Kitabı oku: «Bilder der Levante», sayfa 2

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»Thawra, thawra!« (Revolution, Revolution!), antwortet die Menge. »Wir verlassen diesen Platz, wenn Mubarak Ägypten verlässt«, ruft Ahmad, ein Bursche mit Strickmütze. Junge Männer scharen sich um mich, um ihre Meinung zu äußern. Ahmad befiehlt: »Schreiben Sie, schreiben Sie auf, was wir sagen, erzählen Sie der Welt, dass wir Demokratie und Freiheit wollen. Keine Korruption mehr. Keinen Mubarak mehr.«

Karin Leukefeld, eine deutsche Kollegin, ist aus Damaskus gekommen und geht mit mir die zwanzig Minuten vom Hotel zum Tahrirplatz. Wir haben uns 2003 in Bagdad kennengelernt und seitdem in Irak, Ägypten und Syrien oft ein Team gebildet. Umgeben von protestierenden Professoren, die uns drängen, über ihre Ansichten zu berichten, werden wir selbst zu Studentinnen von Seminaren, die wir unter uns »Revolution 101« nennen. Uns begegnen ein nubischer Taxifahrer, der Geld braucht für die Diabetesmedikamente seiner Frau und die Ausbildung seines Sohnes. Ein Mann, voller Staub vom Tahrirplatz, der behauptet, Mubarak habe 70 Milliarden Dollar gestohlen. Als wir ihn fragen, woher er das wisse, antwortet er, aus dem Guardian, allerdings spricht er kein Englisch. Studenten, die ganze Nächte und Tage auf dem Platz verbringen, um die Besetzung durch das Volk aufrechtzuerhalten. Jeden Morgen gehen sie nach Hause, um zu duschen und sich zu rasieren.

Über uns fliegen Hubschrauber, ein Panzer fährt im Slalom über den Platz und wird von der Menge, die für den ächzenden Koloss zur Seite tritt, bejubelt. Die Menschen vom Tahrirplatz, die Tahriris, glauben, die Armee, die sich aus den Gefechten herausgehalten hat, stehe auf ihrer Seite und gegen Mubarak, gegen seine Sicherheitsleute und die baltagiya. Ein dünner Jugendlicher in rotem Hemd zeigt die Hülse einer scharfen Patrone vor, ein Mann hält mir eine Handvoll Gewehrpatronen hin. »Sehen Sie mal, die sind aus amreeka«, ruft er und hält die grüne Hülse hoch, um das Messingende zu zeigen: »USA«.

Männer mit salafistischen Bärten ohne Oberlippenbart und mit Bärten im Stil der Muslimbruderschaft, Nikabs und Hidschabs, Frauen mit Locken in Jeans und Pullovern, Junge, Alte und Menschen mittleren Alters, alle sind hier. Hier auf dem Tahrirplatz, zur Zeit der Befreiung.

Der Lärm von Kampfflugzeugen übertönt die Stimmen auf dem Tahrirplatz, wo Hunderte Richter für den Rückzug der Polizei demonstrieren und Untersuchungen zu Schüssen auf unbewaffnete Demonstranten fordern. Ghada Shahbender von der Ägyptischen Organisation für Menschenrechte sagt, die Zahl der Toten belaufe sich in Kairo auf einhundert, in Alexandria auf dreißig und in Suez auf sechzig.

Die Ausgangssperre ab sechzehn Uhr wird ignoriert. Menschen sind zu allen Tages- und Nachtzeiten auf der Straße. Entlang der Straße des 26. Juli haben sich Nachbarschaftswachen aufgestellt, um mit Knüppeln und Gehstöcken Kriminelle und baltagiya zu vertreiben. Ein Mann in einer braunen Lederjacke, begleitet von einem großen Schäferhund, bietet mir an, mich sicher zur Residenz zu geleiten. Conor, der sich der Wache angeschlossen hat, sagt: »Wir haben Molotowcocktails und Besenstiele.«

Die Armee umringt den Tahrirplatz mit gepanzerten Mannschaftswagen, Spähwagen und Kampfpanzern, die im Tarnbeige der Wüste aus dem Stadtbild fallen. Sie kappt den Zugang mit Rollen von Klingendraht. Soldaten werden zu Torwächtern des Platzes, prüfen Ausweise, ohne Namen aufzuschreiben.

