Kitabı oku: «H. C. Artmann - Bohemien und Bürgerschreck», sayfa 3

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MELODIE DER PERIPHERIE

Chinesen, Dämonen, Vampire und die Riesenwirtin

Während der 1920er-Jahre war Breitensee vor allem bescheidener Lebensraum für Arbeitslose, Handwerker und Holzfäller. Die Lebens- und Wohnverhältnisse waren äußerst bescheiden, oft wohnten auf kleinstem Raum mehr als zehn Personen. Die Betten wurden nie kalt, weil man sie tagsüber an in der Nacht arbeitende Bettgeher vermietete. Zwischen 1919 und 1921 wurden in den Baracken des ehemaligen „Kriegsspitals“ in der Linzer Straße Notunterkünfte für Obdachlose errichtet. Unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges entstanden am Wiener Stadtrand, in der Lobau und am Rande des Wienerwalds ohne Rücksicht auf Bauvorschriften „wilde Siedlungen“ – Kleingärten-Anlagen. Mit primitiven Hütten aus Holz und Lehm, die Kriegsopfern und heimgekehrten Soldaten als ganzjährige Unterkunft dienten.

Im „Siedlungsamt“, mit dessen fachlicher Leitung 1920 Adolf Loos beauftragt wurde, versuchte man die ungesetzlichen Bauten des „Roten Wien“ in geregelte Bahnen zu lenken. Loos entwickelte in Hietzing die Kriegsopfersiedlung „Friedensstadt“ zwischen Hermesstraße und Hörndlwald, und auch in Breitensee entstanden unter der Aufsicht des Architekten Kleingärten-Kolonien.

Die „Schrebergärten“ wurden in doppeltem Sinn wichtig: „Einschränkungen der Lebensmittelnot und Entspannung der überreizten Nerven …“ Die Notunterkünfte nach dem Krieg für Menschen, denen dadurch das Überleben garantiert wurde, entwickelten sich später zu grünen Paradiesen der Peripherie.

Wie das des pensionierten Straßenbahners aus der Leopoldstadt, der, unweit des Geburtsortes von H. C. Artmann in der Kienmayergasse, einen kleinen Schrebergarten hatte und eines Tages – zwischen dem „Flüstern sommerlicher Lieder von Amseln und Drosseln im Apfelbaum“ und dem ersten Schluck des selbst angesetzten Weichselschnapses das Opfer von Einbrechern wurde. Der ehrenwerte Oberrevisor a. D. Leopold Flötzlberger, der „niemals einen Feind außer dem Durst hatte, keinem Spionagering angehörte, nicht gedichtet, nicht gemalt hat und auch nicht tätowiert war“, wurde überfallen.

Vermutlich kannte Herr Leopold, der pensionierte Straßenbahner mit der stets trockenen Kehle, all die Wirtshäuser von Breitensee und Umgebung. Das „Ameisbach-Stüberl“, Stammlokal des Hutfabrikanen Johann Feil, der als Bürgermeister von Breitensee seinen Sprechtag gerne hierher verlegte. Denn hier gab es den „besten Grammelstrudl vom ganzen 14. Hieb. Die Zutaten: „30 Grammeln, 40 dkg Mehl, 10 dkg Zucker, etwas Milch oder Schlagobers, 2 Dotter, Vanille, Backpulver, Rum, Zitrone + Schale.“

Oder das „Baumgartner Casino“ und das „Hütteldorfer Brauhaus“, „die „Bauernalm“ und der „Ochsenkopf“. Eines der legendärsten Gasthäuser musste dem Bau der Breitenseer Kirche weichen: „Die Riesin“. Laut „Extrablatt“ vom 7. 10. 1895 wurde es nach einer Wirtin aus der Biedermeier-Zeit „von ganz außerordentlicher Größe und von einem seltenen Umfang“ benannt. Hier wurden als Beilage zum G’selchten und Bruckfleisch Knödel in der Größe eines Kindskopfs serviert.

