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Wahlrechtseinschränkungen wegen (oder als) Behinderungen
In vielen Staaten weltweit werden Menschen mit einer geistigen Behinderung oder Menschen, die nicht rechtsfähig sind oder einer teilweisen oder vollständigen Vormundschaft bzw. Betreuung unterliegen, pauschal oder auf Grundlage einer richterlichen Entscheidung vom Wahlrecht ausgeschlossen. Darunter fallen auch etliche europäische Staaten. Zwar haben in jüngster Zeit einige Staaten ihre Wahlrechtsausschlüsse ganz oder teilweise zurückgenommen. In der Slowakei hob 2017 das Verfassungsgericht den Wahlrechtsausschluss wegen mangelnder Rechtsfähigkeit auf. In Dänemark ermöglichte das Parlament im Dezember 2018 zumindest einem Teil der Menschen unter Vormundschaft – aber eben nicht allen –, ihr Wahlrecht zu erlangen. Im selben Monat wurden im spanischen Wahlgesetz zwei Artikel (Art. 3 Abs. b und c) gestrichen, um Menschen mit Behinderungen das Wahlrecht zu gewähren. Doch nur in wenigen europäischen Ländern wie Schweden, Italien, Irland, Kroatien, Lettland, Österreich, Großbritannien, den Niederlanden und neuerdings der Slowakei, Deutschland und Spanien bestehen formal-rechtlich keine Einschränkungen (mehr).100 Völlig uneinheitlich stellt sich die Rechtslage in den USA dar, wo nur einige Bundesstaaten keine entsprechenden Einschränkungen vorsehen. Dabei verstoßen die – zumal pauschalen – Ausschlüsse von Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen oder unter Vormundschaft, wie sie in etlichen europäischen und vielen außereuropäischen Staaten nach wie vor bestehen, gegen das menschenrechtliche Diskriminierungsverbot.
In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2019 entschieden, dass der pauschale Wahlrechtsausschluss von Menschen unter Betreuung und von Patientinnen und Patienten in der forensischen Psychiatrie verfassungswidrig ist. Bis dato ermöglichte das Bundeswahlgesetz (§ 13 Abs. 2 und 3) den Wahlrechtsausschluss zum einen von Personen, die zur Besorgung aller ihrer Angelegenheiten eine Betreuungsperson per Gericht bestellt bekommen hatten, zum anderen von Personen, die sich auf Anordnung nach dem Strafgesetzbuch in einem psychiatrischen Krankenhaus befanden. Einer Studie aus dem Jahre 2016 zufolge waren 85.550 Menschen, also 0,14 % der Wahlberechtigten, von dem Ausschluss betroffen, davon 81.220 vollständig betreute Menschen und 3.330 Personen in psychiatrischen Einrichtungen.101
Gegen beide Ausschlussgründe des Paragrafen 13 waren seit geraumer Zeit verfassungsrechtliche und menschenrechtliche Bedenken vorgebracht worden.102 Entsprechende Wahleinsprüche gegen die Bundestagswahl 2017 hatte der Bundestag jedoch zurückgewiesen. Gegen den Bundestagsbeschluss wurde schließlich eine Wahlprüfungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt. Dessen Urteil zufolge kann zwar ein Ausschluss vom aktiven Wahlrecht verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein, wenn bei einer bestimmten Personengruppe davon auszugehen sei, dass die Möglichkeit zur Teilnahme am Kommunikationsprozess zwischen Volk und Staatsorganen nicht in hinreichendem Maße besteht. Doch sah das Bundesverfassungsgericht die pauschalen Wahlrechtsausschlüsse im Wahlgesetz als verfassungswidrig an.103 Die Regierungskoalition leitete daraufhin eine Änderung des Wahlrechts für Bundestagswahlen und für Europawahlen ein. Da dieses jedoch erst am 1. Juli in Kraft trat, entschied das Bundesverfassungsgericht per Eilantrag, dass die Betroffenen auf Antrag bereits an der Europawahl am 26. Mai 2019 teilnehmen können.104
Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte rügte bislang nur einen pauschalen Wahlrechtsausschluss von Menschen unter Vormundschaft, schloss aber einen solchen nicht völlig aus. In der Rechtssache Alajos Kiss v. Hungary vertrat er 2010 die Ansicht, dass ein solcher Ausschluss ein legitimes Ziel sein könne, um sicherzustellen, dass lediglich solche Personen an den öffentlichen Angelegenheiten mitwirken, die fähig seien, die Folgen ihrer Entscheidungen einzuschätzen und bewusste und rechtsbindende Entscheidungen zu treffen. Allerdings beanstandete der EGMR im Falle Ungarns die pauschale Einschränkung des Wahlrechts für Menschen mit geistiger Behinderung und Menschen mit psychischen Problemen. Der Gerichtshof sah es als problematisch an, die so erfassten Menschen als einheitliche Gruppe zu behandeln, und stellte klar, dass die Einschränkung ihrer Rechte einer strengen Prüfung bedürfe. Ein unterschiedsloser Entzug des Wahlrechts ohne gerichtliche Individualprüfung, der sich ausschließlich auf eine partielle Vormundschaft stütze, böte keine hinreichende Rechtfertigung.