Flugdrachen in den Farben der ägyptischen Flagge sinken und steigen über der Kasr-el-Nil-Brücke. Straßenhändler verkaufen Fahnen, überdimensionierte Zylinder in Grün, Schwarz und Rot sowie T-Shirts. Jugendliche bieten an, winzige ägyptische Flaggen auf Wangen zu malen. Man könnte meinen, die Ägypter hätten sich seit Monaten oder Jahren auf eine Revolution vorbereitet und seien nicht von einem plötzlichen Aufstand überrascht worden. Der Organisator Sherif sagt, als über Facebook zu Demonstrationen am 25. Januar aufgerufen worden sei, hätten sie »fünfzig Leute hier und hundertfünfzig da« erwartet. Es kamen fünfzigtausend.

Jungen schieben Fahrräder, an den Lenkern Plastiktüten voller Styroporschachteln mit Geflügel und Nudeln, um die Menschenmenge mit Essen zu versorgen. Andere tragen Tüten mit runden Brotlaiben und verteilen Wasserflaschen. Am östlichen Ende des Platzes werden an behelfsmäßigen Ständern Porträts der in den Gefechten Umgekommenen befestigt, die wie Märtyrer gefeiert werden. Aktivisten stellen Zeichnungen des Tahrirplatzes aus und malen, auf dem Boden auf Kartonbögen kniend, Poster, die Mubaraks Amtsenthebung fordern. In der Nähe von Hardee’s-Schnellimbiss vor der Haupttribüne, wo Freiwillige die Tonanlage bedienen, bilden sich Schlangen; den ganzen Tag über erschallen spontane Reden über die Lautsprecher. Die Ägypter sagen ihre Meinung.

Restaurants und Geschäfte am Platz haben geschlossen, manche sind mit Rollläden verschlossen, andere nicht. Kein einziges ist beschädigt, kein Fenster eingeschlagen. In einem Zelt auf dem Verkehrskreisel ist ein Feldlazarett untergebracht, dort sagt ein Grafikdesigner, der sich nach dem altägyptischen Gott Horus nennt: »Zum ersten Mal seit dreißig Jahren sind wir stolz, Ägypter zu sein. Wir waren taub geworden. Jetzt können wir kaum glauben, dass wir die Dinge selbst in die Hand nehmen.«

Als wir wieder zur Kasr-el-Nil-Brücke gehen, ruft ein junger Mann in einem blauen Pulli Karin und mir hinterher: »Danke fürs Kommen!«, als hätten wir einer Teegesellschaft beigewohnt, nicht einer Revolution.

Organisatoren fordern einen »Marsch der Millionen« vom Tahrirplatz zum Präsidentenpalast in Heliopolis, doch das Militär blockiert den Weg. Wieder tritt Mubarak im Fernsehen auf, dieses Mal um elf Uhr abends, und verkündet, dass er nicht mehr für das Präsidentenamt kandidieren wird. Fassungslos buhen und pfeifen die Menschen auf dem Tahrirplatz ihn aus.

An der Uferpromenade versammeln sich Mubaraks Anhänger vor dem Gebäude des Staatsfernsehens. Ein Mann trägt einen ganzen Strauß von Flaggen an Stangen und verteilt sie an alle, die kommen. Abhängige Beamte und Arbeiter aus Fabriken, die Loyalisten gehören, unrasierte harte Männer von der inneren Sicherheit und Polizisten in Zivil. Wir eilen zurück in die Sicherheit des Tahrirplatzes.

Die Armee lockert ihren Griff um den Tahrirplatz und lässt zu, dass Mubaraks Männer auf Kamelen und Pferden, mit Peitschen und Knüppeln auf den Platz reiten. Sie werden von Demonstranten zurückgedrängt, die sich mit Schilden aus Wellkunststoff und Pflastersteinen bewaffnet haben. Der Zusammenstoß wird nach einer wichtigen Schlacht der islamischen Geschichte »Kamelschlacht« getauft. Am nächsten Morgen sind ordentliche Haufen grober Pflastersteine an strategischen Punkten rings um den Platz verteilt. Wachen trommeln rhythmisch auf hohlen Laternenpfosten, wann immer sich Schläger im Dienst des Regimes nähern. Männer bewaffnen sich mit blau ummantelten Aluminiumrohren von der Baustelle vor dem Ägyptischen Museum. Die Demonstranten, wütend darüber, dass die Soldaten und Panzer die Angreifer nicht aufgehalten haben, skandieren nicht mehr »Volk und Armee gehen Hand in Hand«.