„Die Riesin“-Wirtin mit ihren Knödeln kannte man in ganz Wien, aus allen Bezirken strömten Hungrige nach Breitensee. Und in den Gstanzln der Volkssänger lebten die Riesin und ihre Knödel weiter:

Ein Hoch der Riesenwirtin,

die immer freundlich lacht

und die besten, schönsten,

größten Knödl macht!

Einer der durstigsten Sänger des Bezirks war sicherlich „der alte Bräuchl“, als Gang- und Hofsänger höchst erfolgreich: „Seine Kinder konnten Handelsschulen besuchen, seine Frau, der er treu und herzhaft zugetan war, geht seit eh und je adrett und nett in den Konsum einkaufen, per Hut sozusagen“, berichtet H. C. Artmann. „Seit aber Bräuchl an seinem Sechziger etwas über den Durst getrunken hatte und am nächsten Morgen mit einem Kontrabass erwacht war, ging es mehr und mehr bergab: Der arme Mensch! A Stimmerl wie a Wimmerl!“

1964 fasst Artmann im schwedischen Exil, in Malmö, in seinem Tagebuch die schillernden Figuren seiner Kindheit zusammen. Menschen, die der Tristesse in der Wiener Vorstadt Farbe gaben: „draußen am gang zeigen sich hin und wieder musikanten, feuerfresser, bettler, nachbarinnen mit hochgesteckten zöpfen, gefährliche wassermänner, geheimspitzel, soldaten und alte hexen …“

Mutter Marie erzählt ihm oft schön schaurige Geschichten. Märchen und Sagen aus dem alten Wien. Von der Hütteldorfer Hexenmühle, der alten Wahrsagerin vom Baumgartner Spitz und vom Wassermännlein im Wienfluss. Oder Unheimliches von Dämonen und Vampiren. Von Teufeln und Riesentötern, Waldmenschen und Zauberern. Die Großmutter bringt dem Buben all die seit Generationen überlieferten Zaubersprüche aus dem Waldviertel bei. Dort seien auch seine Wurzeln, im Wald, in der Natur, meint Artmann später: „… und die Oma hat gemeint, ‚wenn i beten wül, geh’ i net in die Kirchn, sondern in’ Wald zu an Bam‘.“

Am Wochenende fährt er mit den Eltern aufs Land. Mit dem Zug bis Retz und dann geht’s zu Fuß zu den Großeltern. Der Opa Aloys Schneider vulgo Schienerschneider, der nach „Honigwaben und Schießpulver roch, wie sich’s g’hört hat“, habe ihm in der Natur, im Waldviertel, „die wichtigsten Dinge erklärt. Und er ist mit mir auf die Jagd gegangen, in viel zu großen Gummistiefeln.“ Bald entwickelte er eine eigene Fantasie-Sprache, ein Gemisch aus melodischem Dialekt der Wiener Vorstadt und den bäuerlich-lyrischen Zaubersprüchen aus dem Waldviertel.

Das Schuhmachergeschäft und die Werkstatt des Vaters sind für Hans Carl der Schnittpunkt seiner Kindheit: „manche haben einen wald voller rotkehlchen – schuhmacher besitzen ahlen, beiß- und kneifzangen, bienenwachs, hämmer, klopfhölzer, kneipe, leisten, spirituslämpchen, verzierrädchen und anderes mehr … wenn der schuhmacher sein tagewerk beginnt, weicht er vorerst einmal das leder ein, dann trinkt er seinen morgenkaffee und spuckt sich in die hände.“

An der Wand des väterlichen Geschäftes hängt ein Spruch: „Scheissen und Brunzen sind Kunsten“ (Jahrzehnte später sollte dieser Spruch wieder auftauchen: bei Konrad Bayer und Gerhard Rühm.) Die Lehrbuben und Gesellen sprechen Italienisch, Tschechisch und Ungarisch. Das Schwadronieren, die G’schichterln von den Abenteuern mit tschechischen Ammen und Köchinnen, im Ringelspiel, der amerikanischen Schaukel, an den Schießbuden oder am Hasensteg und unterm Stadtbahnbogen vermischen sich zu einem Sprachgewirr.

