Kitabı oku: «Atomfieber», sayfa 7

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Die Schweiz bunkert sich ein

Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Frankreich im Juni 1940 verkündete General Henri Guisan am 25. Juli 1940 bei seinem legendären Rütli-Rapport den Rückzug in die Alpen. Die Réduit-Strategie führte zu einer igelartigen Konzentration der Schweizer Armee rund um das Gotthardmassiv und sah einen langwierigen Gebirgskampf sowie die Zerstörung der Alpentransversale vor. Die abschreckende Wirkung des Réduits bestand darin, dass den Achsenmächten eine unabhängige Schweiz mit einem funktionierenden Gütertransport durch die Alpen mehr dienen würde als ein erobertes Land mit einer zerstörten Industrie. Die Sprengung der Tunnels und Fabriken hätte die Schweiz für die Besatzungsmächte unrentabel gemacht.174 Da General Henri Guisan kaum Panzer und Flugzeuge hatte, musste er die Landesverteidigung auf die Verteidigung der Armee beschränken.175 Die Schweiz blieb vom Krieg verschont, und damit wurde auch der Schweizer Armee die Feuerprobe erspart. Nach dem Krieg wurde das Réduit zum nationalen Symbol des Widerstands und des patriotischen Heldentums. Die Schweizer Armee berief sich auf einen Heldenkampf, der gar nie stattgefunden hatte. Das Réduit wurde in der Erinnerungskultur der Aktivdienstgeneration als Vermächtnis von General Henri Guisan zum Inbegriff des Wehrwillens. Es verfestigte sich im Kalten Krieg zum Mythos von der uneinnehmbaren Alpenfestung Schweiz und verstärkte den Glauben an die angebliche Unbesiegbarkeit der Schweizer Armee. Der Réduit-Mythos zeigte sich etwa in der grossflächigen Verbunkerung der Schweiz aus Angst vor einem drohenden Atomkrieg und einer möglichen kommunistischen Invasion. Die Bunker des Kalten Kriegs stellten dabei alles in den Schatten, was der Zweite Weltkrieg bisher an Befestigungsanlagen hervorgebracht hatte.

Der Aufbau eines Zivilschutzes in den 1950er- und 1960er-Jahren war in der Schweiz eine Reaktion auf die atomare Bedrohung durch die Sowjetunion. Die Debatte über das Überleben im Atomkrieg bestimmte die Mentalität des Kalten Kriegs. Die Angst vor der Atombombe wurde in den unterirdischen Bunkern in Beton gegossen. Ab Beginn der 1950er-Jahre baute man in den USA und in der Sowjetunion, aber auch in zahlreichen anderen west- und osteuropäischen Ländern Atombunker. In den USA legte man einen atomsicheren Bunker unter dem Weissen Haus und auf dem Gelände des US-Präsidenten in Camp David nördlich der Hauptstadt Washington an. In der Sowjetunion wurden in den 1950er-Jahren unter der Moskauer Metro und später unter der Lomonossow-Universität ebenfalls riesige Atombunker gebaut.176

In der Diskussion um den Zivilschutz und das Überleben eines Atomkriegs spielte im Westen insbesondere der US-Militärstratege Herman Kahn eine einflussreiche Rolle. In seinen Büchern On Thermonuclear War (1960) und Thinking About the Unthinkable (1962) meinte er, es sei sehr wahrscheinlich, dass es zu einem Atomkrieg mit der Sowjetunion kommen werde, ein solcher Atomkrieg werde aber nicht das Ende der USA oder gar der Menschheit bedeuten. Ein Angriff mit Atom- und Wasserstoffbomben auf 157 grosse Städte der USA koste nach seinen Berechnungen zwischen 85 und 160 Millionen Tote, durch den Aufbau eines Zivilschutzes könne diese Zahl aber womöglich noch etwas verringert werden. Trotz der radioaktiven Verseuchung glaubte er, dass sowohl der Westen als auch die Sowjetunion nach einem weltweiten Atomkrieg in «relativ kurzer Zeit» wieder zu einem normalen Lebensstandard zurückkehren würden. Auch wenn Hunderte Millionen Menschen stürben, ginge das Leben weiter – so lautete sein Kalkül.