Weit rigoroser argumentiert der UN-Behindertenrechtsausschuss, der die UN-Behindertenrechtskonvention überwacht. Er lehnt jegliche Einschränkungen des aktiven wie passiven Wahlrechts für Menschen mit Behinderungen ab. Immer wieder ermahnte er die Vertragsstaaten, solche Bestimmungen in Verfassungen und Wahlgesetzen zurückzunehmen, welche behinderten Menschen das Wahlrecht verwehren. Bei der Überprüfung des deutschen Staatenberichts hatte sich der UN-Behindertenrechtsausschuss in seinen Abschließenden Bemerkungen von 2015 dementsprechend auch besorgt über den im Bundeswahlgesetz (und in verschiedenen Ländergesetzen) seinerzeit noch vorgesehenen Ausschluss von Menschen unter vollständiger Betreuung vom Wahlrecht gezeigt. Der Ausschuss empfahl Deutschland damals bereits, „alle Gesetze und sonstigen Vorschriften aufzuheben, durch die Menschen mit Behinderungen das Wahlrecht vorenthalten wird, sowie Barrieren abzubauen und angemessene Unterstützung bereitzustellen“.105
Interessanterweise entschied der UN-Behindertenausschuss – nach dem EGMR – auch über eine Beschwerde aus Ungarn: Sechs Personen, die aufgrund von intellectual disability durch richterlichen Beschluss unter (teilweiser oder völliger) Vormundschaft gestellt worden waren, waren dort automatisch aus dem Wahlregister gestrichen worden. Die Regierung brachte vor, dass dem Wahlrechtsentzug – in Übereinstimmung mit der neuen Verfassung Ungarns, die im Januar 2012 in Kraft trat – eine richterliche Individualprüfung vorausgegangen wäre. Den Anforderungen des EGMR sei somit Genüge getan worden. Der UN-Behindertenrechtsausschuss sah indes die automatische Streichung aus dem Wahlregister infolge der (wenn auch) richterlichen Entscheidung über die Vormundschaft als eine Verletzung der UN-Behindertenrechtskonvention an. Bei den Parlamentswahlen 2018 in Ungarn blieb gleichwohl 49.259 Personen mit geistigen Beeinträchtigungen das Wahlrecht verwehrt.106 Die Kritik seitens des UN-Behindertenrechtsausschuss betraf übrigens auch eine weltweit wohl einzigartige Regelung in Paraguay, die unter bestimmten Bedingungen Gehörlosen (sordomudos)107 das Wahlrecht vorenthält.108
Bei allen nationalen Widerständen wächst der Druck, entsprechende Wahlrechtsausschlüsse von Menschen mit geistiger Behinderung oder von Menschen, die nicht rechtsfähig sind, zu unterlassen. Der UN-Menschenrechtsrat sprach bereits 2011 eine entsprechende Empfehlung aus.109 Im selben Jahr empfahl das Ministerkomitee des Europarats, allen Menschen mit Behinderungen die diskriminierungsfreie Nutzung des Wahlrechts zu ermöglichen „[…] through the removal of restrictions on legal capacity, the abolition of voting tests, the introduction of legal provisions, specific forms of assistance, awareness raising and funding“.110 Anknüpfend an Forderungen des UN-Behindertenrechtsausschusses empfehlen ODIHR-Wahlbeobachtungsberichte inzwischen regelmäßig die vielfach noch bestehenden Wahlrechtsausschlüsse wegen „mental incapacity“ oder „legal incapacity“ abzuschaffen, ganz unabhängig davon, ob diese pauschal oder per Gerichts-beschluss verhängt werden. Zugleich wird der Kreis derjenigen Länder größer, die solche Wahlrechtsausschlüsse zurücknehmen.
