? «
» Ich hoffe, du hast nichts gesagt, um ihm diesen Gedanken in den Kopf zu setzen. «
» Er hat seinen eigenen Kopf. «
» Er kommt mit Veränderungen nicht so gut zurecht, wenn du das meinst. «
Sweetland wandte sich vom Kühlschrank zu ihr. » Hast du ihm erzählt, dass Hollis einen Winter im Krankenhaus verbracht hat? In St. John’s? «
» Onkel Hollis? «
» Jesse behauptet, dass er es von Hollis selbst gehört hat. «
» Weshalb war er drin, Tuberkulose? «
» Jesse sprach, als würde Hollis mit uns im Wald sitzen. «
Clara zuckte mit den Schultern. » Der Doktor sagt, das wäre normal genug. «
» Normal genug? «
» Er sagt, dass sich das bei Jesse vielleicht auswächst. «
» Haben die schon einen Namen dafür? «, fragte er.
» Für was? «
» Was auch immer mit dem Jungen nicht in Ordnung ist. «
» Da gibt es eine ganze Bandbreite «, sagte sie. Sie blickte vor sich auf den Tisch, als würde sie sich dafür schämen, wie schwach sich diese Erklärung anhörte. » Und er ist nicht typisch, das haben sie mir auch gesagt. «
» Das hätte ich dir alles gratis sagen können «, sagte er. » Hätte dir die Reise erspart. «
» Der Doktor hat Jesse noch nicht oft genug gesehen, um mehr sagen zu können. Wenn wir in St. John’s leben würden, dann könnten wir ihn richtig untersuchen lassen. Wir könnten ihn für ein Schulprogramm anmelden. «
» Jesse wäre nirgendwo anders glücklich als hier «, sagte Sweetland, » das weiß ich genau. « Er schob den Wasserkessel auf die Hitze des Ofens. » Er will morgen mitkommen, wenn ich eine Ladung Holz hole. «
» Oh, Gott «, murmelte Clara.
» Es ist sowieso Samstag «, sagte Sweetland leise. » Willst du eine Tasse Tee? «
Doch sie war bereits halb zur Tür heraus.
Vor Einbruch der Dunkelheit machte er seinen Abendspaziergang. Obwohl es bereits die erste Juniwoche war, fühlte sich die Luft kühl an. Der Wind ließ mit der untergehenden Sonne nach. Er ging bis zu seiner Steghütte am Ufer, dann weiter den ganzen Weg zur Metallglocke der alten Müllverbrennungsanlage auf der Landzunge. Kilometerweit entfernt konnte er ein Containerschiff auf seinem Weg seewärts erkennen, die Lichter in der Dämmerung gerade noch zu erkennen. Es wirkte wie eine Kleinstadt am Horizont, die nach Osten trieb.
Er wandte sich zurück zur Bucht, zu der weißen Kirche auf dem gegenüberliegenden Arm, dem umzäunten Friedhof am Hang über den Häusern. Ein paar Jugendliche spielten auf dem Kai an der Church Side Straßenhockey, da dort die einzige ebene Fläche war, zu der sie Zugang hatten. Pilgrims Hund sprang mit den Spielern hin und her und musste den Ball aus dem Hafenbecken holen, wenn er durch einen missratenen Schuss über den Rand fiel. Sweetland zählte sieben oder acht Kinder, ungefähr die gesamte schulpflichtige Bevölkerung, abgesehen von Jesse, der kein Interesse an Sport hatte. Sweetland spähte wieder hinaus aufs Meer, die Sonne am Horizont, und wartete, bis sie im Ozean versank, bevor er wieder losging.
Er bemerkte eine kleine Bewegung oberhalb des Pfades, sodass er anhielt, um durch das Gebüsch zu blicken. Loveless’ Hund rannte wieder frei herum. Eine Art Minipudelmischling, den Loveless in den Kleinanzeigen gefunden hatte, nachdem Sara gestorben war. Er hatte Sweetland gedrängt, mit ihm die Reise rüber nach Hermitage zu machen und den Hund auf dem Rückweg in seiner Manteltasche getragen. Voll ausgewachsen waren die drei Kilo jetzt tropfnass. Nur Haut und Knochen.
Sweetland rief den Hund im Gebüsch und pfiff leise, doch das Tier ignorierte ihn und verschwand in der Dämmerung. Loveless hatte den Hund wegen seines rabenschwarzen Fells Smut getauft, obwohl er nicht auf seinen Namen oder irgendwas anderes reagierte, sondern seinen eigenen wilden Weg ging, wenn Loveless ihn nicht mit einer Leine angebunden hatte. Manchmal war er die ganze Nacht draußen im Wald, folgte durch das Krummholz seiner Nase nach Rebhühnern und Moorhühnern und Kaninchen. Tauchte dann am Morgen an Loveless’ Tür auf, verdreckt und verfilzt und ausgehungert. Sweetland rechnete damit, dass der Hund eines Tages verschwinden würde, gerissen von einem Fuchs oder Adler, oder von Kojoten, falls die es jemals bis zur Insel schaffen würden.