In der Schweiz war der Einbau von Schutzräumen in bestehende Häuser 1952 von der Stimmbevölkerung zunächst abgelehnt worden. 1959 wurde der Zivilschutz jedoch in die Verfassung aufgenommen, 1962 folgte ein Gesetz über den Zivilschutz, 1963 ein Gesetz über den baulichen Zivilschutz und 1966 ein Reglement für den Atomschutzbau. Der Zivilschutz wurde zur «Überlebensversicherung» eines «freien Volkes» erklärt. Vom 5. Mai bis am 2. Juni 1968 fand in Interlaken ein internationales Symposium über den «Strahlenschutz der Bevölkerung» statt, an dem die Auswirkungen eines Atomkriegs erstmals breit diskutiert wurden.177 Bisher hätten sich die Bestrebungen auf «kleine Katastrophen oder Unfälle» konzentriert, das Problem sei jedoch «vom andern Ende her anzupacken: von der Grosskatastrophe, die einige hunderttausend Menschenleben gefährden kann».178 Eine Studie aus dem Jahr 1970 sprach von einem «dichtbesiedelten Land ohne Ausweichmöglichkeiten für die Zivilbevölkerung», sodass das Überleben der Bevölkerung nur noch im Untergrund vorstellbar war.179

«Unter der Erde im Schutzraum muss die Bevölkerung überleben, wenn an der Erdoberfläche gekämpft wird oder wenn das Gelände verstrahlt oder vergiftet ist.» Zivilverteidigungsbüchlein, 1969

Im Zivilverteidigungsbüchlein, das 1969 vom Bundesrat in einer Auflage von über zwei Millionen Exemplaren als amtliche Publikation an alle Haushalte in der Schweiz verschickt und später an alle Brautpaare nach der Heiratszeremonie auf dem Zivilstandsamt abgegeben wurde, hiess es: «Unter der Erde im Schutzraum muss die Bevölkerung überleben, wenn an der Erdoberfläche gekämpft wird oder wenn das Gelände verstrahlt oder vergiftet ist.»180 Der erste Teil des Zivilverteidigungsbüchleins war ein Plädoyer für einen gut ausgebauten Zivilschutz, der sich auch bei einem Atombombenabwurf bewähre. Nebst der gefährlichen Verharmlosung eines Atomkriegs beinhaltete das Büchlein zudem eine tölpelhafte Anleitung für den Guerillakrieg und eine systematische Verdächtigung und Diffamierung von Andersdenkenden, kritischen Intellektuellen, linken Politikern, Gewerkschaftern, Atomgegnern und Pazifisten.181 Wer irgendwie daran zweifelte, dass das Schweizervolk nicht dazu in der Lage sei, einen Atomkrieg zu überleben, wurde des Defätismus, der Subversion und der Feindpropaganda bezichtigt.182

Das Zivilschutzkonzept von 1971 sah erstmals ein flächendeckendes Netz von Schutzräumen vor. Damit begann die Betonierung des Schweizer Untergrunds. Die Verordnung verlangte, dass jedes neue Wohn- oder Ferienhaus pro Zimmer einen solchen Schutzplatz besitzen sollte. Unter der Maxime «Jedem Bewohner ein Schutzraum» setzte in den 1970er-Jahren ein gewaltiger Bauboom ein. Zwischen 1974 und 1976 wurde eine Zuwachsrate von jährlich über 400 000 Schutzplätzen erzielt. Alle «überlebenswichtigen» Systeme wie Spitäler, Kommunikationssysteme oder Wohnräume wurden für den «Ernstfall» unter der Erde nachgebaut und erfuhren dadurch in der unterirdischen Schattenwelt der Schutzbauten eine seltsame Verdoppelung.183 Die Schweiz schuf ein weltweit einzigartiges System unterirdischer Betonzellen. Im Falle eines Atomkriegs hätten die Bunker die gesamte Bevölkerung aufnehmen können. Ein enormes Bauprojekt, das zu einem immensen Verschleiss von Beton und Geld führte und zu einer Goldgrube für die Schweizer Bauwirtschaft wurde. Im Jahr 2006 gab es in der Schweiz rund 300 000 Schutzräume in privaten Häusern, Instituten und Spitälern sowie 5100 öffentliche Schutzanlagen. Insgesamt hatten etwa 8,6 Millionen Personen einen Schutzraum. In Bezug auf die gesamte Bevölkerung betrug der Deckungsgrad zu diesem Zeitpunkt 114 Prozent.

