Kitabı oku: «Hispanien», sayfa 2
Allerdings: Was aus der Iberischen Halbinsel ohne Rom geworden wäre oder hätte werden können, was Rom – einmal abgesehen von den unbestreitbaren zivilisatorischen Verdiensten während seiner jahrhundertelangen Beherrschung der Halbinsel – unterdrückte, verhinderte oder zerschlug, hat kaum jemand beschäftigt, ebenso wenig sind mentalitätsgeschichtliche Annäherungsversuche bekannt geworden. Dabei ist eine frühe phoinikisch-punische Semitisierung des Landes ebenso denkbar wie seine Teil-Arabisierung im 8. bis 15. Jh. historische Realität wurde. Auch eine weitergehende Iberisierung des Nordens und mittleren Westens lag im Bereich des Möglichen. Stattdessen unterdrückte Rom – weitaus heftiger als vordem Karthago – unbarmherzig alle Versuche zu partikularer Identitätsbehauptung bzw. -gewinnung, ohne freilich dauerhaft – von einem nicht überall gleichermaßen tiefgreifenden Überbau abgesehen – eine profunde politisch-kulturelle Einheitlichkeit zu schaffen. Unverkennbar war die Iberische Halbinsel in der gesamten Antike überwiegend Objekt der Geschichte; wenn nicht alles täuscht, begann sie erst mit der reconquista zumindest zeitweise ihr Subjekt, d. h. Herrin der eigenen Geschichte zu werden.
Eine kulturelle Vereinheitlichung gelang sprachlich und ideologisch in gewissem Umfange für vergleichsweise lange Zeit der römischen Kirche, politisch jedoch später weder den Habsburgern noch den Bourbonen oder auch den autoritären Regimes des 19. und 20. Jhs. Erst in der politischen Gegenwart Spaniens scheint man wenigstens teilweise – wenn auch vielfach widerstrebend – begriffen zu haben, dass die grundsätzlichen mentalen und kulturellen Differenzen der verschiedenen Landesteile nicht dauerhaft ignoriert werden können; Portugal, d. h. ein großer Teil des indoeuropäisch-lusitanischen Raumes, hatte als erster Landesteil die Separation vollzogen. Freilich gibt es auch weiterhin Kräfte, die diese uralte differenzierte historische Prägung nicht wahrhaben wollen, die der politischen Zeitgenossenschaft (wie bereits unter dem Monarchen Felipe II., den Bourbonen und dem Autokraten Franco) nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Erwägungen inopportun erscheint, gleichwohl aber eine unverrückbare Tatsache ist.
Schließlich: Bei allem, was uns rund 200 Jahre Forschungsgeschichte gelehrt haben, ist die Wissens-Landkarte zur Antiken Welt, auch die der Iberischen Halbinsel, voller weißer Flecken. Wir wissen niemals genug über die Welt des Altertums, auch wenn dieses oder jenes Problem mit der Zeit gelöst und manche Fragen beantwortet werden konnten. In gewissen Fällen behelfen wir uns mit Analogien, zuweilen mit Plausibilitäten, um historische Zusammenhänge transparent werden zu lassen. Die eine oder andere Gelehrtenschule übt sich hier in strengerer methodischer Askese, doch muss in Arbeiten wie dieser zumindest ein roter Faden gezogen werden können, um Zusammenhänge überhaupt erkennbar zu machen. Gleichwohl ist der knappe Hinweis „non liquet“ = „die Wahrheit erschließt sich nicht“ in vielen Zusammenhängen die einzig zulässige Aussage.
Es mag den Leser irritieren, dass von Hispanien gesprochen wird: Hispanien meint Spanien und Portugal und entzieht portugiesischen Empfindlichkeiten den Boden, die sich daran entzündeten, dass frühere Generationen, wie schon die Spätantike, allzu oft „Spanien“ für das Ganze nahmen. Dass die handelnden Personen mit vollem Namen und nicht mit den üblichen, teilweise törichten und inkonsequenten Verkürzungen bezeichnet werden, hat etwas mit der Würde der Personen zu tun. Niemand würde den ersten Kaiser als „August“ bezeichnen, aber alle Welt spricht von „Trajan“ oder „Mark Aurel“ Das ist teils törichtes Nachplappern einer vergangenen Mode, teils Sprachfaulheit. Beides erscheint mir unstatthaft. Ebenso wie wir selbst haben Persönlichkeiten der Vergangenheit ein Recht auf ihren Namen. Das gilt auch für Völker! So bequem es wäre, mit dem gängigen Sprachgebrauch von „Westgoten“ und „Ostgoten“ zu reden: In dieser Arbeit heißen sie nach ihrer Selbstbezeichnung Wisigoten und Ostrogoten.