Außer der Kasr-el-Nil-Brücke sind alle Zugänge zum Tahrirplatz gefährlich. In der Talaat-Harb-Straße und der Muhammad-Mahmud-Straße lauern Sicherheitsleute in Zivil, warten baltagiya und Lockspitzel auf Aktivisten und Journalisten. Ein französisches Fernsehteam wird verschleppt und stundenlang auf einer Polizeiwache festgehalten. In Sichtweite des Talaat-Harb-Platzes werden wir von zwei gut gekleideten, stämmigen Typen angehalten. Als sie Karins Tasche durchsuchen wollen, versteckt sie ihre Kamera am Boden unter einem Schal und zieht nur ihr Tonbandgerät hervor. Ein junger Ägypter in unserer Nähe beobachtet die Situation und greift ein. »Reden Sie nicht mit denen und kommen Sie mit.« Er führt uns bis zum Platz, wo wir in ein zerbeultes schwarz-weißes Taxi steigen und durch die wäscheverhangenen staubigen Hintergassen Bulaks fahren, bis wir schließlich die Brücke nach Zamalek überqueren. Unser Entführer stellt sich als Hussein vor. Als wir drei in der Nähe der Buchhandlung Diwan aussteigen, gibt er uns seine E-Mail-Adresse.

Ägypterinnen und Ägypter, die zum Tahrirplatz wollen, strömen durch Zamaleks verwinkelte Straßen und breite Alleen zur Kasr-el-Nil-Brücke. Dort bilden sie fröhlich Schlangen von einem Löwenpaar zum anderen. Kleine Jungen mit Flaggen klettern auf die Statuen. Verschwunden sind die Haufen von Pflastersteinen, die Knüppel und Schilde, mit denen die Verteidiger die Kontrolle der Revolution über den Platz aufrechterhielten. In einem plötzlichen Gesinnungswandel stehen jetzt Soldaten in Flakwesten und Helmen bereit, um die Demonstranten vor Angreifern zu schützen. Vizepräsident Omar Suleiman ruft Eltern auf, ihre Kinder nach Hause zu holen. Doch die Eltern und Großeltern sind selbst auf dem Platz und feiern ihre Befreiung.

Auf der Hauptbühne beklagt ein Mann am Mikrofon dreihundert Märtyrer. Isolde Moylan, elegant in Hosenanzug und Seidenschal, kommt auf den Platz, um den Leuten zuzuhören. Christen bieten Muslimen Schutz, indem sie sich während der täglichen Gebete um sie stellen. Ein koptischer Priester predigt einer hauptsächlich muslimischen Gemeinde. Alle zusammen singen wir Biladi, die ägyptische Nationalhymne. Mira, eine Studentin, hält ein Plakat in die Höhe, auf das ein Ausweis gemalt ist: »Name: Bürgerin; Religion: Ägypterin; Geburtsort: Tahrirplatz; Beruf: Revolutionärin.«

An den Barrikaden zum Tahrirplatz sagen Soldaten, wir dürften den Platz nur mit ägyptischen Presseausweisen betreten. Nach einem Anruf bei der Pressestelle wird uns der Zutritt gewährt. Gleich am Rande des Platzes stehen in zwei Reihen Männer mit Trommeln und Tamburinen. »Wartet, wartet«, ruft der Dirigent. Und während wir an ihnen vorbeigehen, singen die Männer: »Raus, raus, Omar!«, schlagen auf ihre Trommeln und schütteln die Tamburine. General Hassan al-Rawini, Chef des Zentralkommandos der Armee für Kairo, betritt den Platz. Er ist umringt von bewaffneten Soldaten und klettert auf die Bühne. Als er verkündet: »All eure Forderungen werden heute Abend erfüllt«, tragen jubelnde junge Männer ihn auf den Schultern umher.

Wieder tritt Mubarak im Abendprogramm auf und wieder erklärt er, er werde bis zur Präsidentschaftswahl im September des Jahres im Amt bleiben. Der Tahrirplatz gerät in Rage. In der Abenddämmerung des 11. Februar, ein Freitag, verkündet Omar Suleiman, blass und sichtlich mitgenommen, einen Offizier an der Seite, Mubarak habe »entschieden, sein Amt als Präsident niederzulegen« und das Militär zur Regierungsmacht ernannt. Der Tahrirplatz tost vor Freude, Feuerwerke werden gezündet, leere Straßen füllen sich mit hupenden Autos, die die Scheinwerfer aufflackern lassen. Die Ägypter tanzen auf der Straße, umarmen einander, weinen, lachen, schreien »Hurriya, hurriya!« (Freiheit, Freiheit!).