Wahlpflicht – eher die Ausnahme
Sollte das allgemeine Wahlrecht auch mit einer Wahlpflicht einhergehen? Vergleichsweise weit verbreitet ist die Wahlpflicht in Lateinamerika. Sie besteht – zumindest auf dem Papier – etwa in Argentinien, Bolivien, Brasilien, Costa Rica, der Dominikanischen Republik, Ecuador, El Salvador, Guatemala, Honduras, Mexiko, Panama, Paraguay, Peru und Uruguay. Dort ist die Wahlpflicht Bestandteil einer verfassungsrechtlichen Tradition. Teils wurde die Wahlpflicht schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingeführt und ist auch heute politisch wenig umstritten, selbst wenn sie in Venezuela (1998) und Chile (2012) wieder abgeschafft wurde. Allerdings wird die Wahlpflicht in Lateinamerika mitunter eher als Bürgerpflicht denn als eine zu sanktionierende Rechtspflicht verstanden, wie dies am ehesten noch in Argentinien, Bolivien, Brasilien, Peru, Ecuador und Uruguay der Fall ist.111 Auch wird sie nicht immer auf alle Altersgruppen angewandt. Nach Senkung des Wahlalters haben 16- und 17-jährige Wahlberechtigte in Argentinien und Brasilien zwar das Recht, nicht aber die Pflicht, zur Wahl zu gehen. Hingegen bleibt für Wahlberechtigte ab 18 Jahren der Wahlgang verpflichtend – zumindest bis zu einem Höchstalter von z. B. 60 Jahren (Brasilien) oder 70 Jahren (wie in Argentinien und Peru). In Brasilien und Ecuador sind zudem sowohl Menschen mit Behinderung als auch Analphabeten von der Wahlpflicht ausgenommen.
In anderen Weltregionen ist die Wahlpflicht eher selten. Zu den Ausnahmen in Europa gehören: Belgien seit 1893, Luxemburg seit 1919, Liechtenstein seit 1922, Griechenland seit 1952 sowie der Kanton Schaffhausen in der Schweiz. In Bulgarien wurde – entgegen dem internationalen Trend – zwar im Jahr 2016 die Wahlpflicht eingeführt, doch das dortige Verfassungsgericht erachtete bereits ein Jahr später Sanktionen wegen des Verstoßes gegen die Wahlpflicht als verfassungswidrig. Zypern schaffte 2017 die Wahlpflicht ab, genau wie bereits 1967 die Niederlande und zu Beginn der 1990er Jahre Italien und Österreich. In Österreich war die Wahlpflicht 1918 als Paket gemeinsam mit dem allgemeinen Frauenwahlrecht eingeführt worden: Die Christlichsozialen hatten seinerzeit befürchtet, dass durch das Frauenwahlrecht die Sozialdemokratische Arbeiterpartei über Gebühr nutznießen würden, weil deren Anhängerinnen sich leichter mobilisieren ließen als konservativ eingestellte Frauen, die bei Wahlen eher zu Hause blieben. Mit der Wahlpflicht sollte dieser Nachteil ausgeglichen werden.112
Außerhalb Lateinamerikas und Europas finden wir die Wahlpflicht in Australien, dort bereits seit 1924, und in Nauru, Singapur und Thailand (vor 2014), im Libanon und der Türkei sowie in einigen wenigen afrikanischen Autokratien, etwa in Ägypten, Gabun und der Demokratischen Republik Kongo. Auch in diesen Ländern ist Wahlpflicht nicht gleich Wahlpflicht. Deren Einhaltung wird nicht immer (streng) kontrolliert und sanktioniert. Dementsprechend groß sind auch die Unterschiede in der Wahlbeteiligung (die freilich auch noch von weiteren Bestimmungsgründen abhängt): Lateinamerikanische Staaten mit Wahlpflicht weisen teils eine hohe Wahlbeteiligung von über 80 % auf (z. B. Bolivien, Ecuador, Peru, Uruguay), teils aber auch eine wesentlich niedrigere (z. B. Costa Rica, Mexiko, Paraguay). Groß ist auch die Kluft zwischen den Ländern Europas mit Wahlpflicht: Die Wahlbeteiligung in Belgien und Luxemburg ist durchweg sehr hoch, in Bulgarien und Griechenland hingegen niedrig. Spitzenreiter unter den demokratischen Staaten mit Wahlpflicht sind Australien und Nauru mit Wahlbeteiligungsraten von über 90 %.