Ich muss auch bekennen, dass es mir unmöglich ist, den Begriff „Heiden“ zu verwenden; wie die Angelsachsen spreche ich deswegen von pagani. So ist der pejorativ-diskriminierende Charakter der Bezeichnung, welche die siegreichen Christen auf alle Menschen anwandten, die andere Glaubensüberzeugungen vertraten, wesentlich deutlicher. Zudem wird klarer erkennbar, dass der zeitweise mörderische Gegensatz: pagani – christiani einer historischen Phase angehört, die vergangen ist oder, wie der hispanische Kaiser Traianus schrieb, „nec nostri saeculi est“, „nicht mehr zeitgemäß“.
Nicht erst, seit mir im Zusammenhang mit meiner Mitarbeit am Bronzezeit-Projekt der Bonner „Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland“ im Jahre 1998/99 bewusst wurde, in welchem Maße politische Kräfte in Brüssel, aber auch anderswo in Europa, sich mühen, dem ökonomisch-politischen Konstrukt „Europäische Union“ eine historische Legitimation zu verschaffen, und sie dafür keine Geschichts-Klitterung zu scheuen scheinen, hege ich Bedenken gegenüber Geschichtsinterpretationen aus politisch-ideologischer Zweckmäßigkeit. Sowenig sich im 3. Jh. v. Chr. die Hirten Lusitaniens für hellenische Fischer interessierten, so wenig hat ein heutiger Hutmacher aus Amalfi oder ein Korbflechter aus Bulgarien mit einem portugiesischen Sichelschmied gemein. Man denkt anders, fühlt anders und handelt anders. Es gab, wie der neue bronzezeitliche Fund im niedersächsischen Gessel (2011) mit Gold aus Zentralasien im Vergleich mit Funden gleicher Zeitstellung auf der Iberischen Halbinsel erneut belegt, in der europäischen Vorgeschichte weltweit kulturelle Interaktion, Migration, Austausch, aber keine europäische Identität. Es gibt sie auch heute – und vermutlich in Zukunft – nicht. Sowenig Rom die immer wieder aufbrechende Zentrifugalität im Westen seines Imperiums – um nur davon zu reden – dauerhaft unterbinden konnte, so wenig gelang die Verschmelzung dem Karolinger-Reich oder Napoleon Bonaparte. Sie wird auch der aktuellen Europhilie nicht gelingen. Die Iberische Halbinsel von der Antike bis in die unmittelbare Gegenwart liefert ein perfektes Modell dafür, auf welchen Grundlagen und bis zu welcher Grenze Gemeinsamkeit gelingen kann und was an vieltausendjährigen Individualismen, Lebensformen, Fühl- und Denkweisen weder zu addieren noch zu amalgamieren und darum nicht verhandelbar ist.
Nach der letzten Durchsicht des Manuskriptes ist mir erschreckend deutlich, was alles noch zu sagen gewesen wäre und wie vieles fehlt. Und was alles ich nicht weiß. Auch ist die Disproportionalität zwischen den mit Quellen reicher gesegneten historischen Phasen und den eher quellenarmen Zeiten erkennbar. Ich hoffe aber deutlich gemacht zu haben, dass die quellenarmen Zeiten auf der Iberischen Halbinsel durchaus nicht als geschichtslose Phasen anzusehen sind.
Allerdings bedeutet der vorgegebene Rahmen nahezu jeden Buches immer auch Beschränkung. Darum ist die vorliegende Studie notwendigerweise (und durchaus beabsichtigt) ein sehr subjektives Buch, welches – befreit von vielfältigen Rücksichten – den durch Jahrzehnte der Beobachtung und Reflexion gewonnenen Blick auf die Iberische Halbinsel im Altertum wiedergibt. Darum auch die Wahl der Essay-Form für die Darstellung: Es ist mein Blick auf die Halbinsel, meine Perzeption ihrer Geschichte, auch meine Demut und mein gelegentliches Unverständnis ihr gegenüber. Und Ausdruck der Dankbarkeit für die Bereicherung meines Lebens durch dieses wunderbare und gleichzeitig furchteinflößende Land. „España me duele“ = „Spanien tut mir weh“, schrieb seinerzeit Miguel de Unamuno aus gegebenem Anlass. Glück und Schmerz, die von diesem Lande ausgehen, haben mich durch mein ganzes Leben begleitet.