Tschechen und Ungarn, vereinzelt auch Italiener und Polen, waren als Schuster und Schneider, Maurer und Tischler in Breitensee zu Hause. Die Slowaken erkannte man sofort als Kesselflicker, Scherenschleifer oder Händler, die mit Holzwaren von Haus zu Haus zogen. Und jede Gruppe hatte ihren eigenen Treffpunkt: Tschechen und Slowaken das Tanzlokal „Swoboda“ – wo am Wochenende bis in den frühen Morgen Blaskapellen aufspielten. Die Ungarn hingegen feierten im Wirtshaus „Koszaka“ in der Kuefsteingasse.

Und sogar echte Chinesen gab es dort schon damals. 70 Jahre später erinnert sich H. C. Artmann an das Chinesenviertel, das Chinatown von Breitensee. An Herrn Wang, den freundlichen, immer verlegen lächelnden Straßenbahnschaffner, oder den schmächtigen chinesischen Kohlen-Austrager aus der Kuefsteingasse 48, gleich neben seiner Volksschule. Die Chinesen von Breitensee hausten hier unter menschenunwürdigen Bedingungen, in Kellerräumen, Stockbett an Stockbett eingepfercht wie Tiere. An die 50 chinesische Arbeiter sollen es gewesen sein, die Mitte der 30er-Jahre plötzlich da waren. Als das faschistische Italien 1935 Äthiopien überfiel und zur Kolonie machte, wurden alle Chinesen aus Italien ausgewiesen. In Österreich fanden manche von ihnen eine neue Heimat. Und manche wurden vom Schicksal nach Breitensee verschlagen.

Der einzige Mensch, mit dem sich die Chinesen-Kolonie anfangs verständigen konnte, war der Fleischhauer Leopold Killmeyer in der Breitenseer Straße – bei dem auch Mama Marie Artmann manchmal einkaufte. Killmeyer, in den 1930er-Jahren Österreichs erfolgreichster „Sand-, Gras- und Dirt-Track“-Fahrer und als solcher vielfacher Staats- und mehrfacher Weltmeister, erinnert sich im Buch „Penzing – Vom Wienfluss zum Wienerwald“: „Diese exotischen Mitbürger waren Kunden in meinem Fleischhauergeschäft. Sie kauften nur billigste, aber nahrhafte Fleischwaren, vor allem Schwartln und Schweinshaxen. Die Chinesen waren handwerklich sehr geschickt und erzeugten Vasen, Perlenketten, Schirme und Kunsthandwerkliches aus Papier. Ihre Waren boten sie in den Parks und Gassen der Umgebung an. In einem Viertel, in dem die meisten Leute ebenfalls bitterarm waren, konnten sie nicht viel verdienen. Viele ältere Breitenseer erinnern sich noch, dass die fremdartigen Männer auf die Kinder ebenso faszinierend wie bedrohlich gewirkt haben. So wurde es zur häufig gebrauchten Drohung bei Kindern: ‚Wenns d’ schlimm bist, kommst zu die Chineser.‘ Im Jahr 1938 verschwanden die Chinesen genauso schnell, wie sie drei Jahre zuvor aufgetaucht waren.“

Der junge Artmann entwickelt unter dem Einfluss der vielen fremden Dialekte schon während der Volksschulzeit ein außergewöhnliches Sprachgefühl. Während der Hauptschule, im B-Zug, als zwölf- oder 13-Jähriger, liest er begeistert „domschakbiachln“, Abenteuer-Hefte vom Wunder-Detektiv Tom Shark, die in der Schule getauscht werden. Und führt als 15-Jähriger Tagebuch in Sanskrit, während seine Mitschüler aus der Hauptschule in der Lortzinggasse vom sensationellen „Slovan“-Sieg gegen die feldüberlegene „Austria“ schwärmen oder mit wassergefüllten Präservativen in der Klasse herumschießen.