Obwohl eine Wahlpflicht international vergleichsweise wenig Anhängerschaft findet, wird in Deutschland mit schöner Regelmäßigkeit der Vorschlag eingebracht, mittels einer solchen Pflicht die Wahlbeteiligung zu erhöhen.113 Befürworter gehen davon aus, dass dadurch die Wahlbeteiligung steigen und politikferne Gruppen wieder an die Wahlurne geholt werden. Dadurch würde sich die Legitimität der Wahlen erhöhen und – angesichts der bisherigen sozialen Selektivität der Wahlen114 – das politische Gleichheitsversprechen der Demokratie (besser) eingelöst werden. Auch versprechen sie sich politische Bildungseffekte auf die Wahlberechtigten. Während Befürworter im Wählen eine demokratische Pflicht sehen, die eine Demokratie auch einfordern könne, stellen Gegner die Freiheit der Wahl in den Vordergrund, die eben auch die Freiheit einschließe, nicht zur Wahl zu gehen.115 Ungeachtet demokratietheoretischer Argumente für oder gegen eine gesetzliche Wahlpflicht, stieße hierzulande die Einführung einer Wahlpflicht, zumal, wenn sie mit Sanktionen (etwa mit Bußgeldern) verbunden werden würde, wohl auf verfassungsrechtliche Bedenken, widerspricht es nach hiesigem Verfassungsverständnis doch dem Prinzip der freien Wahlen und der freien Wahlbetätigung, wenn die Wahlberechtigten gegen ihren Willen verpflichtet werden, am Wahlakt teilzunehmen.116
Auch politisch greift der Vorschlag, eine Wahlpflicht einzuführen, zu kurz: Um Nichtwählende ins Wahllokal zu bekommen, gilt es, Interesse an Politik zu wecken. Dazu gehören idealerweise politische Bildung, eine ansprechende Politikvermittlung sowie überzeugende inhaltliche und personelle Profile der kandierenden Parteien ebenso wie eine Politik, die gesellschaftliche Probleme anpackt und bewältigt. Das Erstarken vielfältiger sozialer Bewegungen weist auf Glaubwürdigkeits- und Handlungsdefizite der Politikgestaltung durch Parteien, Parlamente und Regierungen hin und steht für alternative Formen der gesellschaftspolitischen Mitwirkung. Zugleich spiegelt die im Vergleich zu den 1970er Jahren gesunkene Wahlbeteiligung auch den gesellschaftlichen Wandel wider. Nicht nur die Parteienidentifikation, sondern auch das „staatsbürgerliche Pflichtbewusstsein“ gegenüber dem Wählen hat abgenommen. Die Zeiten, in denen die Wahlberechtigten in bester Sonntagsgarderobe am Wahltag ihrer Staatsbürgerpflicht nachkamen, sind für viele Menschen schlicht vorbei. Eine solche aber gesetzlich zu verordnen und ihre Nichteinhaltung zu sanktionieren, ist gesellschaftspolitisch schwer zu vermitteln. Bereits eine Studie aus dem Jahr 2014 ergab hierzulande nur eine geringe Akzeptanz für die Einführung einer zumal sanktionsbewehrten Wahlpflicht.117
Die Registrierung der Wahlberechtigten
Um das allgemeine Wahlrecht ausüben zu können, müssen die Wahlberechtigten für gewöhnlich registriert sein. Nur in Ausnahmenfällen – wie etwa bei den ersten Post-Apartheid-Wahlen in Südafrika 1994 – dürfen sie gegebenenfalls ohne Vorabregistrierung unter Vorlage von Personaldokumenten wählen. Entsprechend außergewöhnlich ist, dass beispielsweise in Lettland kein Wahlregister für Parlamentswahlen besteht. Wahlberechtigte können dort bei Vorzeigen ihres Passes (der dann gestempelt wird) oder einer Wahlkarte (bei Fehlen eines Passes) in allen Wahllokalen landesweit wählen, unabhängig von ihrem Wohnort. Sie werden dort handschriftlich