Die Vorgeschichte
„Iberien gleicht einer Ochsenhaut, die sich der Länge nach von West nach Ost ausdehnt.“
(Strabon 3, 1,3)
Um ein möglichst vollständiges Bild von den Voraussetzungen der alten – und auch der neueren – Geschichte der Iberischen Halbinsel zu gewinnen, müssten wir spätestens die letzte Phase der Jungsteinzeit befragen, doch würde das den dieser Arbeit gesetzten Rahmen sprengen.
Die auf das Neolithikum folgende erste Metallzeit, die so genannte Kupferzeit (ca. 5000 – 3000 v. Chr.), zeigt an zahlreichen durch die prähistorische Archäologie in den letzten Jahrzehnten aufgedeckten Fundplätzen bereits den bedeutenden Anteil fremder Invasoren an der technischen und kulturellen Entwicklung des Landes. Die mit dieser Phase verbundene Megalithkultur, vielleicht die letzte deutlich erkennbare gemeinhispanische Zeitspanne, verbindet große Teile der Iberischen Halbinsel mit Mittel- und Westeuropa. Beginnende gesellschaftliche Differenzierung wird greifbar. Deutlich ist jetzt der bedeutende Mineralreichtum des Landes: Kupfer, Silber und Gold sowie überraschend, das zeigen jüngste Forschungen, Elfenbein [Abb. 3] welches, wie Analysen belegen, sowohl von afrikanischen wie von asiatischen Elefanten stammt und dessen Verbreitung eine mediterrane Ost-West/West-Ost-Verbindung im 3. Jt. v. Chr. nachweist (Schuhmacher 2012, 436 f.), wobei bei den Bewegungsabläufen klimatische Veränderungen eine stärkere Rolle spielen könnten, als bisher gesehen wurde.
Die kupferzeitlichen und bronzezeitlichen Kulturen, ebenfalls benannt nach ihren jeweils markantesten Fundplätzen, lassen erstmalig Ansätze zu jenem Partikularismus erkennen, der später die Geschichte der Halbinsel bestimmen wird. Gleichzeitig wird jetzt eine gewisse Interdependenz, vielleicht sogar Interaktion erkennbar, die diese Regionen verbindet.
Deutlicher werden ethnische und kulturelle Schwerpunkte in der späteren Bronzezeit (seit ca. 1200 – 800 v. Chr.), mit der das Land in die durch frühe Schriftquellen bezeugte Geschichte eintritt, interessanterweise zeitlich parallel mit der Einführung des Eisens, welches, obgleich zunächst über einen unbekannten Zeitraum noch als Edelmetall verwandt, spätestens bis zum 6. Jh. die Halbinsel erobert und, später auf der Halbinsel selbst gewonnen, eine spezielle Berühmtheit erlangt hat (Plin. n. h. 34, 144, 149), wie der Schatzfund von Villena (Alicante) beweist.
Abb. 3 Elfenbeinerner Zierdolch aus Valencina de la Concepción. 3. Jt.v. Chr.
Wir finden erste marginale Hinweise auf mykenische, dann verstärkt auf phoinikische Kontakte mit der südlichen Halbinsel, um einiges später auch auf griechische merchant venturers, die den Routen der Phoiniker zu folgen scheinen. Ihrer exotischen Attraktivität wegen und auch wegen des Beginns der Schriftquellen verdunkeln sie die Vorgänge im Norden, wo Kontakte über die Pyrenäen mit dem alpinen Raum, mit den britischen Inseln, ja bis in den Raum der Aunjetitz-Kultur existierten. Wilhelm Schüles große Untersuchung zu den Meseta-Kulturen von 1969 ist diesen Phänomenen nachgegangen. Zu seiner Zeit vielfach belächelt, hat der Forschungsfortschritt inzwischen viele seiner damals gewagten Thesen bestätigt.
Der Mythos oder Geschichte vor der Geschichte
„Es heißt, daß in dem Waldgebirge der Tartessier die Titanen gegen die Götter Krieg geführt haben …“
(Iustin. 44,4).