Auf seinem Weg kam er am Fenster vorbei, wo Queenie Coffin Rauch in die frische Luft blies. Sie rief ihn zu sich und er lehnte sich an den Fensterrahmen, während sie die Zigarette beendete. Sie trug ihren gesteppten Bademantel, die Haare in Lockenwicklern aufgedreht. Die alten, an die er sich von seiner Mutter erinnerte, die mit Haarklammern befestigt wurden. Lippenstift am Zigarettenfilter, ein aufgeklapptes Buch im Schoß. Queenie sah man nur selten ohne ein Buch in Reichweite. Sie war eine unersättliche Leserin von nicht sonderlich originellen Liebesromanen und Kriminalromanen, die so vorhersehbar waren, dass sie die letzten fünfzig Seiten selbst hätte schreiben können. Es war nur ein Mittel, um die Zeit totzuschlagen, sagte sie, um die Nachmittage zu verbringen, während der Fernseher lief und stummgestellt war.
» Kühle Nacht «, sagte sie.
» Ganz schön frisch. Hab gesehen, dass du die Woche deinen Garten eingesät hast. «
» Ja, zertritt bloß nicht alles «, sagte sie.
» Werden wahrscheinlich eh vor Kälte sterben, wenn sie rauskommen. «
Queenie lachte und hustete feucht in ihre Faust. Eine Stimme rief aus der oberen Etage und sie hob für die Antwort den Kopf. » Ich rede nur mit meinem Freund «, rief sie.
Sweetland konnte von oben das gedämpfte Geräusch des Fernsehers hören.
» Hayward meint, du warst nicht bei der Gemeindeversammlung. «
» Ich habe die Kartoffeln eingesät. Ich werde dir im Herbst eine Ladung beiseite stellen. «
Sie winkte mit der Hand, in der sie die Zigarette hielt. » Im Herbst bin ich nicht hier. «
» Das sagst du schon seit zwanzig Jahren oder länger, Queenie. «
Als sie antworten wollte, fing sie laut und heftig zu husten an. Für Sweetland klang es, als wäre ihr ganzes Innerstes aufgeweicht. » Wird Zeit, damit aufzuhören «, sagte sie, als sie wieder zu Atem gekommen war. Sie nahm einen Zug und beugte sich zur frischen Luft, um den Rauch auszustoßen.
Sweetland versuchte sich zu erinnern, wann er Queenie das letzte Mal außerhalb ihres Hauses gesehen hatte. Als ihre ältesten Kinder noch jung waren, dachte er, bevor sie das Innenklo eingebaut hatten – das war 1969 oder 1970, irgendwann nach der Mondlandung. Queenie hatte durch die körnigen Bilder in einer Life-Zeitschrift geblättert und anschließend damit ihrem Mann gewunken. Sie können einen Mann auf den Mond bringen, sagte sie ihm, da können wir verdammt noch mal auch ein Spülklo haben. Hayward argumentierte, dass alles nur ein Scherz sei, dass man die Bilder gefälscht und in irgendeinem Hinterhof in Hollywood aufgenommen habe. Die Hälfte der Leute in Chance Cove glaubte das. Doch Queenie bekam ihre Toilette.
In all den Jahren danach war sie nicht mehr über die Schwelle ihres Hauses getreten. Sie stand nur in der offenen Tür oder saß am Fenster, rief die Leute für ein Gespräch zu sich, während sie rauchte. Sie hatte einen der Überlebenden vom Rettungsboot aufgenommen, als Sweetland sie angeschleppt hatte, hatte den Mann gewaschen und gefüttert und ihm ein Bett für die Nacht gegeben, in der sie in der Bucht blieben, doch sie war anschließend nicht mit runtergegangen, um zu sehen, wie er zum Schiff der Küstenwache gebracht wurde, als sie wieder wegfuhren. Drei ihrer Kinder hatten in der Kirche an der Landzunge geheiratet und sie hatte in ihrem besten Kleid in der Küche gewartet, bis die Hochzeitsgesellschaft hochkam, um die Fotos mit ihr im Wohnzimmer aufzunehmen. Eine städtische Krankenschwester kam zweimal im Jahr mit der Fähre raus, um nach ihrem Herzen zu horchen und sie vor den Zigaretten zu warnen. Jeder, der aus geschäftlichen Gründen oder für Familienbesuche die Insel verließ, brachte ihr zwei oder drei Liebesromane für ihre Bibliothek mit.