Der grösste zivile Bunker der Schweiz wurde 1976 im Autobahntunnel Sonnenberg in Luzern eingeweiht. Die Zivilschutzanlage war eine unterirdische «Bunkerstadt», die im Falle eines Atomkriegs 20 000 Menschen Schutz bieten sollte. Die Baukosten für die einst grösste Zivilschutzanlage der Welt beliefen sich auf 38,6 Millionen Franken. Das siebengeschossige Gebäude aus Stahlbeton war mit allem Nötigen ausgestattet, mit einem Operationssaal, einem Radiostudio, zahlreichen Verwaltungsbüros, einem Postschalter, einem Büro für den Seelsorger, einem Geburtssaal und einer Leichenkammer. Der Schutzraum wies jedoch einige gravierende Mängel auf und entpuppte sich als Fehlkonstruktion. Die Hauptprobe im Jahr 1987, die den kuriosen Namen «Ameise» trug, endete im Fiasko, da eine der 1,5 Meter dicken Panzertüren mit einem Gewicht von 350 000 Kilogramm nicht geschlossen werden konnte. Die «Bunkerstadt» im Sonnenberg erwies sich als ein hohles Versprechen, da die verheissene Sicherheit nicht einmal ansatzweise garantiert werden konnte. In seinem Buch Die Schweizer unter Tag schrieb der Journalist Jost Auf der Maur: «Wie konnte diese gigantische Fehlkonstruktion entstehen? Dazu brauchte es die Ingredienzen des Kalten Kriegs: Unter dem Damoklesschwert der Atombombe konnten Menschen zu irrwitzigen Anstrengungen und Verhaltensweisen angehalten werden. Ganz besonders in der Schweiz. Paten standen der jederzeit beschworene Selbstbehauptungswille, der Glaube an die Machbarkeit grosser Ingenieurlösungen, die Abwesenheit politisch handelnder Frauen (sie waren immer noch ohne Stimm- und Wahlrecht), die Furcht vor dem 3. Weltkrieg durch eine verteufelte Sowjetunion und schliesslich die Annahme, der paternalistische Staat könne 20 000 Menschen unter die Erde befehlen.»184 Der zurzeit grösste noch funktionierende zivile Atombunker der Schweiz befindet sich mitten in der Stadt Zürich. Die riesige Zivilschutzanlage im 1974 gebauten Parkhaus Urania bietet während zweier Wochen für rund 10 000 Personen Schutz. Sie verfügt über Panzertüren aus Stahlbeton, die 30 Tonnen Druck pro Quadratmeter standhalten, über zwei Trinkwasserspeicher, zwei Notstromgeneratoren, 45 Gasfilter für die Luftzufuhr und eine Schaltzentrale, die in einen faradayschen Käfig gebaut wurde, um immun gegen elektromagnetische Störungen zu sein, die bei der Explosion einer Atombombe eintreten könnten.185