Durch die populären Tom-Shark-Groschenhefte, ihre Helden und Schurken aus Nah- und Fernost ist Hans Carl von den fernen Welten so fasziniert, dass er sich in deren exotische Sprachen vertieft. Assyrische Vokabeln notiert er penibel in einem Heft, das autodidaktische Sprachstudium des Hauptschülers beginnt.

Und er beginnt wie besessen zu lesen. Eskimo-Märchen und keltische Sagen, althochdeutsche Literatur und arturische Epen. In seiner 14-köpfigen Bauernfamilie war Literatur nie gegenwärtig: In einem Interview mit der „Neuen Zürcher Zeitung“ erzählt der Schriftsteller 1997: „Nix hamma g’habt. Den Soldatenkalender und den lustigen Bauernkalender … Ich bin von Haus aus Niederösterreicher. Meine Mutter mochte Wien nie. Obwohl sie seit 1914 in Wien war. Das überträgt sich dann irgendwie … den Wiener Dialekt habe ich zu Hause nicht gesprochen. G’schert hamma gredt. Niederösterreichischen Dialekt, Bauernsprache. Die ist solider …“

Nach der Hauptschule wird Hans Carl für drei Jahre Büropraktikant in einer „Chinasilber-Erzeugung“. Jeden Tag in der Früh geht er zu Fuß von Breitensee in die Zieglergasse. Mittags schnell zurück nach Hause, wo die Mutter mit dem Essen wartet. Und dann die vier Kilometer wieder zurück in die Firma. Weil der Inhaber der Firma Ignaz Freisinger fast nie im Büro war, konnte der kaufmännische Lehrling den ganzen Tag lesen, vor allem Sprachlehrbücher. „Die Post und die Buchhaltung musste ich dem Herrn Freisinger immer ins Café Tuchlauben bringen. Dort hat er jeden Tag tarockiert. Die Firma war ihm ziemlich gleichgültig, er war ein sehr einsamer Mensch, seine ganze Familie lebte in Palästina.“

Einmal pro Woche besucht der Handelsgehilfe Artmann die Handelsschule in der Skodagasse. Am frühen Abend, nach der Arbeit im Büro, kommt er wieder nach Hause, zur Mutter in die Kienmayergasse. Jene Gasse in Breitensee, die im 18. Jahrhundert nach Johann Michael Kienmayer benannt wurde, dem Besitzer der Herrschaft Breitensee, dem wohltätigen Gründer eines Waisenhauses. Als dort am Rennweg 1768 eine Kirche geweiht wurde, schrieb der zwölfjährige Wolfgang Amadeus Mozart eine Messe für den Festakt – die „Waisenhausmesse“. Und das Wunderkind Mozart dirigierte die Uraufführung, im Beisein von Maria Theresia und Josef II., selbst.

Nur etwas älter als damals Mozart – Hans Carl ist 14, 15 Jahre alt – träumt er von der Welt draußen, von der Magie exotischer Länder. Er unternimmt Reisen im Kopf, „im Ballon von Niedercalifornien nach Krain, mit Werwolfsjägern ins koloniale Indien, mit Frankenstein nach Sussex …“.

30 Jahre später beginnt er seine Geschichte „Frankenstein in Sussex“ – die an fantasiegeladene Märchen erinnert – mit dem Satz: „Sie werden das, was ich ihnen jetzt erzähle, kaum glauben, aber die folgenden vorfälle entsprechen tatsächlich der wahrheit“, um dann Frau Holle mit Mary Wollstonecraft Shelley als Kontrahentinnen zusammenzubringen.

