Kitabı oku: «Erlösung und Utopie», sayfa 4
Die zweite Gruppierung besteht aus assimilierten (atheistisch-religiösen), libertären Juden, d. h. aus Anarchisten, Anarcho-Bolschewiken und antiautoritären Marxisten: Gustav Landauer, Ernst Bloch, Erich Fromm, Ernst Toller, Georg Lukács usw. Im Gegensatz zu den Vorhergehenden haben sie sich mehr oder weniger von ihrer jüdischen Identität entfernt, doch eine gewisse Verbindung zum Judentum ist noch vorhanden und wird deutlich formuliert. Ihr religiöser Atheismus (der Begriff stammt von Lukács) trägt neben jüdischen auch christliche Züge, und mehrere von ihnen lassen den Anarchismus hinter sich und bekennen sich später zum Marxismus oder Bolschewismus.
Abseits und am Scheideweg steht Walter Benjamin. Er gehört beiden Gruppen gleichzeitig an und verkörpert wie kein anderer die messianische, libertäre Kultur des deutschsprachigen Judentums.
Diese Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Gruppierungen macht auch deutlich, daß die Wahlverwandtschaft zwischen jüdischem Messianismus und libertärer Utopie nicht frei von Spannungen ist, vielleicht sogar einen Widerspruch enthält. Wir meinen den nationalen und kulturellen jüdischen Partikularismus, der zum Messianismus gehört, und den universalistischen – humanistischen, internationalistischen – Charakter der emanzipatorischen Utopie. In der ersten Gruppierung relativiert die Prädominanz des jüdischen Partikularismus den revolutionären, universalistischen Charakter der Utopie, ohne ihn zum Verschwinden zu bringen.
In der zweiten Gruppierung steht der Universalismus der Utopie im Vordergrund, und der Messianismus verliert seine jüdische Prägung, die jedoch nicht völlig ausgelöscht wird.
Warum hat sich dieses politische und kulturelle Phänomen nur in Mitteleuropa entwickelt und in keinem anderen Teil des europäischen Judentums? Und warum ausgerechnet in diesem historischen Moment? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir die besondere, widersprüchliche Situation der deutschsprachigen jüdischen Intellektuellen in Mitteleuropa untersuchen. Dann werden wir auch verstehen, in welcher Weise der romantische Antikapitalismus von ihnen rezipiert wurde.
1Max Weber: Das antike Judentum. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band II, Tübingen 1923, S. 6.
2Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, Frankfurt am Main 1969, S. 195f, 210, 214.
3Paul Honigsheim: »Soziologie der Mystik«. In: Max Scheler (Hg): Versuche zu einer Soziologie des Wissens, Leipzig 1924, S. 343.
4Gershom Scholem: »Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum«, Judaica I, Frankfurt am Main 1963, S. 41f.
5Ebd., S. 12f. Der utopische Aspekt des Messianismus erscheint bereits im Alten Testament, vgl. z. B. Jesaja 65:17: »Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, daß man der vorigen nicht mehr gedenken wird noch sie zu Herzen nehmen.« Zum messianischen Zeitalter als Wiederherstellung des verlorenen Paradieses (auch in der Literatur der Rabbiner) vgl. Hermann Leberecht Strack, Paul Billerbeck: Kommentar zum Alten Testament. Aus Talmud und Midrasch, München 1924, Band IV, S. 886, 893; Hugo Gressmann: Der Messias, Göttingen 1929, S. 150–163.
6Sigmund Mowinckel: He that Cometh, Oxford 1956, S. 143. Vgl.auch S. 144: »Die Restauration ist eine Rückkehr der Dinge zu ihrer ursprünglichen Vollkommenheit, die letzten Dinge werden die ersten sein.«
7Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Zürich 1957, S. 294–301. Der Begriff Tikkun taucht bei mehreren deutsch-jüdischen Philosophen auf; außer Scholem verwenden ihn Buber, Bloch und indirekt Benjamin.
8Vgl. Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 196.
9Georges Darien: »Anarchistes«. In: L’Ennemie du peuple, Paris 1972, S. 166.
10Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1956, S. 313.