Während des Kalten Kriegs wäre die Schweizer Regierung im Falle eines Atomkriegs in einen geheimen Bunker namens «K10» bei Brienz geflüchtet, der im Volksmund «Alpenrösli» genannt wurde und bis 1990 in Betrieb war. 1986 entschied der Bundesrat, einen neuen geheimen Bunker namens «K20» bei Kandersteg zu bauen, der bis zu 1000 Personen ein halbes Jahr vor der atomaren Verseuchung geschützt hätte. In den Berner Alpen, im Felsmassiv unterhalb der majestätischen Blüemlisalp, kilometerweit tief drinnen im Berg hätten sich die Bundesräte im Kriegsfall zusammen mit ihren Frauen und Kindern sowie einigen hochrangigen Beamten, militärischen Beratern und rund 40 National- und Ständeräten verkriechen können. Das Parlament stimmte in den 1990er-Jahren dem Ausbau des Bunkers zu, obwohl nicht klar war, für welche 40 Parlamentarier ein Platz im Regierungsbunker reserviert worden war. Die Sitzung im Nationalrat wurde als geheim erklärt, alle Journalisten mussten den Saal verlassen, und die Vorhänge wurden gezogen. 1992 gab der Bundesrat die Kosten bekannt: 230 Millionen Franken für den Rohbau und 38 Millionen für Mobiliar und Technik. Damit die Schweizer Regierung weiterhin mit der Bevölkerung kommunizieren könnte, wurde der Bunker mit einem kompletten Radio- und Fernsehstudio ausgestattet. Der genaue Standort galt lange Zeit als so geheim, dass Journalisten in der Schweiz nicht darüber schreiben durften. Wenn sie es trotzdem taten, wurden sie vom Militärgericht ermahnt oder mit symbolischen Strafen gebüsst. Nebst dem geheimnisumwitterten Bundesratsbunker «K20» gab es in der Schweiz auf kantonaler Ebene noch weitere 18 Regierungsbunker. Der Unterhalt der 19 Bunker kostete jährlich insgesamt rund eine Million Franken.

Heile Welt im Untergrund

Der Bunker wurde zum Symbol einer Schweiz, die als Nation den Atomkrieg überleben wollte. Er versprach der Bevölkerung Schutz vor der Gefahr einer alles zerstörenden atomaren Katastrophe. Der Bunker wurde damit zur «Überlebensinsel» der Schweiz im Kalten Krieg. «Das kleine saubere Schweizerhaus auf der umbrandeten Insel im Weltmeer, von einer liebenswürdigen Familie bewohnt, die konfliktfrei zusammenlebt […], solcherart waren die Vorstellungen, die man als die farbenfrohe Wahrheit über sich selbst freudig verinnerlichte», schrieb der Germanist Peter von Matt über die helvetische Imagination von der Schweiz als einer «Insel» im Zweiten Weltkrieg.186 Die Historikerin Silvia Berger Ziauddin hat die symbolische Bedeutung des Bunkers in der Schweiz während des Kalten Kriegs erforscht und dabei herausgearbeitet, welche Träume und Fantasien mit den Atombunkern verbunden waren. Der Vergleich des Bunkers mit einer «Überlebensinsel», wie ihn der Bauingenieur Werner Heierli gezogen hatte, machte aus dem Schutzraum eine kleinbürgerliche Idylle, in welcher die bürgerlichen Werte der Schweiz gerettet werden sollten.187 In den Broschüren des Zivilschutzes der 1960er- und 1970er-Jahre wurde das Leben im Bunker oft mit einer traditionellen Kleinfamilie dargestellt, mit Vater und Mutter sowie ein oder zwei Kindern. Der Vater übernahm als patriarchales Familienoberhaupt das Kommando im Schutzraum und gab im Notfall die Befehle, während sich die Hausfrau als Mutter fürsorglich um die Kinder kümmerte und sich um den Notvorrat sorgte. Die Familie stilisierte man zur zivilen Zelle des nationalen Widerstands hoch. Der Atombunker wurde mit dem Bild eines Igels dargestellt, der sich zusammenrollt und mit seinen spitzigen Stacheln die Bedrohung von aussen abwehrt, oder er wurde mit der Höhle eines Murmeltiers verglichen: Das putzige Alpentier verschwindet bei drohender Gefahr aus der Luft blitzschnell in seinem unterirdischen Bau.188 Wie Murmeltiere hatten sich die Eidgenossen während des Kalten Kriegs durch ihr Erdreich gewühlt, um in der Geborgenheit des Erdinnern das drohende nukleare Inferno zu überleben.

