Kitabı oku: «Freie und faire Wahlen?», sayfa 5
Wahlrecht für im Ausland ansässige Staatsangehörige?
Wohl für jedes Land der Welt gilt, dass es Staatsangehörige gibt, die dauerhaft im Ausland leben. Soll auch diesen das Wahlrecht gewährt werden? Wie viel Verbundenheit und Vertrautheit mit dem politischen Gemeinwesen ist einzufordern, damit im Ausland ansässige Staatsangehörige an der politischen Willensbildung in ihrem „Heimatstaat“ teilhaben? Immerhin treffen sie mit der Wahl eine Entscheidung, von der sie im Ausland nicht unmittelbar betroffen sind. Solche Überlegungen waren maßgeblich dafür, dass in Deutschland und vielen anderen westlichen Demokratien lange Zeit das Wahlrecht oder dessen Ausübung an die Auflage geknüpft war, dass die Staatsangehörigen im Wahlgebiet wohnhaft waren. Unter anderem im Streitfall Hilbe v. Liechtenstein bestätigte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass das residence requirement mit dem Recht auf freie Wahlen, wie es in Art. 3 des ersten Protokolls der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verankert ist, vereinbar sei. Hieran orientieren sich auch der Code of Good Practice in Electoral Matters des Europarats und die Wahlstandards von OSZE/ODIHR. Problematisch ist allerdings, wenn solche Wohnauflagen unverhältnismäßig lang ausfallen. So kritisierte beispielsweise ODIHR das Wahlgesetz Montenegros, demzufolge Wahlberechtigte die letzten 24 Monaten vor den Wahlen im Land wohnen müssen.
Trotz des Fehlens eines entsprechenden internationalen Wahlstandards räumen ohnehin inzwischen die meisten Staaten Europas, ebenso wie viele Länder außerhalb Europas, ihren im Ausland lebenden Staatsangehörigen das Wahlrecht ein, wenn auch gelegentlich mit Einschränkungen oder zeitlich limitiert, wie etwa in Kanada für einen Zeitraum von fünf Jahren und in Großbritannien von 15 Jahren nach Wegzug. Der Entzug des dortigen Wahlrechts nach 15 Jahren wurde vom EGMR nicht als eine Verletzung des Rechts auf freie Wahlen angesehen.78 Zum gleichen Ergebnis kam der EGMR im Falle der jahrzehntelangen Nichtumsetzung einer Verfassungsvorgabe in Griechenland, die ein Auslandswahlrecht vorsieht.79 Erst 2019 wurde im Ausland ansässigen griechischen Staatsangehörigen (sofern sie zwei der vergangenen 35 Jahre in Griechenland gelebt hatten) das Auslandswahlrecht eingeräumt. Nur wenige Jahre zuvor hatte Ungarn auf Initiative Orbáns das Auslandswahlrecht eingeführt, von dem dann die Regierungspartei Fidesz bei den Wahlen 2014 massiv profitierte und rund 95 % der Stimmen der etwa 380.000 wählenden Ungarn im Ausland erhielt. 2015 folgte Rumänien mit einer entsprechenden Gesetzesreform. Bei den dortigen Parlamentswahlen von 2016 waren rund 609.000 rumänische Staatsangehörige im Ausland im Wahlregister eingeschrieben. Nur noch wenige Mitgliedstaaten des Europarats enthalten ihren im Ausland lebenden Staatsangehörigen das Wahlrecht vor bzw. beschränken es auf bestimmte Personengruppen (z. B. Armenien, Irland, Malta) oder gewähren es nur jenen, die sich zeitweilig im Ausland aufhalten (z. B. Dänemark, Liechtenstein, Nordmazedonien, Serbien).