Über dem Beginn der schärfer konturierten „geschichtlichen“ Vorgänge auf der Halbinsel, alle „Vorgeschichte“ einschließend, liegt dunkel und verführerisch der Mythos, jenes meist undurchdringliche Amalgam aus geringem und fernem Wissen, großem Verständnis- und Erklärungsbedarf, aller Art von Projektion, vagem Hörensagen, wichtigtuerischer Spekulation, Unterhaltungsbedürfnis, Angst und tausend weiteren Ingredienzien, mit denen unaufgeklärte, illiterate, naiv-gläubige und zu kritischer Reflexion noch wenig befähigte Gesellschaften sich und anderen halbwegs plausible Anworten auf alle denkbaren Fragen zu geben versuchten, eine Mélange, die gleichzeitig einen bedeutenden Unterhaltungswert besaß.
Welche der frühen Kontakte der Halbinsel mit dem Ostmittelmeerraum zur Mythenbildung geführt haben, lässt sich nicht sagen. Der direkte Beitrag der Phoiniker wird erst mit den frühesten Berührungen phoinikischer Handelsschiffe denkbar, die aus Gründen der inneren Entwicklung der phoinikischen Städte vor Beginn des letzten vorchristlichen Jtds. schwerlich möglich waren. Die legendenhafte Ausschmückung der „Tartessos“-Erfahrungen ist frühen griechischen Kontakten mit dem hispanischen Südwesten zu verdanken, die sich in der griechischen Literatur des 6. Jh. v. Chr. in mannigfaltiger Weise niederschlugen. Im homerischen Werk ist bezeichnenderweise von „Tartessos“ (noch) nicht die Rede.
Versuche, dieses schillernde Gemenge präziser zu historisieren, müssen notwendig scheitern; allenfalls lassen sich hinter den phantastischen Aufblähungen aus immer neuen Erweiterungen, Verformungen, Hinzufügungen antiker Fabulierlust gewisse Tendenzen, Wahrscheinlichkeiten, Hypothesen aufzeigen.
Zweifellos haben ägyptische, kretische, cyprische, phoinikische und griechische (und von anderen, weniger bekannten Trägern unternommene) Handelsfahrten, die sich in der späteren Bronzezeit beträchtlich intensiviert zu haben scheinen, ferner die Begegnung mit fremden Räumen und Völkern und die darauf folgende Kolonisationsbewegung das geografische und ethnologische Wissen der unternehmenden Kulturen beträchtlich erweitert. Sie haben auch die Neigung, vielleicht sogar die Notwendigkeit geweckt, neues „Wissen“ mit altem zu verbinden, neue Erkenntnisse kompatibel zu machen und so eine neue, verständliche und vermittelbare Gesamtkonzeption ihrer jeweiligen Welt zu gewinnen. So erklären sich die meisten Seefahrer-„Berichte“ von Homer bis zu den rationaleren Mitteilungen punischer und griechischer Geografen, deren Informationsstand allerdings von der Glaubwürdigkeit der Gewährsleute im Hinterland der Küsten abhängt. Da es auch um etwas ging, was heute salopp als infotainment bezeichnet wird, tun wir gut daran, Aufblähungen alter und jüngerer Mythenkerne aus den Zeiten „phoinikisch/punischer“ und „griechischer“ Landerkundung im Zuge der frühen überseeischen Kolonisation, also der Erzählungen vom „goldenen Ölbaum“ des Pygmalion in HaGadir (Cádiz), von Geryon, Gargoris, von den weltumspannenden Großtaten des Herakles, dem Hispanienzug des trojanischen Helden Teukros oder den Westreisen des Odysseus zunächst einmal als Unterhaltungstoffe zu behandeln, denen nur punktuell wichtige zeitgenössische geografisch-ethnografische Informationen zu entnehmen sind. Auch die bald bedrohliche Rivalität der Protagonisten der mittelmeerischen Handels-Schifffahrt, Phoiniker und Griechen, führte zu teilweise kuriosen Ergebnissen: So wird beispielsweise der gaditanische Melqart sogleich zum gesamtgriechischen Herakles. Der überwiegende Teil der literarisch, aber auch in der plastischen Kunst bis hin zum Grabturm von Pozomoro überlieferten ‚iberischen‘ Mythen harrt noch der Deutung – Zweifel sind angebracht, ob hier je befriedigende Lösungen erreicht werden können.