Der grosse Architekt des Schweizer Bunkerbaus war der Bauingenieur Werner Heierli, der während 40 Jahren als Experte des Bundes für Schutzbauten tätig war. Er war der Dädalus der unterirdischen Bunkerarchitektur der Schweiz während des Kalten Kriegs. Von 1966 bis 2003 war er Mitglied der Studienkommission für Zivilschutz des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements. 1966 war er massgeblich an der Ausarbeitung der technischen Richtlinien für Schutzbauten beteiligt. 1967 wurde ihm von der Studienkommission der Auftrag erteilt, die physiologischen Grenzwerte auszuloten, die für ein Überleben im Bunker gegeben sein müssen. Er war der Architekt der «Bunkerstadt» im Autobahntunnel Sonnenberg in Luzern. Ausserdem beteiligte er sich an der Ausarbeitung des Schutzraumhandbuchs, das 1978 vom Bundesamt für Zivilschutz herausgegeben wurde, und veröffentlichte 1982 die Studie Überleben im Ernstfall. Schliesslich plante er auch den geheimen Bundesratsbunker «K20» und den Generalstabsbunker im Gotthardmassiv.

Werner Heierli studierte die Bombardements des Zweiten Weltkriegs, aber auch Berichte über räumliche Beengtheit in Konzentrationslagern und auf Sklavenschiffen. Die Folgen eines Atomkriegs waren für ihn vergleichbar mit der Katastrophe eines konventionellen Kriegs. Ein Überleben im Bunker während Wochen und Monaten hielt er für möglich, weil er davon ausging, dass der Mensch in Extremsituationen zu Aussergewöhnlichem fähig ist. Die Temperatur im Schutzraum sollte maximal 29 Grad Celsius betragen, pro Person rechnete er mit drei Litern Trinkwasser und einem Kalorienverbrauch von 2100 Kilokalorien pro Tag. Der Schlafplatz mass 70 auf 190 Zentimeter, und 30 Personen mussten sich eine Toilette teilen. Die Fäkalien sollten ausserhalb des Bunkers in nahe gelegenen Gruben vergraben werden, was ohne eine radioaktive Verstrahlung kaum möglich gewesen wäre. Die Hygiene könne extrem stark eingeschränkt werden, meinte Heierli, und die sexuellen Bedürfnisse würden bei knapper Ernährung ohnehin zurückgehen, ansonsten müssten die Lebensmittelrationen weiter gekürzt werden.

Ein besonderes Augenmerk sei auf die Wahl des Bunkerchefs zu legen. Nach Werner Heierli kamen dafür keine «leicht debilen oder psychopathischen Personen» infrage. Der Bunkerchef sollte eine «autoritäre» Führungsperson sein, strenge Befehlshierarchien installieren und eine «scharfe» Disziplin einfordern. Bei der Erregtheit oder Panik einzelner Individuen sollte der Schlaf «erzwungen» werden, indem der Bunkerchef «gezielt» Schlaftabletten einsetzte. Angst, Apathie, Panik, Pessimismus oder gar der Verlust des Selbsterhaltungstriebs müssten unter allen Umständen vermieden werden. Unkontrollierbare Aggressionen würden den Bunker für die zusammengepferchten Menschen definitiv zur Hölle machen. Ansonsten sollte der Bunkerchef die Bewohner mit praktischen Arbeiten beschäftigen und immer wieder an das kollektive Ziel appellieren: die Verteidigung der Unabhängigkeit der Schweiz. Die Angst vor dem Irrationalen und Chaotischen, die in den Verhaltensregeln für den Bunkerchef subtil zum Ausdruck kam, stand dem rationalen Menschenbild diametral entgegen, das Werner Heierli ansonsten in seinen Anweisungen und Ratschlägen für das Leben im Untergrund zu vermitteln versuchte.