In Lateinamerika wuchs die Zahl der Staaten, die im Ausland ansässigen Staatsangehörigen das Wahlrecht gewähren, zwischen 1990 und 2019 von drei auf 16 Länder an.80 Vorreiter war dort Kolumbien 1961 (erstmals angewandt 1962); Guatemala führte als vorläufig letztes Land der Region das Auslandswahlrecht bei nationalen Wahlen im Jahr 2016 ein; 2019 kam es dort erstmals zur Anwendung. Zu den Ausnahmen zählen Nicaragua sowie Uruguay, wo ein entsprechendes Referendum im Jahr 2009 scheiterte. In der Mehrheit der lateinamerikanischen Staaten besteht das Auslandswahlrecht für Präsidentschaftswahlen (und Referenden), während es für Parlamentswahlen schon seltener ist. Auch in Afrika gewährt mehr als die Hälfte der dortigen Staaten ihren Staatsangehörigen, die im Ausland leben oder sich dort aufhalten, zumindest formal das Wahlrecht für die Präsidentschafts- und/oder Parlamentswahlen.81 Doch wäre jeweils zu prüfen, inwieweit wahlorganisatorisch gewährleistet wird, dass diese ihr Wahlrecht tatsächlich ausüben können. Trotz entsprechender gesetzlicher Regelungen (und eines eigenen Wahlkreises für Wählerinnen und Wähler im Ausland) fand beispielsweise bei den 2017er Wahlen in Angola keine out of country-Wahl statt. Insgesamt weist die Datenbank von International IDEA 125 Staaten und abhängige Gebiete aus, in denen das Auslandswahlrecht für Parlamentswahlen besteht. Für Präsidentschaftswahlen sind es – bei einer geringeren Zahl an Ländern, die direkte Präsidentschaftswahlen durchführen – immerhin noch 88 Länder.82 Allerdings werden in der Liste auch einzelne Länder angeführt, die das Wahlrecht grundsätzlich an eine permanent residency binden, aber Ausnahmen für bestimmte Personengruppen vorsehen.
Auch in der Bundesrepublik Deutschland wurde der Grundsatz der Sesshaftigkeit schon früh durchbrochen, indem bereits die ersten Wahlgesetze jenen Angehörigen des öffentlichen Diensts das Wahlrecht verliehen, die auf Anordnung ihres „Dienstherrn“ im Ausland lebten. Nutznießer davon waren etwa Beschäftigte des Auswärtigen Diensts oder Personal der Bundeswehr und der Bundespolizei im Ausland (samt den Angehörigen ihres Hausstands). Im Jahr 2008 wich die Sonderregelung einer allgemeinen Norm für „Auslandsdeutsche“, die – nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2012 – im Jahr 2013 nochmals grundlegend überarbeitet wurde. Wahlberechtigt sind demnach heute alle im Ausland lebenden Deutschen, die (bei Erfüllung der übrigen Wahlrechtsvoraussetzungen) nach Vollendung des 14. Lebensjahrs mindestens drei Monate ununterbrochen in der Bundesrepublik Deutschland eine Wohnung innegehabt oder sich dort „sonst gewöhnlich aufgehalten“ haben, wobei dieser Aufenthalt nicht länger als 25 Jahre zurückliegen darf (§ 12 (2) 1 BWahlG). Ein zusätzlicher Auffangtatbestand ermöglicht es auch solchen Personen zu wählen, die diese Bedingungen nicht erfüllen, aber „aus anderen Gründen persönlich oder unmittelbar Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland erworben haben und von ihnen betroffen sind“ (§ 12 (2) 2 BWahlG). Davon können neben Staatsbediensteten gegebenenfalls deutsche Grenzpendler oder deutsche Beschäftigte nutznießen, die beispielsweise dauerhaft in deutschen Bildungsinstitutionen im Ausland arbeiten und seit Jahrzehnten nicht mehr in Deutschland wohnhaft sind.83
Voraussetzung für die Gewährung des Auslandswahlrechts bleibt indes, dass die Integrität der Stimmabgabe und -auszählung garantiert werden kann. Unzulängliche Kontrollmechanismen dazu stoßen international immer wieder auf Kritik. Auch variieren je nach Land die konkreten Bestimmungen des Auslandswahlrechts, etwa bezüglich der Registrierung und der Stimmabgabe, die vielfach persönlich erfolgen muss, zumeist in den diplomatischen Vertretungen. In Lateinamerika war Mexiko das erste Land, das mittels einer Wahlgesetzreform im Jahr 2005 die Briefwahl für im Ausland ansässige Staatsangehörige einführte, wie sie auch bei uns angewandt wird.