Kairo, Ägypten, 12. Februar 2011

Die Bevölkerung geht auf die Straße, geht zum Tahrirplatz. Mit Besen und Eimern, Plastiktüten, Farbeimern und Pinseln bewaffnet, überqueren Menschen die Kasr-el-Nil-Brücke. Ein Abschleppwagen zieht ausgebrannte Autos aus dem Zugang zur Metrostation Sadat. Ägypterinnen und Ägypter mit Mundschutz und Handschuhen fegen Müll zusammen und leeren ihn in Säcke. Eine gut gekleidete Frau in kniehohen Lederstiefeln, eine ägyptische Flagge um die Schultern gelegt, schwingt ungeübt einen Besen. Schmutzige Straßenkinder schieben Karren voller Mülltüten zu Sammelstellen, von denen Laster die Säcke wegfahren. Auf dem Boden ausgebreitete Plastikplanen werden mit Blumen belegt, um zu markieren, wo Märtyrer gestorben sind. Andere Teams schrubben Graffiti von der Statue Abdel Moneim Riads und von Gebäudefassaden. Jugendliche streichen ein Wachhäuschen vor der Villa, in der sich das Außenministerium befand, und erneuern die schwarz-weißen Streifen an Bordsteinkanten. Barrikaden werden abgebaut und fortgetragen. Mädchen, die die Straße kehren, haben auf ihren Pulloverrücken Zettel befestigt: »Entschuldigen Sie bitte die Unannehmlichkeiten. Wir bauen gerade Ägypten auf.«

Larnaka und Agios Dometios, Zypern, 14. Februar 2011

Andreas schob den bezahlten Parkschein in den Automaten, um die Schranke an der Ausfahrt des Flughafens zu öffnen. Er schimpfte mich aus: »Meine Frau und ich haben uns Sorgen um Sie gemacht. Wir haben im Fernsehen gesehen, was in Ägypten los ist. Als Sie mich nicht angerufen haben, damit ich Sie vom Flughafen abhole, haben wir uns Sorgen gemacht. Ich war mal in Ägypten. Wir sind mit dem Schiff nach Alexandria und dann mit dem Zug nach Kairo. Auf der Reise wollten alle Ägypter Geld von uns.«

Er parkte vor meinem Tor bei der hohen schiefen Pinie und hob meinen Rollkoffer aus dem Kofferraum des Mercedes. Ich nahm den Koffer, legte mir meine Laptoptasche um und stieg die Stufen zur Veranda hinauf. Zwischen dem schmiedeeisernen Gitter und dem Türglas steckte ein Zettel: »Bitte melde dich.« Noch jemand Besorgtes. Im Hausflur war es kühl, ein wenig feucht. Nadeln der gefährlich schiefen Pinie vor dem Haus waren unter der Tür hindurchgeweht und hatten sich am Saum des rot-grünen Beduinenteppichs auf dem Terracottaboden gesammelt. Ich sah mein Gesicht und meine Schultern in dem Spiegel, in dessen Holzrahmen drei Pfauen geschnitzt waren, die Arbeit eines Insassen im Gefängnis von Baaklin, an einen Beiruter Trödelladen verschleudert, nachdem die Ehefrau des Häftlings sich beklagt hatte, Pfauen brächten Pech. Über der Tür zum Wohnzimmer Maaths Gemälde von fünf um einen Tisch versammelten Clownsköpfen mit dem frechen Titel »Das letzte Abendmahl«. Über der Tür zum Arbeitszimmer das Bild eines zyprischen Malers im Stil van Goghs, Explosionen strudelnder winziger blauer und goldener Ovale. Auf dem persischen Kelim über den Holzdielen lagen Faxe, das rote Licht des Anrufbeantworters blinkte. Als ich den Computer angeschaltet hatte, rief ich Marya, meine Tochter, an und sagte ihr, ich sei wieder sicher zu Hause.

Sie antwortete lebhaft und voller Energie, Brian und Lili gehe es gut. »Ich habe auf Facebook erwähnt, dass du in Ägypten bist und alle haben gefragt, was du dort machst. Also habe ich Links zu deinen Artikeln gepostet.«

Auf dem Bücherregal neben Telefon und Fax stand der Porzellanrahmen mit Godfreys Foto; die Hand zur Betonung seiner Rede geöffnet, blickte er mich mit geschürzten Lippen an. Er hätte die Szenen auf dem Tahrirplatz großartig gefunden und sie in sehr viel bessere Worte als ich gefasst. »Du hast dein Bestes getan, vergiss den Rest«, hätte er gesagt.