Seit dem Ende der 1960er-Jahre suchten die Behörden in der Schweiz auch nach einem geeigneten Notvorrat, der in den Schutzräumen als eiserne Reserve für die Überlebenswilligen angelegt werden könnte. Die «Überlebensnahrung» sollte schmackhaft, nahrhaft und vor allem lange konservierbar sein. Der Lebensmittelkonzern Nestlé produzierte Anfang der 1980er-Jahre 7000 Tonnen eines leicht löslichen, granularen Pulvers, das von den Behörden das technokratische Kürzel «ULN» erhielt. Man könne das Pulver, das sowohl gezuckert und gesalzen verzehrt werden konnte, «mit warmem oder kaltem Wasser geniessen, als Suppe oder Brei, es könne mit Gemüse und Gewürzen angereichert oder auch ‹roh› gegessen werden», schrieb das Bundesamt für Zivilschutz.189 Die «Überlebensnahrung» kostete rund 40 Millionen Franken und wurde von 1981 bis 1984 in der ganzen Schweiz in den Atombunkern der Gemeinden eingelagert. Der Schweizerische Friedensrat hielt die Beschaffung der Überlebensnahrung für «völligen Mumpitz» und meinte, die Schweiz hätte das dafür ausgegebene Geld besser in die Friedenspolitik anstatt in dieses «krampfhafte Aufmöbeln eines überkommenen Sicherheitswahnes» investiert.190 Als das Ablaufdatum der Überlebensnahrung nach zehn Jahren 1991 erreicht war, landete das ULN in den Futtertrögen des Mastviehs und in Ex-Jugoslawien, wohin in einer humanitären Hilfsaktion Hunderte von Tonnen der abgelaufenen Dosen gekarrt wurden, die dann unentgeltlich an die dortigen Spitäler, Kinder- und Altersheime sowie Notküchen abgegeben wurden.

Während des Kalten Kriegs gab es sowohl im Osten wie im Westen eine unglaubliche Verharmlosung der tatsächlichen Gefahr eines Atomkriegs. Legendär ist der US-Propagandafilm Duck and Cover von 1951, in dem Bert, die Schildkröte, den ahnungslosen Kindern erklärt, dass die Schulbank einen hinreichenden Schutz bei einem atomaren Angriff biete. In der Schweiz hat der Zivilschutz im Kalten Krieg zahlreiche Broschüren, Merkblätter und Propagandafilme veröffentlicht, die mit ihren gut gemeinten Ratschlägen der Bevölkerung ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln versuchten. Die beschwichtigenden und beschönigenden Anweisungen erzeugten die Illusion, dass ein Weiterleben nach dem Atomkrieg möglich sei. In den Broschüren ging man davon aus, dass der atomare Angriff nicht aus heiterem Himmel erfolgen würde und die Bevölkerung genug Zeit hätte, um sich in Sicherheit zu bringen. Die 14 Tage, die man im Atombunker verbringen müsste, schienen einer magischen Zahl entsprochen zu haben; sie wurden in beinahe allen Broschüren als fixe Zeitdauer für den notwendigen Aufenthalt im Bunker genannt.191 In der Zeitschrift Zivilschutz schrieb 1966 beispielsweise Dr. med. A. Steiner: «Im Laufe von 1 bis 2 Wochen klingt jede Strahlung so weit ab, dass der Schutzraum verlassen werden kann. Gelingt bis dahin das Überleben eines grösseren Bevölkerungsteils, so wird keine Stadt und so wird kein Volk untergehen.»192 Da sich niemand vorstellen konnte, dass Menschen länger als zwei Wochen unter der Erde ausharren könnten, durfte der radioaktive Fallout nicht länger strahlen.193 Die Katastrophe wurde so konzipiert, dass sie bewältigt werden konnte, ansonsten wäre der Zivilschutz nutzlos gewesen.194 Alle Broschüren verbreiteten einen grossen Optimismus im Hinblick auf die Zukunftsaussichten der Bevölkerung nach dem Atomkrieg. Wie das Weiterleben danach aussehen sollte, wenn weite Teile des Landes vollständig zerstört und radioaktiv verstrahlt, die Produktion in der Landwirtschaft und in der Industrie ebenso wie die medizinische Versorgung weitgehend zusammengebrochen wären, darüber wurde die Bevölkerung nicht informiert.195 Die Tatsache, dass diese Vorstellungen von der Bevölkerung während des Kalten Kriegs als vertrauenswürdige Informationen aufgefasst wurden, erklärte der Historiker Thomas Buomberger mit einer Mischung aus blindem Vertrauen in die Behörden und einer naiven Technikgläubigkeit.196