11Gershom Scholem: Die jüdische Mystik …, S. 20. Vgl. auch Gershom Scholem: Sabbatai Zwi. Der mystische Messias, Frankfurt am Main 1992, S. 30f: »Es gibt keine Kontinuität zwischen der gegenwärtigen und der messianischen Zeit … Mit Erlösung war eine Revolution in der Geschichte gemeint.«
12Gershom Scholem: »Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum«, Judaica I, S. 24f. Die Kritik Scholems an der Vernachlässigung der katastrophischen Dimension des jüdischen Messianismus und an seiner Reduzierung auf die Fortschrittsidee wendet sich ausdrücklich gegen Hermann Cohen, indirekt vielleicht aber auch gegen Joseph Klausner, den nationalistischen Messianismusforscher der Hebräischen Universität in Jerusalem, für den die »Quintessenz des jüdischen Messianismus« im »Ideal einer unaufhörlichen geistigen Entwicklung« besteht. (Vgl. Joseph Klausner: The Messianic Idea in Israel from its Beginning to the Completion of the Mishna, London 1956, S. 70f.)
13Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 372.
14Gershom Scholem: »Considérations sur la théologie juive«. In: Fidélité et Utopie. Essais sur le judaisme contemporain, Paris 1978, S. 254, 256. Vgl. auch die englische Übersetzung aus dem Hebräischen On Jews and Judaism in Crisis. Selected Essays, New York 1976.
15Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 190. Zum messianischen, utopischen und apokalyptischen Charakter des Anarchismus äußert sich ebenfalls Eric Hobsbawm in seiner Untersuchung der anarchosyndikalistischen Agrarbewegung in Spanien: »Das beeindruckendste Beispiel einer modernen millenaristischen oder quasi millenaristischen Massenbewegung.« (Eric Hobsbawm: Primitive Rebels, New York 1965, S. 90)
16Vgl. Sigmund Mowinckel: op. cit., S. 261–263, 265.
17Die hebräischen Zitate sind der Ausgabe des Alten Testaments durch die British and Foreign Bible Society, London 1963, entnommen. Die deutschen Zitate stammen aus Die Heilige Schrift, nach der deutschen Übersetzung Martin Luthers (Hg: C. I. Scofield), New York 1967.
18Zu anderen biblischen und nachbiblischen Quellen zu dieser Thematik vgl. Sigmund Mowinckel: op. cit., S. 154.
19Ebd., S. 172; vgl. auch S. 140–148.
20Jakob Taubes: Studien zu Geschichte und System der abendländischen Eschatologie, Bern 1947, S. 18. (Erschien als Dissertation vollständig unter dem Titel: Abendländische Eschatologie.)
21Gershom Scholem: Judaica I, S. 47–50 und Judaica II, Frankfurt am Main 1970, S. 161. An anderer Stelle spricht Scholem vom »messianisch-anarchistischen« Judentum der Sabbatianer. (Judaica III, Frankfurt am Main 1973, S. 196).
22Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, S. 190.
23Vgl. zu diesem Thema Michael Löwy, Robert Sayre: »Figures du romantisme anticapitaliste«. In: L’Homme et la Société, Nr. 69–70; 73–74, Paris, Publications de la Sorbonne, 1984.
KAPITEL 3
Parias, Rebellen und Romantiker:
Versuch einer soziologischen Analyse der jüdischen
Intelligenz in Mitteleuropa
Wie wir bereits gesehen haben, bezeichnet der Begriff Mitteleuropa einen Bereich, der durch die deutsche Sprache eine Einheit bildet: Deutschland und das Kaiserreich Österreich-Ungarn. Die Situation der jüdischen Bevölkerungsschicht dieser Region und vor allem die der jüdischen Intelligenz kann nicht verstanden werden, wenn man die historischen Veränderungen nicht in Rechnung stellt, die Mitteleuropa seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erlebt hat. Die Veränderung der Lebensform im religiösen und kulturellen Bereich muß mit Veränderungen der ökonomischen und der sozialen Struktur in Beziehung gesetzt werden. Den Begriff der »Determinierung« durch wirtschaftliche Verhältnisse wollen wir vermeiden; geeigneter ist Karl Mannheims Formulierung der Seinsgebundenheit. Er meint damit einen Zusammenhang zwischen Kultur und sozio-ökonomischer Realität, vielleicht sogar eine Abhängigkeit der ersten von der zweiten.