Seine reale Umgebung, die Wiener Vorstadt – zwischen Basesse und Bassena – erscheint dem Heranwachsenden bald ziemlich eintönig, bar jeder Mystik: „Ich bin aufgewachsen. Jeder Sommer ist vergangen wie der andere. Ich bin nicht rausgekommen. Ich bin durch den weichen Asphalt marschiert und habe Holunder gerochen …“ Über seinem Diwan hat er eine Karte mit den Reiserouten Don Quixotes aufgehängt. Im „Register der Sommermonde und Wintersonnen“ schreibt er später: „… im traum suche ich immer das weite und erwache im bett. frage: wie weit ist mein bett vom traum entfernt?“

Aus Sehnsucht nach den Abenteuern in weit entfernten Gegenden will er frei und unbeschwert wie ein Vogel sein, von einem fernen Baum zum anderen fliegen. Fremde Sprachen, die er sich selbst beibringt, sollen ihm dabei helfen. Er macht sich mit spielerischer Leichtigkeit Grammatik, Vokabeln und schwierigste Satzkonstruktionen untertan. Er erfindet nebenbei gleich neue Dialekte und imaginäre Sprachkombinationen: „Worte haben eine bestimmte magnetische Masse … sie sind gleichsam ‚sexuell‘, sie zeugen miteinander, sie üben Magie, die über mich hinweggeht, sie besitzen Augen, Facettenaugen wie Käfer … und schauen sich unaufhörlich und aus allen Winkeln an …“

In einem Nachruf liest man im deutschen Feuilleton: „Ein Artmann, der kannte sich aus in Nord und Süd, er kannte den Amselschlag nicht nur auf Englisch, sondern auch ihr gallisches Schnäbeln, er hatte ihre italienischen Cousinen in der Hand und kannte das Tyk-tyk ihrer schwedischen Schwestern.“

H. C. Artmann soll sich mit mehr als 25 Sprachen und Dialekten, darunter Aramäisch, die er sein Leben lang nie sprechen gehört hat, beschäftigt haben. Zwischen der Lektüre der geliebten Schund-Heftln – mit Abenteuern von Tom Shark, Jörn Farrow, Rolf Torring und den Bravourstücken des Gentleman-Diebs Lord Lister – studiert er Grammatiken und Wörterbücher in Assyrisch, Malaiisch, Samoanisch. Und Walisisch-Irisch: Ein Onkel, Hauptschuldirektor im Waldviertel, hatte ihm zum 13. Geburtstag ein Lehrbuch der walisischen Sprache geschenkt.

Bereits im Alter von 15 Jahren kreiert er unter dem weltmännischen Pseudonym „John Hamilton“ Detektivgeschichten. Das Spiel beginnt. Das lebenslange virtuose Spiel mit der Sprache, mit dem Verkuppeln von Dialekt und Surrealismus: H. C. Artmann – der „kurfürstliche sylbenstecher“, wie er sich selbst gerne nannte, beginnt bereits als 15-Jähriger zu schreiben. Über die Abenteuer eines Detektivs.

MELDEZETTEL DER KINDHEIT

Breitenseer Budl-Busen und Zorro, der Rächer der Würstelmänner

Die Poesie der Wiener Vorstadt, die Exotik vor der Haustür, prägt das Werk H. C. Artmanns. Der Meister des Fantastischen und Surrealen, der ständig in fernen Ländern und fremden Sprachen unterwegs ist, vergisst den Meldezettel seiner Kindheit, den Heimatschein seiner Jugend, nie. Breitensee lebt fort. In den Genre-Szenen aus der Vorstadt, den unsentimentalen, skurrilen Skizzen wienerischen Alltags, die an das literarische Raritätenkabinett des Fritz von Herzmanovsky-Orlando oder Heimito von Doderer erinnern.

Auch Artmanns Typen, seine Helden der Peripherie, lassen barocken Humor und surrealistische Züge erkennen. Artmann entwirft Bilder, die auch von Manfred Deix stammen oder in Elizabeth T. Spiras ORF-„Alltagsgeschichten“ vorkommen könnten. Bei Artmann sind es lebensnahe Beobachtungen, die sich in ausgefeilter Sprachkunst wiederfinden. Er hält die Typen des alten, urtümlichen Wiens für immer lebendig, weil er über sie schreibt. Er beobachtet sie genau und reichert sie voll ausschweifender Fantasie zu einem Kaleidoskop von Wiener Typen an.