Auch nutzen viele im Ausland ansässige Staatsangehörige nicht die Möglichkeit, sich zu registrieren und zu wählen. In der Ukraine beispielsweise nahmen nur rund 2 % der Staatsangehörigen im Ausland an den Parlamentswahlen von 2019 teil.
Unterschiedlich geregelt ist schließlich auch die Zuordnung der Stimmen bei Parlamentswahlen zu etwaigen Wahlkreisen. In jenen lateinamerikanischen Staaten, welche bei Parlamentswahlen das Wählen im Ausland zulassen, bestehen ebenso wie etwa in Portugal, Kroatien, Guinea-Bissau und neuerdings im Libanon eigene Auslandswahlkreise bzw. reservierte Sitze für die Wahl im Ausland. In anderen Staaten wiederum werden die Stimmen inländischen Wahlkreisen zugeordnet, etwa jenem der Hauptstadt (wie in Lettland), auf Grundlage des früheren Wohnsitzes (wie in Deutschland) oder willkürlich (ohne Wahlkreisbezug) per Los (wie in Russland). Die Zuordnung zu Wahlkreisen entfällt in Ländern, die im nationalen Wahlkreis wählen lassen oder in denen die Auslandswahlberechtigten nur an Präsidentschafts-, nicht aber an Parlamentswahlen teilnehmen dürfen. Letzteres mag darin begründet sein, dass die Verhältniswahl in Lateinamerika vorwiegend in Wahlkreisen durchgeführt wird, zu denen die Auslandswahlberechtigten möglicherweise keinen Bezug mehr haben, doch so ganz überzeugen die für nationale Wahlen unterschiedlichen Wahlrechtsregeln nicht.
Zu jung zum Wählen? Das Wahlalter
Gemeinhin anerkannt sind Altersvoraussetzungen für die Ausübung des Wahlrechts. Dahinter steht die Vorstellung, dass Menschen einer bestimmten „Verstandes- und Lebensreife“84 bedürfen, um ihr Wahlrecht selbstbestimmt und verantwortungsvoll zu nutzen. Trotz aller entwicklungspsychologischer Erkenntnisse ist die Festsetzung eines Mindestalters für das aktive Wahlrecht jedoch letztlich willkürlich, ebenso wie das Alter der Volljährigkeit, an dem sich zumeist das aktive Wahlalter orientiert. Streng genommen müsste es immer wieder daraufhin geprüft werden, ob es der Entwicklungsreife und der Lebenssituation junger Menschen entspricht.
Viele lateinamerikanische Staaten senkten schon früh das aktive Wahlalter auf 18 Jahre.85 In Deutschland wurde das Mindestwahlalter im Jahr 1970 von 21 Jahren auf 18 Jahre verringert und kam 1972 erstmals bei Bundestagswahlen zur Anwendung. Japan rang sich erst 2015 durch, das Mindestwahlalter auf 18 Jahre (zuvor 20 Jahre) festzulegen. In Südkorea wurde im Vorfeld der Wahlen von 2020 das Wahlalter von 19 auf 18 Jahre gesenkt. 18 Jahre sind zurzeit internationaler Standard für nationale Wahlen, auch wenn in einigen wenigen Ländern, vorwiegend in Asien, das Wahlalter für das aktive Wahlrecht noch höher liegt. Dies können bis zu 20 Jahre (z. B. Taiwan) oder gar 21 Jahre (z. B. Malaysia, Singapur) sein.