Mit anderen Worten: wenn wir die geistigen Inhalte der deutsch-jüdischen Kultur dieser Epoche analysieren wollen, müssen wir zuvor eine soziale Gegebenheit konstatieren, die wesentlich ist: Die rasante Entwicklung des Kapitalismus und die beschleunigte Industrialisierung in Deutschland und Österreich-Ungarn in den letzten 25 Jahren des 19. Jahrhunderts. Zwischen 1870 und 1914 wandelt sich Deutschland von einem halb feudalistischen und rückständigen Land zu einem der wichtigsten Industriestaaten der Welt. Ein Beispiel dürfte genügen, um diese Veränderung zu illustrieren: Im Bereich der Stahlproduktion, einer der typischen modernen Industriezweige, produziert Deutschland, das 1860 noch hinter Frankreich und weit hinter England lag, im Jahre 1910 mehr als beide Länder zusammen! Bank- und Industriekapital verschmelzen miteinander. Mächtige Kartelle entstehen innerhalb der Textil- und Kohleindustrie, in der Eisen und Stahl verarbeitenden Industrie, der chemischen Industrie und der Elektrotechnik.1 Ein vergleichbares Phänomen, sei es auch geringeren Ausmaßes, finden wir vor in Österreich, Ungarn und der Tschechoslowakei. Die rasende Geschwindigkeit, die Brutalität, die Intensität dieser alles niederwälzenden Industrialisierung hat die mitteleuropäischen Gesellschaften erschüttert. Sie hat zur Bildung neuer politischer Systeme beigetragen, zu einer Veränderung der gesamten Werte-Hierarchie. Denken wir nur an den Aufschwung der Bourgeoisie und an die Formierung eines klassenbewußten Proletariats !
Angesichts dieses unaufhaltsamen Siegeszugs des Kapitalismus, der alles erfassenden Entwicklung im Bereich von Wissenschaft, Technik und industrieller Produktion, wo nur noch die Ware zählt und alles im Wert von Waren gemessen wird, entsteht innerhalb verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und vor allem innerhalb der traditionellen Intelligenz eine kulturelle Reaktion, die bald verzweifelte, tragische Züge trägt, bald resignativ wirkt. Wir bezeichnen sie als romantischen Antikapitalismus.
Der romantische Antikapitalismus darf mit Romantik als Stilrichtung von Kunst und Literatur nicht verwechselt werden. Er ist eine Weltanschauung, die eine mehr oder weniger radikale Kritik an der Zivilisation der bürgerlichen Industriegesellschaft formuliert im Namen der sozialen, kulturellen, ethischen oder religiösen Werten einer präkapitalistischen Vergangenheit propagiert.2 Diese Weltanschauung bestimmt um die Jahrhundertwende in Mitteleuropa und vor allem in Deutschland das Lebensgefühl von Kulturschaffenden und Universitätsangehörigen. Die akademischen Würdenträger gehörten im vergangenen Jahrhundert zur einflußreichsten und privilegiertesten sozialen Gruppe.
Die fortschreitende Kapitalisierung der Gesellschaft droht sie in die Situation ohnmächtiger Außenseiter abzudrängen. Sie reagieren, indem sie ihren Abscheu vor einer Gesellschaft bekunden, die ihnen seelenlos erscheint, standardisiert, oberflächlich und materialistisch.3 Eines der wesentlichen Themen ihrer Kritik, die wie eine Obsession bei Schriftstellern, Dichtern, Philosophen und Historikern immer wiederkehrt, ist das der Gegenüberstellung von Kultur und Zivilisation. Während der erste Begriff ein geistiges Klima bezeichnet, das von ethischen, religiösen und ästhetischen Werten geprägt ist, steht der zweite Begriff für eine materialistische und vulgäre Welt, in der der ökonomische Fortschritt regiert. Wenn der Kapitalismus nach der unerbittlich scharfsichtigen Formulierung Max Webers die Entzauberung der Welt bedeutet, so muß der romantische Antikapitalismus vor allem als nostalgischer und verzweifelter Versuch gewertet werden, die Welt aufs neue zu verzaubern. Zu diesem Versuch gehörte im wesentlichen die Rückkehr zur Religion, die Reaktivierung der unterschiedlichsten Formen religiöser Spiritualität.