Es entspricht der Logik der historischen Abläufe auf der Iberischen Halbinsel, dass die bedeutenderen Fremdkontakte Mythentraditionen und Erklärungsbedürfnisse für Kulturentstehung geschaffen und hinterlassen haben: Neben den genannten phoinikischen, griechischen und – vielleicht – iberischen findet sich eine indoeuropäische möglicherweise im irischen Leabhar Ghabbála („Buch der Invasionen“), von dem sich sogar im großen Geschichtswerk Th. B. Macaulays, The glorious Revolution, eine Nachricht erhalten hat. Dabei handelt es sich um einen den Sagen von den weltumspannenden Reisen und Taten des Herakles ähnlichen märchenhaften Bericht von einem von hispanischen Kelten (Brath, Breoghán, Bile) abstammenden skythischen Krieger namens Golamh, genannt „Mil von Hispanien“, der 3.500 Jahre nach Erschaffung der Welt über Ägypten nach Hispanien kommt und von dort mit seiner Familie und seinem Gefolge nach Irland gelangt, wo er die Herrschaft erringt. Belegt im frühen Mittelalter, werden hier vage historische Reminiszenzen, vermischt mit Erfundenem, gewissermaßen die durchaus wahrscheinlichen hispanisch– irischen Beziehungen der frühbronzezeitlichen Vorzeit, mythisch überhöht. Phänomene, wie das Kloster Britonia im 7. Jh. n. Chr., eine der frühesten hispanischen Klostergründungen überhaupt, bestätigen den fortdauernden Kontakt zwischen den Britischen Inseln und Gallaekien.
Mythischen Charakter besitzen auch etymologische Durchstechereien wie Herodotos Erklärung für den Namen der Pyrenäen (2,33,3). Dass es Mythen gibt, die einheimisch-hispanischen Ursprungs sind, wozu nach Auffassung spanischer Forscher die Gargoris-Geschichte gehört, ist, wiewohl denkbar, einstweilen nicht zu erweisen. Ausgeschlossen ist nicht, dass sich einheimische Mythen hinter nicht-einheimischen interpretationes verbergen. Wahrscheinlicher ist, dass hinter den von dem spätantiken Epitomator Iustinus (aus Pompeius Trogus) überlieferten Erzählungen von Gargoris, der die Bienenzucht erfunden habe, und Habis, dem Begründer des Ackerbaus, hellenistische Kulturentstehungs-Fantasien stehen. In heute kaum noch nachvollziehbarer, jeder Quellenkritik spottender Naivität hat Schulten (19502, 130 ff. und passim) aus alledem und mehr sein Tartessos-Konstrukt gefertigt, mit einer Herrscher-Genealogie, die mit „Sol“ beginnt und mit „Arganthonios“ endet, die etruskischen Ursprungs sei und ganz uniberisch – das alles eher ein Märchen aus dem Orient als seriöse Geschichtsschreibung. Und eben darum so schwer los zu werden!
Griechen entdecken den Westen
„Die Phokaier waren die ersten Hellenen, die weite Seefahrten unternommen haben. Sie entdeckten das Adriatische Meer, Tyrsenien, Iberien und Tartessos.“
(Herod. 1, 163)
Vor allem die Entdeckung der Erde und ihrer zunehmend begriffenen Weitläufigkeit, die Wunder neuer Begegnungen mit Fremdem, Unerhörtem sowie das Bedürfnis insgesamt wenig beweglicher Gesellschaften nach spannender Unterhaltung und exotischen Reizen dürfte der Hintergrund von fantastischen Überhöhungen und Ausschmückungen früher Abenteuer zu Lande und vor allem zu Wasser gewesen sein. Hinter vielen dieser Geschichten stehen handfeste historische Gegebenheiten: So hat es in der Kupferzeit zweifellos Prospektionsfahrten in den mittelmeerischen Westen bis an die portugiesische Atlantikküste gegeben. W-O- und O-W-Handel/Austausch im 3. Jt. v. Chr. über Land und über See und die Spuren atlantischer Begegnungen zwischen dem hispanischen Nordwesten und Irland sowie der Wessex-Kultur werden im Zuge der Metall- und Elfenbein-Analysen immer konkreter. Der Prähistoriker Thomas X. Schuhmacher hat im Jahre 2004 die vorliegenden frühbronzezeitlichen Fund-Materialien und die sich daraus ergebenden Einsichten in entsprechende Verbindungen schlüssig zusammengefasst und kartiert.