In einigen asiatischen Ländern liegt es aber auch niedriger: In Indonesien und Timor-Leste müssen Wahlberechtigte nur 17 Jahre alt sein. Auch in Griechenland senkte die Regierung Tsipras (2015 – 2019) das Wahlalter von 18 auf 17 Jahre. In Österreich (seit 2007) und Malta (seit 2018) liegt das Mindestalter bei nationalen Wahlen sogar nur bei 16 Jahren, ebenso wie in Nicaragua, Brasilien, Ecuador und Argentinien (wobei eingebürgerte Staatsangehörige Argentiniens allerdings 18 Jahre alt sein müssen). Hinter der Senkung des Mindestalters stehen, wie in Nicaragua, mitunter politische Motive. Die in den 1980er Jahren regierenden Sandinisten, die 1979 den Diktator Somoza gestürzt hatten, rekrutierten ihre Anhängerschaft gerade aus der mobilisierten Jugend. Als sie im Jahr 1984, inmitten des von den USA initiierten und finanzierten Contra-Kriegs gegen die Sandinisten, den Präsidenten wie das Parlament wählen ließen, erklärten sie sinngemäß: Wer kämpfen könne, der solle auch wählen dürfen. Kurioserweise spielte ein ähnliches Argument im Jahr 1971, also mitten im Vietnam-Krieg, auch bei der Senkung des Wahlalters von 21 auf 18 Jahre in den USA eine Rolle.
In Indonesien findet sich aus heutiger Sicht eine weitere Besonderheit: Verheiratete Personen genießen unabhängig vom allgemeinen Mindestalter von 17 Jahren das Wahlrecht. In der Dominikanischen Republik müssen Verheiratete ebenfalls nicht das allgemeine Mindestalter von 18 Jahren erreichen, sondern erhalten schon zuvor die vollen Staatsbürgerrechte und damit das Wahlrecht. Auch in einigen anderen lateinamerikanischen Staaten wurde ehedem beim Wahlalter zwischen unverheirateten und verheirateten Personen (z. B. Mexiko bis 1969) oder Frauen (z. B. El Salvador bis 1950) ein Unterschied gemacht, in Bolivien noch bis zur Verfassungsreform von 1994. Bis dahin lag das dortige Mindestwahlalter von Ledigen bei 21 Jahren und von Verheirateten bei 18 Jahren. Eine ähnliche Abstufung findet sich sogar in Europa, nämlich in Ungarn, wo bereits in den 1920er Jahren Männer mit 24 Jahren, Frauen aber erst mit 30 Jahren wählen durften.86 Dort liegt heute das allgemeine Mindestwahlalter bei 18 Jahren, für Verheiratete aber nur bei 16 Jahren. Hinter solchen Unterscheidungen steht nicht nur ein traditionelles Familienbild, sondern auch die Überlegung, dass Menschen, die Verantwortung für eine Familie übernehmen, auch wählen können sollen. Doch widerspricht es internationalen Standards, das Wahlalter vom Personenstand abhängig zu machen.
In Deutschland senkte Niedersachsen als erstes Bundesland 1996 das Wahlalter bei Kommunalwahlen auf 16 Jahre. Es folgten: Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein (beide 1998), Mecklenburg-Vorpommern und Nordrhein-Westfalen (beide 1999), Berlin (2005), Bremen (2007), Brandenburg (2011) sowie Hamburg (2013). In Bremen (seit 2011), Brandenburg (seit 2012), Hamburg und Schleswig-Holstein (beide seit 2013) gilt das verringerte Wahlalter sogar für Landtagswahlen.87 In Hessen machte die damalige Regierung unter Roland Koch eine entsprechende Reform Ende der 1990er Jahre wieder rückgängig. Für die Bundestagswahlen hingegen blieben entsprechende Initiativen im Bundestag bislang erfolglos. Ein jüngerer Antrag von Bündnis 90/Die Grünen88 knüpfte an die UN-Kinderrechtskonvention an und sah in der Senkung des Wahlalters auf allen politischen Ebenen ein wichtiges Element, damit Jugendliche ihre Interessen selbstständig verträten. Dies schärfe zugleich den Sinn für Gemeinwohl, stärke den Zusammenhalt und den Generationendialog und fördere Integration und Gerechtigkeit. Auch in ihr Wahlprogramm für die Bundestagswahl 2017 hatten Bündnis 90/Die Grünen, ebenso wie Die Linke und die SPD, die Senkung des Wahlalters auf 16 aufgenommen. Das Wahlprogramm der Piratenpartei sah sogar eine Senkung auf 14 Jahre vor. CDU, CSU und FDP hingegen halten an dem bisherigen Wahlalter für die Bundestagswahlen fest. Gesetzesanträge zur Änderung der Wahlaltersgrenze auf 16 Jahre im Grundgesetz und Bundeswahlgesetz fanden in der 19. Wahlperiode im Bundestag keine Mehrheit.89