in Wahllisten eingetragen. Dies widerspricht den Empfehlungen der Venedig-Kommission des Europarats.118 Andernorts sind feste Wahlregister Usus, gibt es allenfalls Möglichkeiten für Zusatzlisten, die bei mangelhaften Registern Nachträge erlauben oder es ermöglichen, Personen aufzunehmen, die ihren Wohnort gewechselt oder das gesetzliche Wahlalter erst nach der endgültigen Veröffentlichung der Verzeichnisse erreicht haben. Eine allgemeine, zusätzliche Möglichkeit der Registrierung am Wahltag wird hingegen kritisch bewertet.119
Alles in allem gehören die Erstellung, Pflege und Aktualisierung der Wahlregister zu den besonders schwierigen Problemen der Wahlorganisation. Die Kunst ist, dabei sicherzustellen, dass möglichst alle Wahlberechtigten registriert werden und wählen können, und zugleich zu vermeiden, dass fehlerhafte, nicht bereinigte Register (mit Mehrfachregistrierungen und den berüchtigten „Toten“) bestehen, die Wahlbetrug ermöglichen. Im Extremfall kann die Durchführung ordnungsgemäßer Wahlen sogar an einer mangelhaften Registrierung scheitern. Besonders schwierig stellt sich die Registrierung der Wahlberechtigten in (Post-)Konfliktstaaten mit einer hohen Zahl von Binnenvertriebenen dar, zumal, wenn diese über keine gültigen Personaldokumente (mehr) verfügen. Solche Schwierigkeiten ergaben sich gerade auch bei den Wahlen nach den Bürgerkriegen im ehemaligen Jugoslawien.
Doch gerade die Wahlteilname von Binnenvertriebenen ist für eine Aussöhnung und eine friedliche Entwicklung unerlässlich.120 Auch die UN-Leitprinzipien für Binnenvertriebene von 1998, eine Empfehlung des Ministerkomitees des Europararats von 2006121 sowie die Convention for the Protection and Assistance of Internally Displaced Persons in Africa (Kampala-Konvention) von 2009 fordern die Staaten auf bzw. nehmen sie in die Pflicht, Binnenvertriebenen zu ermöglichen, ihr Wahlrecht zu nutzen. Entsprechende Anstrengungen wurden beispielsweise in der Ukraine nach 2014 unternommen. Problematisch ist dabei, dass in dem dort seinerzeit angewandten Grabenwahlsystem122 Binnenvertriebene, die eine temporäre Wahladresse außerhalb ihres ursprünglichen Wahlkreises erhalten hatten, ihre Stimme nicht für Direktmandate im Wahlkreis, sondern nur für die proportional zu vergebenden Mandate auf den Parteilisten abgeben durften.123
Mit Ausnahme von Großbritannien, Irland und Zypern erfolgt in Europa, so auch in Deutschland, die Registrierung der Wahlberechtigten passiv auf Grundlage der Einwohnermelderegister, die im Idealfall kontinuierlich aktualisiert werden. Dort müssen sich allenfalls Wahlberechtigte, die im Ausland leben, aktiv um eine Registrierung bemühen. Auch in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion und etlichen anderen Ländern weltweit werden die Verzeichnisse auf der Basis von Einwohnermelderegistern erstellt, einschließlich der damit verbundenen Fehlerquellen, wie der Nichtstreichung von Personen, die gestorben oder umgezogen sind. Eine höchst außergewöhnliche Regelung findet sich hierbei in Albanien, wo Wahlberechtigte, die über 100 Jahre alt sind, automatisch aus dem Wahlregister gestrichen werden, mutmaßlich, um etwaige verstorbene Personen nicht weiter auf der Liste zu führen. Leben die betagten Menschen noch (und wollen zur Wahl gehen), müssen sie sich aktiv um eine Wiederaufnahme in das Wahlregister bemühen.