Notwendigerweise kommen wir am Ende dieser langdauernden Entwicklung zu „Tartessos“! Nicht nur, weil hier die literarische Überlieferung zur Iberischen Halbinsel überhaupt erst beginnt, sondern vor allem, weil es ab jetzt ein gewisses Kontinuum der Schriftquellen gibt.
Nach Herodotos durchaus glaubhaftem Bericht kamen griechische Seefahrer aus Phokaia im 7. Jh. v. Chr. erstmals mit einer südwesthispanischen Region nebst Handelsplatz (emporion) in Berührung, welchen sie den Namen Tartesos bzw. Tartessos gaben, der sich aus einer einheimischen Wurzel TRT bzw. TRS und einer griechischen Endung zusammensetzt. Dass dieses Emporion, welches zwischen der Mündung des río Guadalete und dem Raum Huelva zu vermuten ist, damals ein längst von Phoinikern besuchter Warenumschlagplatz, ja, von diesen wahrscheinlich erst geschaffen war, wusste Herodotos nicht oder verschweigt es aus nachvollziehbaren Gründen.
Deutlich erhellt aus Herodotos Erzählung der bereits aus I Kön 10, 21 f. bekannte Silberreichtum dieser Zone, der alles Weitere zur Folge hat: Das großherzige Geschenk des „tartessischen Königs Arganthonios“, dessen angegebenes Alter von 120 Jahren bereits die Tendenz zur Legende verrät, an die Phokaier, nämlich die Finanzierung einer Verteidigungsmauer gegen die expandierenden Meder, mag einen historischen Kern besitzen – die Erzählung selbst ist in erster Linie ‚Seemannsgarn’.
Erstaunlich ist freilich, in welchem Maß die „Entdeckung“ des fernen Silberlandes in der zeitgenössischen Literatur Griechenlands ihren Widerhall findet. Dieser gleicht durchaus dem Echo, das mehr als 2.000 Jahre später die Entdeckung Amerikas und seiner Schätze auf der Iberischen Halbinsel auslöste. Die griechische Tartessos-Rezeption, einschließlich der Einbeziehung der Iberischen Halbinsel in den Sagenkreis des Herakles-Mythos, entstammt dem 7./6. Jh. v. Chr., der ersten großen Phase griechischen Ausschwärmens nach Westen, wobei nicht auszuschließen ist, dass bestimmte Informationen schon früher aus phoinikischen Quellen nach Ionien gelangt waren. Die archäologische Forschung hat besonders im Raum Huelva ein starkes Anwachsen griechischer Importe aus dem 6. Jh. v. Chr. verzeichnen können (Domínguez Monedero – Sánchez Fernández 2001), was allerdings nicht automatisch auf die Präsenz griechischer Händler weist, da die Phoiniker selbst alles im Sortiment hatten, was im Ostmittelmeerraum produziert wurde, aber gelegentliche Begegnungen mit solchen nahelegt. Dass die Griechen, die aus verschiedenen Räumen und unterschiedlichen Dialektzonen stammten, in trt/Tarschisch auf einen Markt mit „orientalisierenden“ Tendenzen trafen, ist eindeutig, wird aber bezeichnenderweise nirgendwo vermerkt. Dabei ist keineswegs zu unterstellen, dass die in späterer Zeit historisch bedeutenden Rivalitäten schon jetzt eine Rolle gespielt hätten. Sprechend ist allerdings die Tatsache, dass es im „tartessischen“ Raum keine nachhaltige griechische Kolonisation gab: Bis in römische Zeit bleibt der Küstensaum zwischen Huelva und dem terminus Tartesiorum, wie in der Ora maritima des Avienus die Nordost-Grenze von Tarschisch bezeichnet wird, von phoinikisch-punisch-karthagischen Siedlungen dominiert.