Kein Erfolg beschieden war (und ist) übrigens auch den überfraktionellen Anträgen für ein „Wahlrecht von Geburt an“, wonach die Eltern die Stimme für ihre Kinder treuhänderisch abgeben sollen.90 In der Wissenschaft wird über das „Wahlrecht von Geburt an“ bzw. über ein Familienwahlrecht seit Jahren intensiv diskutiert.91 Ein solches „Vertreterwahlrecht“ ist jedoch mit dem geltenden Verfassungsrecht wohl nicht vereinbar, da es gegen die Prinzipien der Zählwertgleichheit der Stimmen (one person, one vote) sowie der „Höchstpersönlichkeit“ der Wahl verstößt.
Staatsbürger hinter Gittern
Neben den zu erfüllenden Wahlrechtsvoraussetzungen sehen Verfassungen und Gesetze für gewöhnlich auch Wahlrechtsausschlüsse vor. Die Frage beispielsweise, inwieweit Einschränkungen des Wahlrechts für verurteilte Gefängnisinsassen legitim und rechtens sind, wird im akademischen Diskurs seit Jahren diskutiert.92 Sie beschäftigte inzwischen auch mehrfach den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Beginnend mit der Rechtssache Hirst v. the United Kingdom (2005) stellte der EGMR in ständiger Rechtsprechung zu Großbritannien,93 aber auch zu Russland, Türkei und Bulgarien94 klar, dass der pauschale Wahlrechtsrechtsausschluss von Strafgefangenen gegen Art. 3 des Protokolls Nr. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt.95 Der Wahlrechtsrechtsausschluss bedürfe, so der EGMR, einer Gerichtsentscheidung unter Berücksichtigung des Charakters der Straftat. Wie bis heute noch die Regierungen Russlands und der Türkei, waren auch die britischen Regierungen lange Zeit nicht bereit, ihr Wahlrecht an die Vorgaben des EGMR anzupassen.
Trotz einzelner Reformüberlegungen war der politische Unwille in London groß. Dahinter stand nicht nur die Überzeugung, dass Strafgefangene, welche die Grundregeln der Gesellschaft verletzt haben, nicht an den Entscheidungen über die Gesellschaft mitwirken sollen. Die Diskussion kreiste auch um das Verhältnis Großbritanniens zur EMRK und um die Frage, inwieweit EGMR-Urteile in die parlamentarische Souveränität des Vereinigten Königreichs eingreifen dürfen. Im Dezember 2017 akzeptierte das Ministerkomitee des Europarats, das die Umsetzung der EGMR-Urteile überwacht, schließlich einen Kompromiss, demzufolge zumindest Freigänger (prisoners on temporary licence) bei nationalen Wahlen in Großbritannien das Wahlrecht erhalten.96
Etliche europäische Staaten halten an einem Wahlrechtsentzug für Gefangene fest, selten allerdings pauschal, wie in Bulgarien, sondern meist für bestimmte Straftaten oder ab einer gewissen Haftdauer. In der Rechtssache Thierry Delvigne v. Commune de Lesparre-Médoc and Préfet de la Gironde befand der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Oktober 2015, dass das geltende französische Recht, das bestimmten verurteilten Straftäterinnen und Straftätern das Wahlrecht für das Europäische Parlament verwehrt, nicht gegen das EU-Recht verstoße und verhältnismäßig sei, weil es die Natur und die Schwere der Straftat und die Haftdauer berücksichtige. Zahlreiche andere europäische Staaten wiederum entziehen Gefangenen überhaupt nicht das aktive Wahlrecht. Dazu zählen etwa Dänemark, Finnland, Irland, Lettland, Litauen, Kroatien, Nordmazedonien, die Republik Moldau, die Schweiz, Serbien, Slowenien, Spanien und die Ukraine. Weltweit sind solche „liberalen“ Regelungen eher die Ausnahme, finden sich beispielsweise in Israel, Kanada und der Republik Südafrika. In vielen anderen Staaten – von Argentinien, Brasilien und El Salvador bis nach Kirgistan, die Mongolei und Neuseeland – bleibt Strafgefangenen das Wahlrecht pauschal oder näher spezifiziert verwehrt.