In manch anderen Ländern wiederum ist eine allgemeine aktive Registrierung zu Wahlen nötig – und in einigen Fällen, wie etwa in Zypern, sogar verpflichtend. Die Wahlberechtigten müssen sich dann in beständig geführte oder eigens für die Wahlen erstellte oder aktualisierte Verzeichnisse eintragen lassen. In den USA beispielsweise können sich die Wahlberechtigten persönlich, auf dem Postweg oder durch eine autorisierte Person aktiv in den jeweiligen Bundesstaaten registrieren. Je nach Bundesstaat werden dabei unterschiedliche Dokumente zur Personenidentifikation akzeptiert, vom Sozialversicherungsausweis über den Führerschein bis (dem Hörensagen nach) zum Mitgliedsausweis der National Rifle Organisation. In etlichen Bundesstaaten ist inzwischen auch eine Onlineregistrierung möglich. Nicht ungewöhnlich für aktive Registrierungen ist jedoch, dass ein Teil der Wahlberechtigten sich nicht registriert. In den USA betraf dies bei den Wahlen 2016 schätzungsweise 35 Millionen von insgesamt 220 Millionen Wahlberechtigten. Teils ist dies dem fehlenden Willen der Wahlberechtigten geschuldet, teils aber auch den unzureichenden Informationen und den organisatorischen Problemen der Registrierung.
Auch in Indien, der „größten Demokratie der Welt“, müssen sich die knapp 900 Millionen Wahlberechtigten aktiv zur Wahl registrieren. Sie registrieren sich zunehmend online, können dies aber auch per Post oder in entsprechenden Registrierungsstellen tun.124 Trotz entsprechender Aufrufe kommen aber längst nicht alle Wahlberechtigten der Aufforderung nach. Ein Vergleich des Zensus mit den Wahllisten ergab beispielsweise, dass bei den Wahlen des Jahrs 2019 etwa 21 Millionen indische Frauen im Wahlalter nicht registriert waren, sodass sie ihr Wahlrecht nicht nutzen konnten. Über technische Probleme hinaus wurde das nicht zuletzt auf familiäre und gesellschaftliche Widerstände eines männlich dominierten sozialen Umfelds zurückgeführt.125
Sofern Wahlberechtigte kurz vor oder bei den Wahlen nicht im regulären Wahlregister auftauchen, können sie sich mancherorts in zusätzliche Listen (supplementary voters lists) eintragen lassen oder vorläufige Stimmen abgeben. Gerade bei unzuverlässigen Registern ermöglicht ein solches Verfahren, die Ausübung des allgemeinen Wahlrechts zu gewährleisten, erhöht aber auch die Gefahr der unzulässigen Mehrfachwahl. Als Standardverfahren für Länder, in denen eigentlich zuverlässige Wahlregister verfügbar sind (oder sein müssten), ist daher die Registrierung im Wahllokal zumindest ohne zusätzliche Sicherungsmaßnahmen bedenklich. Entsprechend kritisierten OSZE/ODIHR auch eine solche Möglichkeit bei den Präsidentschaftswahlen 2015 in Belarus und 2018 in Russland, beides Länder, in denen die Regierungen – zwecks Legitimierung der Wahlen – an einer hohen Wahlbeteiligung interessiert sind.
Zur Datenerfassung und Überprüfung empfiehlt sich ein zentrales Wahlregister, damit die zumeist dezentral erhobenen Angaben landesweit erfasst und abgeglichen werden. Diese bestehen selbst in westlichen Demokratien nicht überall. Die USA, Großbritannien und Irland verfügen beispielsweise nicht über ein solches Zentralregister. Auch in Staaten, die eine passive Registrierung von Wahlberechtigten vornehmen, erfolgt diese mitunter nur dezentral, in Europa etwa in Frankreich und der Tschechischen Republik. Vielerorts sind aber zentrale Wahlregister inzwischen üblich. In der Ukraine und Serbien wurden sie vor den Wahlen 2010 bzw. 2012 auf Drängen von OSZE/ODIHR und des Europarats eingeführt. Auch der neue Wahlgesetzentwurf in Usbekistan von 2018 hat entsprechende Empfehlungen aufgegriffen. Die Erstellung und Aktualisierung zentraler Wahlregister werden durch die heute verfügbaren Computertechnologien maßgeblich erleichtert. Allerdings sind die digitale Datenerfassung und der kontinuierliche Datenabgleich technisch durchaus anspruchsvoll und müssen mit entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen verbunden sein.