Zum veritablen Mythos wurde „Tartessos“ durch eine Monografie des Erlanger Althistorikers Adolf Schulten, zuerst 1921 erschienen und vielfach übersetzt sowie nachgedruckt. Dieser Gelehrte, der wie mancher Deutsche vor und nach ihm zeitlebens der Iberischen Halbinsel verfallen war, hatte mit kaiserlicher Unterstützung im Raum Numantia gegraben, unter anderem über den lusitanischen Nationalhelden Viriatus und den vermeintlichen römischen Hispanienfreund Sertorius gearbeitet, ferner die erste Landeskunde des antiken Hispanien verfasst sowie, zusammen mit Robert Grosse, die Fontes Hispaniae Antiquae (FHA) als erste Sammlung hispanienbezogener antiker Schriftquellen geschaffen. Dies war nach Emil Hübners Sammlung der iberischen (MLI) und der lateinischen Inschriften Hispaniens (CIL II) die dritte deutsche Großtat zum Nutzen der althistorischen Forschung auf der Halbinsel, die es de facto bis in die 1930er-Jahre noch gar nicht gab.
Schulten, in Deutschland wenig beachtet und zeitlebens dem Wilhelminismus verhaftet, ehrgeizig, eitel und von der Zustimmung so vieler Spanier gewaltig ‚erhoben’, gab dem durch den Schock der militärischen Niederlage gegen die USA von 1898 und den daraus resultierenden Verlust des Kolonialreiches tief verunsicherten Land etwas von seinem ehemals stolzen Selbstbewusstsein zurück. Als er schließlich mit „Tartessos“ ein aus Elementen des platonischen Atlantismythos, der herodoteischen „emporion Tartessos“ cum „Arganthonios“-Erzählung, der Mythografie des Iustinus, dem unendlichen Mineralreichtum des Landes und den in der Tat erstaunlich qualitätvoll-exotischen frühen Fundmaterialien nicht ohne pathetische Fantasie und suggestives Geschick sein Tartessos-Märchen kompilierte, legte er den Grundstein zu jener Projektion von einem protohistorischen „tartessischen Großreich“ auf vergleichsweise hohem zivilisatorischen Niveau, die jahrzehntelang die kulturelle Elite Spaniens, darunter ihren markantesten Vertreter Ortega y Gasset (1978, Bd. II, 177 ff.), faszinierte und die Vorstellung von einer glanzvollen Phase der hispanischen Frühgeschichte prägte. Dieser neu geschaffene Mythos verweigert sich auch heute noch vielfach der ungleich prosaischeren, wenngleich hochinteressanten Realität, soweit die Forschung sich ihr hat nähern können, wofür Schulten seinerzeit von dem großen Althistoriker Eduard Meyer heftig gescholten wurde. In Deutschland ist Schulten heute Forschungsgeschichte, während zumindest Teile der spanischen Altertumsforschung darum kämpfen, sich von seinem langen Schatten zu befreien. Andere Gelehrtenschulen, vor allem im Süden Spaniens, zeigen sich verbissen darum bemüht, die Bedeutung von „Tartessos“ durch Aktualisierung des Schultenschen Fantasie-Gemäldes nicht ohne chauvinistische Untertöne zu bewahren, wofür das Tartessos-Lemma des Archäologen Antonio Blanco Freijeiro im Diccionario de Historia de España von 1952, aber auch der jüngste Tartessos-Kongress („Tarteso. El emporio del metal“, Huelva 2011, 2013) anschauliche Beispiele bieten. In Fragen seiner realen oder vermeintlichen historischen Identität ist auch das postfranquistische Spanien ein hochsensibles Land geblieben. Vielleicht wird deswegen geradezu zwanghaft alle paar Jahre dasselbe leere Stroh gedroschen. In diesem Kontext droht Adolf Schulten inzwischen selbst zu einem spanischen Mythos zu werden.