Wie in den 1983 erschienenen Skizzen „Im Schatten der Burenwurst“: Er berichtet von Zorro, dem Rächer der Würstelmänner, der in einer lauen Vollmondnacht einem nadelgestreiften Kunden mit der Senfspritze ein großes gelbes Z auf das feine Tuch applizierte, nachdem dieser meinte, „die Burenwurscht da is vom Gigara, do loß i mi eineschtechn, waun des Heidl ned zu hundat Prozent vom Roßfleischhocka schdaumt!“

Es sind stimmungsvolle Genrebilder einer bunten, lebendigen Welt der Vorstadt. Wie die Geschichte von der Klofrau Aloisia Pischinger, die am Spirituskocher an ihrem Arbeitsplatz, im Pissoir, Rindsnierndln kocht. Oder der Schrebergärtner, der raren Rossknödeln nachjagt, oder Herr Doleschal von vis-à-vis, der die „dopötn Schligawitz liebevoll „Liptauer“ nennt, der Doctor phil., der seiner Tochter das Tragen von Hosen verbietet.

Und die Frau Amtsrat Reißfleisch, die ihr geräumiges Gassenkabinett an ausländische Studenten vermietet – aber nur an „Ameriganer“: „Nur keine dunkelhäutigen Herren. Das wäre besonders peinlich vor den Nachbarn. Vielleicht wären auch Kannibalen und Mädchenhändler unter ihnen, wie man ja nur zu häufig im Lesezirkel erfahren kann …“ Reißfleischs Freundin, Frau Adele, weiß beim Mohnstrudl Bescheid: „Die Ameriganer sein die solidesten und Geld haben tuns auch. Auf keinen Fall darfst du dir einen Arawer, Perser oder gar ein Dürken nehmen. Die haben uns schon viermal belagert …“

Oder die Geschichte von der verzweifelten Lydia, die „in der Opernpassage, im Volksmund auch ‚Jonaschgrottn‘ genannt, ihren geliebten Mohammed sucht“. Und vom älteren Herrn Morawetz, der sich auf der Suche nach ewiger Jugend ein „Moperl“ zulegt: „Ma muaß, wun ma med an Moped in de freie Natua aussebledad, desshoeb no laung ka Hoebschdoaka sei.“

Oder die Kaninchenbeschälerin, die in der Erzählung „Grunzbojar im Musenhain“ mit den Kolleginnen am Arbeitsplatz einen kollektiven Orgasmus erlebt: „sie verdreht die augen wie eine sodomierte nonne“. Oder Herr Alois Schaffranek, der Woche für Woche – nachdem er sich mit dem „Philishave“ rasiert hat – beim geliebten Häferl Milchkaffee Liebesbriefe schreibt.

Oder die Frau Marous, die Hans Carl seit seiner Schulzeit kennt. In ihre Tee- und Likörstube ist er später gerne um einen doppelten Korn gekommen – für den rauhen Hals. Seit eh und je steht Franciska Marous „… wie eine schöne, 60-jährige, kupfergesichtige Sonne vor den Wunderregalen. Hinter ihr stehen die frischgewaschenen Stamperl wie ausgerichtete Soldaten. Und es schillert in allen Farben eines gewaltigen Rausches … fichtennadelgrün, waschblaublau, griotterot, kaiserbirngelb, sliwowitzblond … in znaimerisch großen Gurkengläsern lauert der Angesetzte, Nussstückerln und Tannensprösslinge schwimmen wie ein sommerfauler Fisch an einem heißen Augusttag, der im Aquarium der Frau Tant’ seine Mittagspause hält. Auf der Budel stehen griffbereit der wohlfeile Korn und eisklarer Kümmel, nicht weitab davon träumt eine Flasche Kranawetten-Schnaps, den einfachere Menschen gewöhnlich Gin titulieren …“

Und schon knapp nach der ersten Straßenbahn kann man hier die Stammgäste am Busen der Budel von Franciska Marous stehen sehen: „Anrainende Pfründner, schläfrige Nachtwächter und der Herr Polier“, der hier seine wichtigsten Direktiven ausgab. Immer nach dem fünften Achterl Negus rief er von der Schwelle der Frau Marous fröhlich seinen Mitarbeitern zu: ‚Kumts eina, meine Herrn, heit schreim mar an Regndog; es seids meine Gäst!‘“