Nach den Zürcher Globus-Krawallen vom 29. Juni 1968 erklärte sich der Zürcher Stadtrat nach langem Hin und Her schliesslich bereit, den «Lindenhof-Bunker» im Zentrum der Stadt Zürich vorübergehend in ein autonomes Jugendzentrum umzufunktionieren. Am 31. Oktober 1969 riefen die rebellischen Jugendlichen dort ihre «Autonome Republik Bunker» aus und nisteten sich im chaotischen Gewimmel der unterirdischen Betonzellen ein. Sie gründeten eine Diskothek und richteten sich Diskussions- und Schlafräume sowie Büros ein. Nach 68 Tagen Anarchie im Untergrund musste das «Experiment» allerdings wieder abgebrochen werden, da es zu Drogenexzessen, Randalen und antikapitalistischer Agitation gekommen war. Der Luftschutzraum wurde zu Beginn des Jahres 1970 auf Anweisung des Zürcher Stadtrats niedergewalzt. An der gleichen Stelle entstand vier Jahre später das Parkhaus Urania.

Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre geriet der Zivilschutz in der Schweiz durch die Anti-AKW-Bewegung und die Proteste gegen die Entwicklung der Neutronenbombe und den Nato-Doppelbeschluss zunehmend in die Kritik. In der Bundesrepublik Deutschland trafen sich 1000 Pazifisten Mitte November 1980 unter dem Motto «Der Atomtod bedroht uns alle. Keine Atomraketen in Europa» in Krefeld. Am 10. Oktober 1981 demonstrierten dann in der Bundeshauptstadt Bonn 300 000 Menschen. In der Schweiz fand daraufhin im Dezember 1981 unter dem Motto «Für Frieden und sofortige Abrüstung» eine Demonstration auf dem Bundesplatz in Bern statt, an der über 30 000 Männer, Frauen und Kinder teilnahmen. Christine Perren, Mitglied des Schweizerischen Friedensrats, stellte in ihrer Rede die Frage, was sie «eingepfercht» in diesen «Betonlöchern» denn solle. «Was ist, wenn wir kein Wasser und keine Luft mehr haben, und wie lange halten wir das aus, ohne verrückt zu werden?»197

«Ist der ‹Denner› wieder offen, fährt das Tram, wenn wir aus den Löchern steigen? Ist das Wasser trinkbar, das wir finden?» Konradin Kreuzer, Chemieingenieur, 1981