Ich lüftete das Wohnzimmer, in dem neben dem verrußten Kamin der grün-goldene Metallpfau Wache stand, und öffnete die Türen zur Seitenveranda. Ich holte den Weihnachtsstern herein und stellte ihn in den silbernen Topf auf das Kupfertablett, unsere Tischplatte. Unter dem Tisch lag Grandma Fanchers rosa-weiß-blauer Saruk, 1908 von ihr erstanden, im Geburtsjahr meines Vaters.

2Ausbruch

Bay City, Michigan, USA, vierziger Jahre

Grandma Fancher erlaubte nur ein paar leichte Möbelstücke auf ihrem Saruk; Schuhe waren verboten. Aber sie hatte nichts dagegen, wenn ich mit meinem Spielzeugauto über die blau geblümte Fahrbahn entlang des Teppichrands fuhr. Der Saruk ist viel herumgekommen. In Iran geknüpft, in Bay City erstanden, nach Denver und wieder zurück transportiert, dann nach Beirut, Damaskus und schließlich in das zweitausend Jahre alte Agios Dometios, die Mischung aus Vorort und Dorf, wo ich heute wohne.

Grandma Fancher bewohnte eine Zimmerflucht in dem schönen Haus mit Garten ihrer Schwester Minnie. Der Saruk bedeckte die Holzdielen im Salon meiner Großmutter, um ihr Bett im Nebenzimmer waren drei blaue chinesische Seidenteppiche gelegt. Auf ihrem Frisiertischchen ein silbernes Art-Déco-Set, Handspiegel, Kamm und Bürste, verziert mit einer Frau mit fließendem Haar. Grandma Fancher frühstückte im Bett, saß dort in ihrer wattierten Jacke, das Essen vor sich auf einem Tablett mit Füßchen, von der Köchin hereingebracht. In der rechten oberen Ecke des Tabletts stand immer eine kleine Teekanne mit Blumenmuster, dazu die passende Tasse und Untertasse. Über Nacht hatte ihr ein spinnenfeines Haarnetz eine zarte Linie quer über die Stirn gezeichnet. Nachdem sie gebadet, sich mit Talkumpuder eingerieben und angekleidet hatte, frisierte sie sich mit einem elektrischen Lockenstab das drahtige graue Haar, das sie kurz, aber nicht zu kurz trug.

Grandma Fancher, eine zierliche Frau mit dunklen, tief liegenden Augen, stets in elegante, dunkelblaue oder burgunderrote Kleider aus weicher Wolle gekleidet, eine Brosche am hohen V-Ausschnitt, sah ihrer großgewachsenen, knochigen, hellhäutigen älteren Schwester überhaupt nicht ähnlich.

Vor dem Mittagessen zog der Duft von Hefebrötchen und Brathähnchen durchs Haus. Bei Tisch musste ich stillsitzen und aufessen. Die Ehre meines Zweigs der Familie – der jüngeren, benachteiligten Seite – lag auf meinen Schultern. Der Zweig von Großtante Minnie war die wohlhabende, ältere Seite.

Ida, meine Großmutter, hatte die High School als Jahrgangsbeste abgeschlossen und wollte gern ans Vassar College, doch ihr Vater, der dafür wohlhabend genug gewesen wäre, sagte: »Mädchen gehen nicht aufs College, sie heiraten.« Ida rächte sich, indem sie ihrer Schwester Minnie den Verlobten stahl. Auf Idas Nachttischchen stand in einem Silberrahmen ein Foto vom großen, ernsten Arthur und ihr selbst, in Weiß, breitkrempige Hüte auf den Köpfen, während eines Urlaubs in Palm Beach.

Sie hatte immer nach Hawaii gewollt. Arthur versprach es ihr, starb aber in Denver, bevor sie die Reise hätten antreten können. Mit meinen Eltern kehrte sie nach Bay City zurück, um sich dort im Netz der Familie zu verfangen, breit ausgeworfen von der auch verwitweten Minnie.

Ich rechne es Grandma Fancher hoch an, die Grundlagen für meinen Triumph mit dem Heiligen Ludwig gelegt zu haben. In goldenen Brokat gekleidet, saß sie in der Wohnung meines Vaters im Ohrensessel und las mir aus den Märchen der Gebrüder Grimm und Hans Christian Andersen vor, bis ich sie auswendig kannte und sich die Worte klammheimlich in mein Unbewusstes eingeprägt hatten. Als ich dann gedruckten Worten in der Geschichte über den Heiligen Ludwig begegnete, sprangen sie mich praktisch aus den Seiten an.