International empfohlen wird zudem, die (vorläufigen) Wahlregister einer Überprüfung durch die Wahlberechtigten zugänglich zu machen. In vielen Ländern werden entsprechende Listen zur öffentlichen Einsicht ausgelegt bzw. ausgehängt. Dies dient nicht nur der Kontrolle der Wahlverzeichnisse, sondern auch der Orientierung der Wählerinnen und Wähler. Sind die Listen nicht öffentlich zugänglich, stößt dies mitunter auf Kritik im Land oder wird sogar, wie bei den Wahlen 2019 in Guinea-Bissau, nachträglich erwirkt, in diesem Falle auf Betreiben der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS).126 In anderen Ländern wiederum können die Wahlberechtigten die Richtigkeit der Angaben zur eigenen und/oder zu anderen Personen auf Antrag überprüfen. Den Wahlberechtigten soll es so möglich sein, fehlerhafte Eintragungen korrigieren zu lassen und sich bei fehlender Registrierung ins Verzeichnis nachtragen zu lassen, notfalls erwirkt per Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren. Je nach Land wird allerdings das Verhältnis zwischen demokratisch erwünschten öffentlichen Kontrollmöglichkeiten und dem gleichwohl nötigen individuellen Datenschutz unterschiedlich bestimmt. So unterscheiden sich in den jeweiligen Ländern die Vorgaben dahingehend, wer Einsicht nehmen oder Kopien von Wahlregistern erhalten kann, welche Informationen diese enthalten, welche Informationen aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes oder der Sicherheit zurückgehalten werden und ob es Beschränkungen hinsichtlich der kommerziellen Nutzung der Daten gibt.
In Deutschland wird der Datenschutz vorderhand vergleichsweise stark gewichtet. Aus Datenschutzgründen wurde 2001 die öffentliche Auslegung der Wählerverzeichnisse zur allgemeinen Einsichtnahme abgeschafft und durch ein Recht auf individuelle Einsichtnahme ersetzt. So dürfen zwar hierzulande Wahlberechtigte in einem bestimmten Zeitraum die Richtigkeit oder Vollständigkeit ihrer eigenen Daten im Wahlregister überprüfen. Zu einer entsprechenden Überprüfung der Daten von anderen Personen besteht jedoch nur dann Recht auf Einsicht, wenn Tatsachen glaubhaft gemacht werden können, aus denen sich die Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit des Registers ergeben kann. Das Recht zu Überprüfung entfällt zudem in Bezug auf Wahlberechtigte, die einen Sperrvermerk im Melderegister anbringen ließen, etwa wegen Gefahr für Leben, Gesundheit oder anderer schutzwürdiger Belange.127 Das Bundesmeldegesetz (BMG) wiederum erlaubt jedoch, Gruppenauskünfte aus dem Melderegister zu erteilen, wenn dies im öffentlichen Interesse liegt. Um den Wahlberechtigten Wahlinformationen zukommen zu lassen, ist es daher kandidierenden politischen Parteien vor den Wahlen erlaubt, gegen eine Gebühr Melderegisterauskünfte (Name, Adresse) von den Einwohnerämtern einzuholen. So hat die AfD vor den Kommunalwahlen 2019 in Nürnberg beispielsweise an mehr als 3.160 Erstwählerinnen und Erstwähler Werbebriefe verschickt.128
Weit umfassender sind die Auskunftsrechte in den USA. In vielen der dortigen Bundesstaaten haben Einzelpersonen, Parteien und weitere Organisationen das Recht, kostenlos oder gegen eine Gebühr, Kopien der Verzeichnisse zu erhalten. In einigen US-Bundesstaaten enthalten die Informationen sogar die Parteizugehörigkeit der Wahlberechtigten. Parteien ist es so möglich, die verfügbar gemachten Daten gezielt für Wahlkampfzwecke zu nutzen. Während dies in den USA als legitim erachtet wird und auch in einigen europäischen Staaten (z. B. Irland, Monaco, Spanien) den kandidierenden Parteien und Kandidaten die Wählerlisten (in den jeweiligen Wahlkreisen) grundsätzlich zugänglich sind, haben ODIHR und der Europarat beispielsweise den Entwurf eines Wahlregistergesetzes in der Ukraine kritisiert, der politischen Parteien das Recht einräumte, elektronische Kopien der Verzeichnisse zu erhalten.129 Auch in Nordmazedonien gab es Sorgen, dass politische Parteien die Daten nutzen, um auf Wahlberechtigte Druck auszuüben. Immerhin ist in den allermeisten Staaten, selbst in den USA, die Verwendung der Wahlregister für kommerzielle Zwecke verboten. Aber auch dort gibt es Ausnahmen, je nach Bundestaat.