Was ist „Tartessos“ nach heutigem Forschungsstand? Auf die regionale südwesthispanische End-Bronzezeit mit einer mehrheitlich nicht-indoeuropäischen, überwiegend iberisch-sprechenden Bevölkerung, wie sie H. Schubart im Jahre 1975 umfassend dargestellt hat, trafen vermutlich im 10./9. Jh. v. Chr. phoinikische, wahrscheinlich tyrische Seefahrer auf der Suche nach Rohstoffen und Handelsplätzen. Die Quellen legen nahe, dass sie alten Routen folgten und ihre Entdeckungsfahrten sehr gründlich vorbereiteten. Sie fanden in dem Raum zwischen dem río Guadalete, der Guadalquivir-Mündung und Huelva, was sie suchten: Zinnlieferanten, Kupferabbau und Silber, daneben auch Flussgold und Halbedelsteine, von denen einer, der Tarschisch-Stein, vermutlich ein Chrysolith, nach Ex 28,20; 39,13 sogar ins Pektorale des jüdischen Hohepriesters gelangt zu sein scheint, auch wenn das Alter dieser Nachricht undeutlich ist. Dass sich hier im Laufe der Zeit ein Emporium mit allem, was dazugehörte, entwickelte, ist durchaus glaubhaft. Auch die ökonomische und zivilisatorische Ausstrahlung, die solche Plätze allzeit auf ihr jeweiliges Hinterland zu haben pflegen, ist gewiss; gänzlich unsicher ist seine geografische Verortung. Die Versuche, das Emporium „Tartessos“ zu finden, notfalls auch unter dem heutigen Meeresspiegel oder dem Sand des wunderbaren naturgeschützten Nationalparks Coto de Doñana bzw. von Matalascañas, sind Legion und nehmen mit dem heute verfügbaren technischen Fortschritt eher noch zu, wobei lokalpatriotischer und regionaler Ehrgeiz ein oft eher hinderlicher Ansporn ist. Aber es ist leider meist immer noch das Schultensche Fantasiegebilde, welches gesucht wird: Sollte eines Tages tatsächlich Herodotos emporion (das wahrscheinlich in Späterem aufgegangen ist) gefunden werden, wird die Enttäuschung der Schatzsucher ungeheuer sein.
Abb. 4 Der Schatzfund von El Carambolo (bei Sevilla) aus dem 6. Jh. v. Chr. machte 1958 Sensation.
Ob chief- oder Priester-Ornat: phoinikische Toreutik mit hispanischem Gold.
Als Ergebnis dieser Begegnung, die sich von „stummem“ Handel bis in das 8. Jh. v. Chr. zu einer veritablen phoinikischen Kolonisationsbewegung steigerte, die sogar Spuren im Jesajabuch (23,10) des Alten Testaments hinterlassen hat, entwickelte sich im Südwesten und Süden der Halbinsel die sogenannte „orientalisierende Kulturphase“, gekennzeichnet durch die Erfindung einer einheimischen Schrift, Importe aus dem ostmediterranen Raum und ihre einheimische Rezeption und Weiterentwicklung [Abb. 4], aber auch durch technische Fortschritte, wie die Töpferscheibe, die Verbesserung der Metallschmelze und, außerordentlich bedeutend, landwirtschaftiche Verbesserungen und Neuerungen, wie, neben vielem anderen, die Einführung des Ölbaums, des Esels und des Haushuhns. Ostmediterrane Kolonisten führten auch eine neue Form von Hausbau ein. Religiöse Elemente ostmediterraner Provenienz tauchen ebenfalls auf: Die Ägyptologin Ingrid Gamer-Wallert hat 1978 mit der Katalogisierung der „Ägyptischen und ägyptisierenden Funde von der Iberischen Halbinsel“ einen umfangreichen Band gefüllt, der mit den seither gefundenen Materialien noch beträchtlich anwachsen würde. Ihre Fundkarten bezeichnen sowohl die engere „orientalisierte“ Zone der Halbinsel im Südwesten als auch die punischen Handelsverbindungen an der Ostküste, die aber nördlich des Cabo de la Nao deutlich abnehmen. Es kommt nach ökonomischer und kultureller Einflussnahme mit der Zeit auch zu Festansiedlungen ostmittelmeerischer Kolonisten sowie zur Anlage zahlreicher phoinikisch/punischer Faktoreien (nicht selten in der Nähe einheimischer Wohnplätze) entlang der gesamten Südküste der Halbinsel, deren Entdeckung durch deutsche Forscher in den 1960er-Jahren eine Sensation waren. Auch in allerjüngster Zeit sind im Küstenraum zwischen Gibraltar und La Fonteta noch Aufsehen erregende Entdeckungen gelungen, so die der bislang ältesten rechteckigen Hauskonstruktion in dem in der phoinikischen Kontaktzone liegenden einheimischen Fundplatz Los Castillejos de Alcorrín [Abb. 5], weiterhin neuer Methoden hochspezialisierter Metallverhüttung und eines intensiven Metallhandels mit dem hispanischen Südosten (Marzoli 2012). Auch eine rege Binnenpenetration, vor allem im Guadalquivirtal, ist inzwischen archäologisch erwiesen.