Bay City, Michigan, USA, September 1951

Der blasse Lehrer, unsere erste männliche Lehrkraft in der Grundschule, war neu und kannte sich in der Schule noch nicht aus. Als er die Anwesenheitsliste durchging, »Billie Carlisle« rief und ein Mädchen aufstand, wirkte er kurz ratlos. Sagte aber nichts. Als dann bei »Michael Fancher« ein zweites Mädchen aufstand, schickte er uns beide zur Direktorin. Die gute Seele brachte uns zurück ins Klassenzimmer und erklärte, dass diese Männernamen tatsächlich unsere seien. Er hätte wissen können, dass Billie durchaus als Mädchenname verwendet wird, bei Michael hätte er zugegebenermaßen mit einem Jungen rechnen können. Nach diesem kleinen Intermezzo fragte er mich nie, warum man mich so genannt hatte.

Gefragt haben mich das viele Leute, aber eine zufriedenstellende Antwort habe auch ich nicht. Stimmungsabhängig sagte Ma manchmal: »Dein Vater mochte keine Mädchennamen«, oder sie selbst habe sich für den Vornamen von »Michael Strange« entschieden, dem Pseudonym und Lieblingsnamen von Blanche Oelrichs, einer gefeierten Schauspielerin und Dichterin (von der meine Mutter vorgab, sie zu kennen). Blanche oder Michael war die zweite Ehefrau des Schauspielers John Barrymore; er wiederum war der zweite ihrer drei Ehemänner. Ihre Biografie Who Tells Me True erschien 1940, in meinem Geburtsjahr. Das mag sich auf meine Namensgebung ausgewirkt haben.

Oder Ma sagte, sie liebe Michael Arlens Der grüne Hut, einen gewagten Roman, der sowohl in New York und London für die Bühne bearbeitet als auch mit Greta Garbo und John Gilbert verfilmt worden war. Wie Blanche fühle ich mich wohl mit »Michael« und finde, der Name passt zu mir, auch wenn er hin und wieder für Verwirrung sorgt. Ein paar Wochen, nachdem ich angefangen hatte, für die Irish Times zu schreiben, erzählte mir ein Diplomat, im irischen Außenministerium gehöre es zum Insiderwissen, dass Michael Jansen eine Frau sei.

Beirut, Libanon, April 1965

Während unserer anfänglichen Telefonate wegen eines Jobs hatte Godfrey mich »Miss F.« genannt. Bei unserer wichtigsten Begegnung musste er im Bett liegen. Bei einem Besuch von Freunden im Bergdorf Schemlan hatte er eine schwere Kiste Lebensmittel vom Auto ins Haus getragen und einen Bandscheibenvorfall gehabt. Er hatte mir gesagt, der Haustürschlüssel liege unter dem Fußabtreter. Ich solle einfach in die Wohnung und ins Schlafzimmer kommen, dort liege er seit sechs Monaten. Der Professor, der mich für die Stelle als Redaktionsassistentin vorgeschlagen hatte, warnte mich vor dem Bewerbungsgespräch: »Jansen ist ein riesiger bärtiger Sikh, der kleine Mädchen frisst.« Unsicher, ob das nun ein Scherz war oder nicht, postierte ich meinen kräftigen syrischen Freund an der Haustür.

Godfrey war natürlich kein großer, bärtiger Sikh, der kleine Mädchen fraß, ob morgens, mittags oder zum Nachmittagstee. Er war ein schmaler Mann mit klar indischen oder südasiatischen Gesichtszügen, einer Hornbrille, leicht gewelltem schwarzem Haar und einer etwas gebieterischen Art. »Gehen Sie mal in die Küche und machen uns zwei Whisky«, befahl er. Ich tat wie mir geheißen, kam wieder zurück, setzte mich in den Besucherstuhl und wir besprachen, wie man das Middle East Forum von einer sporadischen monatlichen Zeitschrift zu einem ernsthaften, viermal jährlich erscheinenden Journal machen könne.

Die Arbeit musste warten, bis sein Arzt entschied, ob Godfrey geheilt war oder noch eine riskante Operation benötigte. Ich wollte gern anfangen, weil ich das Geld brauchte, und so rief ich ihn ab und zu an, um mich nach seiner Genesung zu erkundigen. Schließlich ging er für irgendwelche Untersuchungen ins Krankenhaus. »Die haben mich auf einen Tisch geschnallt, mir Kontrastmittel in die Wirbelsäule injiziert, mich in einem dunklen Raum auf den Kopf gestellt und geröntgt. Ich war da ziemlich lange drin, bis Suhail irgendwann reinkam und gesagt hat: ›Die Bandscheibe ist verheilt, aber weil die Nerven noch gereizt sind, musst du Krankengymnastik machen.‹ Als ich fragte, welche Farbe das Kontrastmittel denn habe, zog er die Spritze raus und hielt sie hoch. ›Schau, farblos.‹ Der Tisch wurde wieder zurück gekippt, ich wurde befreit und durfte nach Hause.« Gegenüber der Sache mit dem Kontrastmittel hatte ich meine Zweifel, sagte aber nichts.