Und man darf ein liebenswertes Original, einen alten Freund Artmanns, nicht vergessen: den Lebenskünstler Peperl Novák, der als Herr Bobby von Breitensee für Furore sorgte. Es war im Sommer 1935, Hans Carl und seine Freunde trugen bereits pflaumenblaue Homburgs und rauchten Zigaretten mit bunten Mundstücken, „… da wir bereits vierzehn waren“. Zu dieser Zeit änderte einer dieser Freunde, Peperl Novák, seinen Namen in Bobby Grey, gab sich für sein Alter schon ziemlich weltmännisch und begann als Assistent bei einem Detektiv zu arbeiten. Das Vorstadt-Detektivunternehmen ging nach kurzer Zeit ein, Mister Grey aus Breitensee musste seinen Beruf wechseln. Er nahm Stepp-Unterricht, fand eine entzückende Partnerin – „und nicht lange darauf besaß Wien seinen eigenen Fred Astaire. Dieserart verlor ich meinen Freund, den späteren großen Grey, aus den Augen“, berichtet Artmann. Bobby gastierte in Lodz und Monte Carlo, Podersdorf, Leitmeritz oder Lausanne, „entschwand meinen Augen wie ein prächtiger Luftballon“.

Als Artmann nach dem Krieg wieder in Wien war, traf er Freund Bobby mit einem Kinderwagen voller Eschenholz. „Was ich in d’ Hand nimm, wird Gold“, meinte er. „Da hab i ma jetzt a zehn Jahr altes Holz verschafft, leicht wie Bettfedern. I hab a ganz spezielle Erfindung. Etwas, was no nie da war! I bau’ mir jetzt beim Dworschak hinten in der Werkstatt ein paar Stelzen und geh damit auf Tournee. A neue Partnerin hab ich auch wieder, die alte is’ mir schon z’ alt. Nächste Woche kannst uns im Franzosen-Kino in der Breitenseer Kaserne sehn.“

Und er reichte Freund Artmann seine Karte:

BOBBY GREY & LILLIAN Step- & Tricktanz auf Stelzen

Bobby und Lillian eilten auf ihren Stelzen von Triumph zu Triumph, ihr Ansehen stieg von Tanz zu Tanz. Und wieder einmal verlor Artmann seinen Freund aus den Augen. Bis eines Tages ein mächtiger Straßenkreuzer neben ihm hielt: „Ich drehte mich um, weil ich dachte, vielleicht ist’s irgend so ein Filmproduzent, der mich engagieren und meinem Elend sozusagen entreißen möchte. Aber weit gefehlt! Es war Bobby! Fröhlich erklang die liebe, alte Stimme aus dem Inneren der Luxuslimousine: ‚Servus, Hansi, alte Hütten, geh nur net so arrogant vorbei!‘ – ‚Sakramentnoamal‘, entfuhr es mir, ‚wann ich in meiner verpfuschten Jugend doch nur steppen gelernt hätt’, zumal noch auf Stelzen, dann fahrert ich jetzt auch mit so an Wagerl wie du!‘ ‚Wer sagt dir denn, dass ich noch tanzen tu‘, meinte gut gelaunt Bobby Grey. ‚Ich bin vor drei Jahren in die Industrie eingestiegen, Krampfadern und Stepptanz sind feindliche Brüder, weißt.‘ Bobby reichte mir seine büttenpapierne Karte:

JOSEPH E. NOWACK Generalvertreter Stöttinger Ges.m.b.H Büromaschinen

‚Wann’s du einmal eine Vervielfältigungsmaschine für deine Gedichter brauchst, dann ruf mich an. Bei mir kriegst sie um 25 Prozent billiger, weil’s d’ ein alter Freund bist. Und ich hab halt immer noch ein Herz für d’ Kunst.‘“

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