Der Zürcher Chemieingenieur Konradin Kreuzer war damals ein heftig angefeindeter Kritiker des Zivilschutzes. 1973 gründete er das Forum für verantwortbare Anwendung der Wissenschaft und gab von 1977 bis 2000 die Zeitschrift nux heraus. Der Atombunker war für ihn ein «Betonverlies», in das sich die Gesellschaft «einkerkere».198 Der Bunker ermögliche zwar für wenige Tage oder Wochen ein von Chaos, Angst und Panik geprägtes Dahinvegetieren, das sei aber sinnlos, da die Welt ausserhalb des Bunkers radioaktiv verseucht und damit unbewohnbar geworden sei: «Ist der ‹Denner› [das Lebensmittelgeschäft] wieder offen, fährt das Tram, wenn wir aus den Löchern steigen? Ist das Wasser trinkbar, das wir finden? […] Lernen [wir], mit der Radioaktivität zu leben? […] In den Fragen bleiben wir hängen.»199 Später schilderte Konradin Kreuzer das postapokalyptische Szenario einer langfristig radioaktiv verstrahlten Schweiz nach der Explosion einer Wasserstoffbombe im grenznahen Frankreich.200 In den frühen 1980er-Jahren wurden die Atombunker dann von den Friedensaktivisten und Armeegegnern auch als «Betonlöcher», «Sardinenbüchsen» oder «Begräbnisstätten» bezeichnet.201

Im Jahr 1980 gründeten der US-amerikanische Kardiologe Bernard Lown und der sowjetische Kardiologe Jewgeni Tschasow die Organisation International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW), die sich für die weltweite atomare Abrüstung zur Verhinderung eines Atomkriegs einsetzte. Die Schweizerische Sektion der IPPNW wurde am 10. April 1981 von Martin Vosseler gegründet. Im Jahr 1983 publizierte dann eine US-amerikanische Forschergruppe um den bekannten Astronomen, Astrophysiker und Exobiologen Carl Sagan die Theorie des nuklearen Winters als ultimatives Horrorszenario eines globalen Atomkriegs.202 Sie ging davon aus, dass ein weltweiter Atomkrieg zu einer Verdunkelung und Abkühlung der Erdatmosphäre führen und es als Folge dieser klimatischen Veränderung zu Hungersnöten und Massensterben kommen würde. Das einprägsame Bild vom nuklearen Winter – als Parallele zum Aussterben der Dinosaurier nach einer gewaltigen Kollision eines Asteroiden mit der Erde skizziert – zweifelte das Überleben eines Atomkriegs grundsätzlich an und hinterfragte damit auch die Fiktion eines begrenzbaren Atomkriegs und das Vertrauen in den Zivilschutz.203

Die Schweiz hatte zwar keine Kolonien, doch sie durchlöcherte ihren Untergrund wie einen Emmentaler Käse. Seit dem 19. Jahrhundert betrieb sie eine Erweiterung ihres Territoriums in Richtung Erdmittelpunkt, eine Expansion in die Tiefe. Daraus entstanden ist ein einzigartiges, schier endloses subterranes Geäder und Genist aus unterirdischen Stollen, Tunnels, Röhren, Bunkern und Kavernen, ein riesenhafter, sich über das ganze Land ausdehnender Maulwurfsbau. Während des Kalten Kriegs wurde der Bunkerbau zum integralen Bestandteil der totalen Landesverteidigung. Wäre es tatsächlich zu einem weltweiten Atomkrieg gekommen, hätte sich die Schweizer Bevölkerung womöglich zusammen mit der US-Regierung im Weissen Haus und dem Politbüro des Kremls als einzige Exemplare der menschlichen Spezies in Schutzräume flüchten können. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden die Bunker obsolet und blieben als Relikte und Überbleibsel einer vergangenen Epoche zurück. Die Atombunker waren die «Katakomben des atomaren Zeitalters», anders als in Rom, Neapel oder Palermo wären in diesen Gruften jedoch nicht die Toten, sondern die Lebenden begraben worden.204 Nach dem Kalten Krieg wurden die ausgemusterten Bunkeranlagen dann als Lager für Computerdaten, Wein, Käse oder Trockenfleisch, als Wellnessoasen oder Kunsträume genutzt. Die Neuausrichtung der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik führte in den 1990er-Jahren zudem zur Neuorientierung des Zivilschutzes, der sich mit dem «Leitbild 95» verstärkt auf die Katastrophen- und Nothilfe konzentrierte.205

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