Mitunter bleibt der Wahlrechtsausschluss selbst nach der Entlassung aus dem Gefängnis (zeitweise) bestehen. Besonders in den USA fällt dies auch politisch ins Gewicht. Bei den US-Präsidentschaftswahlen von 2016 konnten schätzungsweise 6,1 Millionen Menschen, das heißt 2,5 % der Staatsangehörigen im Wahlalter, nicht wählen, weil sie zuvor in ihrem Leben straffällig geworden waren. 2020 waren es – trotz Reformen – noch knapp 5,2 Millionen. Betroffen sind in den allermeisten Bundesstaaten nicht nur Gefängnisinsassen, sondern auch auf Bewährung entlassene Personen. In einigen Bundesstaaten bleibt ihnen – auch nach einer vorzeitigen Entlassung – das Wahlrecht bis zum Ende der gesamten Strafzeit oder sogar noch darüber hinaus verwehrt. Weit überproportional betroffen sind von dem Wahlrechtsentzug männliche Afroamerikaner.97 Dem politischen System der USA geschuldet ist zudem, dass das Wahlrecht von Gefangenen und ehemaligen Straffälligen in den USA nicht bundesweit geregelt ist, sodass es je nach Bundesstaat zur unterschiedlichen Gewährung des Wahlrechts kommt. Dies entspricht nicht internationalen Standards.
In Deutschland ermöglicht das Bundeswahlgesetz in § 13 Abs. 1 einen Wahlrechtsausschluss per Richterspruch. Zum einen entscheidet das Bundesverfassungsgericht über die Verwirkung von Grundrechten und kann in diesem Zusammenhang auch Personen das Wahlrecht, die Wählbarkeit und die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter aberkennen. Zum anderen sieht das Strafgesetzbuch ausdrücklich vor, dass die Gerichte im eigenen Ermessen Verurteilten für die Dauer von zwei bis fünf Jahren das aktive Wahlrecht strafgerichtlich aberkennen können, und zwar u. a. bei folgenden Straftraten: Friedensverrat, Hochverrat und Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats, Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit, Angriffe gegen Organe und Vertreter ausländischer Staaten, Straftaten im Zusammenhang von Wahlen und Abstimmungen (Wahlfälschung etc.), Bestechlichkeit und Bestechung von Mandatsträgern sowie Straftaten gegen die Landesverteidigung (Sabotage etc.).
Die richterliche Wahlrechtsaberkennung zielt auf den Schutz der Wahlen und des demokratischen Rechtsstaats ab und richtet sich daher gerade gegen Personen, die eine Straftat gegen Verfassungsrechtsgüter begangen haben. Kritiker sehen dahinter jedoch ein überkommenes „Relikt des Ehrenstrafrechts“ aus Zeiten, in denen es noch die Aberkennung der „bürgerlichen Ehrenrechte“ gab.98 Der Wahlrechtsausschluss sei kriminalpolitisch fragwürdig und verfassungsrechtlich unhaltbar.99 Gemäß der Strafverfolgungsstatistik wird jedoch ohnehin kaum jemandem in Deutschland aufgrund von Straftaten das aktive Wahlrecht entzogen. Anders hingegen verhält es sich mit dem Verlust des passiven Wahlrechts, auf das wir später noch eingehen werden.