Godfrey war die ideale Person für die ehrenamtliche Herausgabe des Journals. Als indischer Presseattaché in Kairo, Beirut und Istanbul war er seit 1948 immer wieder durch den Nahen Osten gereist. Er verfügte über ein breites Netzwerk in der Region und ein tiefes Verständnis, wie sie wirtschaftlich und politisch funktionierte. Wenngleich er auf seinen Reisen Artikel in Auftrag geben wollte, schickte er bald mich nach Kairo auf die Suche nach Autoren.

Kairo, Ägypten, Sommer 1965

Von Godfrey mit einer Namensliste ausgerüstet, flog ich nach Ägypten und bezog eines der Chalets im Garten des Omar-Khayyam-Hotels. Als erstes traf ich den Herausgeber einer großen Tageszeitung, der mir gleich Muhammad Sid Ahmad zuteilte, einen blassen, eher schüchternen Mann mit Brille, der Termine für mich arrangieren sollte; Muhammad hatte gerade erst als Volontär bei der Zeitung angefangen. Besonders gern wollte Godfrey Kamal el-Din Rifaat als Autor gewinnen, einen ehemaligen General und damals in der Arabischen Sozialistischen Union für die Abteilung Information verantwortlich. Muhammad schlug vor, mich ägyptischen Intellektuellen und Journalisten vorzustellen und lud mich zum Abendessen ein.

Vorsichtig fuhr er durch den Kairoer Verkehr nach Gizeh, auf eine schmale unbefestigte Wüstenstraße und zu einem Restaurant mit einer großartigen Aussicht auf die Pyramiden. »Heute gehe ich zum ersten Mal seit meiner Ausgangssperre aus«, sagte er und erzählte, dass er ein paar Monate zuvor aus dem Gefängnis entlassen worden sei. Er war als Jugendlicher Kommunist gewesen, bekehrt durch Mitschüler und Lehrer an seinem Gymnasium, und hatte sich einer kommunistischen Geheimzelle angeschlossen, doch sein Vater hatte ihn ins Ausland geschickt, in der Erwartung, dass Muhammad die Vergnügungen von Paris den Verschwörungen von Kairo vorzöge.

Doch stattdessen, so erzählte mir Muhammad beim Abendessen, im Hintergrund hallte und flackerte die Lichtershow, sei er in sein Heimatland zurückgekehrt und habe eine Weile im Untergrund gelebt, in einer Zelle unter der Führung einer Französin namens Odette Hazan, bis die Mitglieder seines Zweigs der geteilten Partei verhaftet worden seien. »Nach der Zeit im Untergrund unter Odettes Befehl war das Gefängnis eine Erleichterung.« Seine erste Haftzeit war vorbei, kurz nachdem das Komitee der Freien Offiziere 1952 den König gestürzt und 1954 Nasser an die Macht gebracht hatte. 1959 sei er in der Wüste zusammen mit einer Reihe von Kommunisten und anderen Dissidenten erneut verhaftet worden und 1964 entlassen. »Das Gefängnis war eine Universität. Dort gab es Intellektuelle, die zu allen möglichen Themen lehrten. Das war gut für uns.« Während dieser Zeit hätten Muhammad und seine Kameraden die Sicht der Partei auf die Revolution überdacht und allmählich Ägyptens neue Ordnung akzeptiert – bis deren allmählicher Verfall, wie er mir 2002 schrieb, darin kulminiert habe, dass Nassers Nachfolger Anwar Sadat 1978 Jerusalem besuchte.

Muhammad gehörte zur ottomanischen Oberschicht, die einst Ägypten beherrschte. Sein Vater, ein Pascha unter dem König, Gouverneur von Port Said und Suez sowie Parlamentsabgeordneter, habe die politische Berufung seines Sohnes nicht verstanden. Später schrieb Muhammad, sein Vater habe aus Angst um das Leben seines Sohns dafür gesorgt, dass dessen erster Gefängnisaufenthalt verlängert worden sei. Muhammads Vater starb 1955, verbittert durch den Verlust ausgedehnter Ländereien durch die Reformen der Regierung Nasser.