62 Nohlen/Grotz/Hartmann 2001: 13.
63 Vgl. Nohlen 1993, 2005, Bareiro/Soto 2019b.
64 DIE ZEIT, Artikel v. 8. Mai 2014, S. 8.
65 Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) hat beispielsweise vorgeschlagen, für die doppelte Staatsbürgerschaft einen „Generationenschnitt“ vorzunehmen; vgl. SVR 2017.
66 Vertiefend zur Frage der Staatsbürgerschaft siehe etwa: Shachar et al. 2017.
67 Reilly/Torresi 2016: 401.
68 Vgl. auch Arrighi/Bauböck 2017.
69 Vgl. Convention on the Participation of Foreigners in Public Life at LocalLevel von 1992 (seit 1997 in Kraft). Die Konvention wurde jedoch bisher nur von neun Staaten ratifiziert; Deutschland befindet sich nicht darunter.
70 BVerfGE 83, 37; StGH Bremen, NVwZ-RR 2014, 497.
71 Siehe etwa Walter 2013 im Unterschied zu: Schreiber 2017 und Wissenschaftliche Dienste, Deutscher Bundestag 2018.
72 Vgl. Walter 2013: 38 f
73 Vgl. Funke 2016.
74 Vgl. SVR 2017 und die dort angegebene Literatur.
75 Siehe auch Dormal 2016: 386.
76 Vgl. den ODIHR-Bericht zu den Wahlen 2019 in Estland.
77 Vgl. den ODIHR-Bericht zu den Wahlen 2019 in Lettland.
78 Vgl. Schindler v. the United Kingdom (2013).
79 Vgl. Sitaropoulos and Giakoumopoulos v. Greece (2002).
80 Vgl. Navarro Fierro 2016, 2019.
81 Laut der Datenbank von International IDEA besteht in Afrika das Auslandswahlrecht in 30 Ländern für Präsidentschafts- und in 28 Länder für Parlamentswahlen.
82 https://www.idea.int/data-tools/data/voting-abroad.
83 Vgl. Schreiber 2017: 324.
84 Vgl. Schreiber 2017: 308.
85 Vgl. die jeweiligen Länderbeiträge in: Nohlen 1993, 2005.
86 Vgl. Grotz 2000: 14.
87 Eine Landkarte der Wahlberechtigung von unter 18-Jährigen in Deutschland hat die Monitoring-Stelle der UN-Kinderrechtskonvention des Deutschen Instituts für Menschenrechte erstellt: https://landkarte-kinderrechte.de/maps/wahlberechtigung-u18.html.
88 In der 18. Wahlperiode etwa BT-Drs. 18/3151, 12. November 2014. Siehe zuvor bereits: BT-Drs. 16/6647, 10. Oktober 2007.
89 Vgl. BT-Drs. 19/13512 und 19/13513, beide vom 24. September 2019.
90 Vgl. BT-Drs. 16/9868, 27. Juni 2008, BT-Drs. 15/1544, 11. September 2003.
91 Vgl. die zahlreichen Literaturhinweise in Schreiber 2017: 309.
92 Vgl. etwa Ewald/Rottinghaus 2009, Foster 2009, Mauer 2011, Holste 2015.
93 Greens and M.T. v. the United Kingdom (2010), Firth and Others v. the United Kingdom (2014), McHugh and Others v. the United Kingdom (2015).
94 Vgl. etwa Frodi v. Austria (2010), Söyler v. Turkey (2013), Anchugov and Gladkov v. Russia (2013), Murat Vural v. Turkey (2014), Kulinski and Sabey v. Bulgaria (2016).
95 Demnach verpflichten sich die Vertragssaaten, „in angemessenen Zeitabständen freie und geheime Wahlen unter Bedingungen abzuhalten, welche die freie Äußerung der Meinung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Körperschaften gewährleisten“.
96 Vgl. Johnston 2020.
97 Uggen et al. 2016, 2020, National Conference of State Legislature 2020.
98 Vgl. etwa Oelbermann 2011, 2015.
99 Vgl. Holste 2015: 224.
100 Vgl. Schönhagen 2016: 368 sowie ODIHR-Wahlberichte.
101 Vgl. Lang et al. 2016.
102 Vgl. Palleit 2011, DIMR 2016, Schreiber 2017.
103 BVerfG, Beschluss vom 29. Januar 2019 – 2 BvC 62/14.
104 BVerfG, Urteil vom 15. April 2019 – 2 BvQ.22/19.
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