Muhammads Mutter, Schwester des ehemaligen Premierministers Sidki Pasha, war eine Grande Dame. Ich traf sie zum Tee in der Wohnung der Familie in der Ibn-Zanki-Straße in Zamalek. Das Wohnzimmer war voller eleganter französischer Möbel, über die André Philip, ehemaliger Minister und stellvertretender Parteivorsitzender der französischen Sozialisten, zu Muhammad gesagt hatte, sie gehörten in ein Museum. Muhammads Bücherregale voller kommunistischer Klassiker in ihren üblichen schlichten Einbänden zeigten, dass das Gefängnis seiner jugendlichen Leidenschaft nichts anhaben konnte.

Muhammad sagte, dass wir für das Treffen mit Rifaat nach Alexandria fahren sollten, wo der ehemalige General mit seiner Familie Urlaub mache. Etwa auf der Hälfte der Strecke übernahm ich das Steuer und ließ Muhammad erst wieder fahren, als wir die Küstenstadt erreichten. Ein paar Tage zuvor war seine Mutter für den Sommer dorthin in die Ferienwohnung der Familie umgesiedelt. Sie hatte für ein fantastisches Mittagessen gesorgt, kalten frischen Lachs mit Mayonnaise. Ich wohnte im Hotel Palästina, einer schönen Villa in einem palmbeschatteten Garten am Strand.

Rifaat empfing uns in seinem Strandhaus und willigte ein, einen zweiteiligen Artikel über die »Entwicklung sozialistischer Beziehungen« zu schreiben, durch die Ägypten in der wirtschaftlichen Entwicklung die »Startphase« erreichen solle. Letztlich lieferte er einen Artikel ab – über die Idee der ägyptischen Bemühungen –, jedoch nicht den zweiten, der die Praxis behandeln sollte.

Muhammad und ich fuhren übers Land, besuchten ein viel größeres und aufwendigeres Zentrum als jenes, das ich bei meiner ersten Kairoreise 1961 gesehen hatte. Wie auch bei späteren Besuchen in Kairo nahm mich Muhammad mit ins »Night and Day«, ein bei Intellektuellen beliebtes 24-Stunden-Café im Semiramis-Hotel. Dort traf ich Lakhdar Brahimi, damals algerischer Botschafter in Ägypten. Er versprach, einen Artikel über den algerischen Unabhängigkeitskampf zu schreiben.

Brahimi hatte zuvor die algerische Nationale Befreiungsfront in Tunis und andernorts repräsentiert. Neben seinem Botschafterposten war er Untergeneralsekretär der Arabischen Liga für kulturelle Angelegenheiten. Später wurde er Botschafter in London und arbeitete für die UNO-Friedenssicherung. Schließlich wurde er algerischer Außenminister und beendete seine Karriere mit dem Versuch, zwischen den syrischen Kriegsparteien Friedensgespräche zu etablieren. Im Laufe der Jahre wurden wir enge Freunde.

Ich lernte das Feshawi kennen, das berühmteste Tee- und Kaffeehaus in Chan el-Chalili, dem Suk in der Kairoer Altstadt. Das Feshawi, 1773 eröffnet, war ein Lieblingsort von Journalisten, Schriftstellern und Akademikern, die in ihren Wasserpfeifen Haschisch rauchten und bei Tee über Politik diskutierten.

Godfreys Freund Khaled Muhieddine holte mich in seinem schwarzen Fiat im Omar-Khayyam-Hotel ab; auf der Seite des Autos prangten zwei Sterne, ein Zeichen, dass er dem revolutionären Komitee der Freien Offiziere angehörte. Um sicherzugehen, dass wir nicht abgehört wurden, unterhielten wir uns bei einem Spaziergang auf dem Gelände des Gezira Clubs. Als ich später vor dem Hotel aus dem Auto stieg, salutierte der Portier.

Beirut, Libanon, 1965/66

Wenngleich Godfreys Rolle als Chefredakteur eigentlich eine ehrenamtliche sein sollte, kam er regelmäßig ins Büro des Middle East Forum, zwei Zimmerchen, nachträglich auf das Dach der Alumni-Vereinigung der American University of Beirut (AUB) gebaut, gleich neben dem Universitätsspital. Die Räume, im Sommer glühend heiß und im Winter eiskalt, teilten wir uns mit einer fröhlichen, kräftigen jungen Sekretärin namens Alice, die in ihrem Job ein ziemlich hoffnungsloser Fall war. Godfrey nannte mich in variierend gebieterischem Tonfall weiterhin »Miss F.«, am Telefon wie auch persönlich. Ich fand das etwas einschüchternd, bis ich merkte, dass er einfach so war; Er wollte gar nicht brüsk oder herrisch sein.

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