Von der Weltanschauung des romantischen Antikapitalismus zeugen eine erstaunliche Anzahl künstlerischer Werke dieser Zeit und eine Vielzahl gesellschaftlicher Bewegungen und Gruppierungen: Romane von Thomas Mann und Theodor Storm, Gedichte von Stefan George und Richard Beer-Hoffmann, die Soziologie von Tönnies, Simmel oder Mannheim, die historische Wirtschaftsschule, der Kathedersozialismus (Gustav Schmoller, Adolph Wagner, Lujo Brentano), die Philosophie von Heidegger und Spengler, Jugendbewegung und Wandervogel, der Symbolismus und der Expressionismus. Allen gemeinsam ist die Ablehnung des Kapitalismus zugunsten einer unbestimmten, rückwärtsgewandten Sehnsucht. Was ihren politischen Standpunkt betrifft finden wir die unterschiedlichsten Ansätze: Als romantische Antikapitalisten können sowohl ideologische Verfechter der Reaktion (Möller van der Bruck, Julius Langbehn, Ludwig Klages) als auch revolutionäre Utopisten wie Bloch und Landauer gelten. Was im Bereich literarischen, künstlerischen und geisteswissenschaftlichen Schaffens in Deutschland zu dieser Zeit von Bedeutung ist, konzentriert sich innerhalb des magnetischen Felds dieser Geisteshaltung.
Welche Folgen hatten die ökonomischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen in Mitteleuropa für die jüdische Bevölkerungsschicht? Der Aufschwung des Kapitalismus begünstigt die jüdische Bourgeoisie. Die jüdischen Mitbürger verlassen ihre Ghettos und Dörfer und siedeln sich in den Städten an. Während 1867 noch 70 % aller preußischen Juden in kleinen Dörfern lebten, fällt dieser Prozentsatz 1927 auf 15 %.4 Die gleiche Entwicklung beobachten wir im Kaiserreich Österreich-Ungarn. Hier konzentriert sich die jüdische Bevölkerung in Budapest, Prag und vor allem in Wien. Als Beispiel könnte ich meine eigene Familie anführen: sowohl meine Großeltern väterlicherseits, die aus der Tschechoslowakei stammten, als auch die von seiten der Mutter (sie kamen aus Ungarn) haben ihre Dörfer gegen Ende des 19. Jahrhunderts verlassen, um sich in der Hauptstadt des Kaiserreichs niederzulassen. In den Städten etablieren sich ein jüdisches Großbürgertum und eine jüdische Mittelschicht, die ihren Einfluß im Bereich von Handel, Industrie, Bankwesen und Finanzen ständig vergrößern. Im Zuge ihres stetig wachsenden Reichtums und nach Aufhebung der alten bürgerlichen und politischen Restriktionen (in Deutschland 1869–1871) kennt diese jüdische Mittelschicht nur einen Ehrgeiz: die Assimilation, die Integration ins deutsche Volk. Ein Brief, den der Industrielle und spätere Minister der Weimarer Republik, Walther Rathenau, 1916 geschrieben hat, spiegelt diese Einstellung in charakteristischer Weise wieder: »Ich habe und kenne kein anderes Blut als deutsches, keinen anderen Stamm, kein anderes Volk als deutsches. Vertreibt man mich von meinem deutschen Boden, so bleibe ich deutsch, und es ändert sich nichts … Meine Vorfahren und ich selbst haben sich von deutschem Boden und deutschem Geist genährt … Mein Vater und ich haben keinen Gedanken gehabt, der nicht für Deutschland und deutsch war …«5
Natürlich stellt dieses Beispiel fast einen Grenzfall dar, aber selbst für diejenigen, die sich weiterhin als Juden definierten, war die deutsche Kultur die einzig wertvolle. Vom Judentum blieben nur einige rituelle Überbleibsel wie der Besuch in der Synagoge zum Jom-Kippur-Fest und der alttestamentliche Monotheismus. Als ideale, beispielhafte Weisheitslehrer galten nicht mehr Moses oder Salomon, sondern Lessing und Goethe, Schiller und Kant. Vor allem Schiller wurde regelrecht verehrt. Seine Gesammelten Werke standen in der Bibliothek jedes deutschen oder österreichischen Juden, der etwas auf sich hielt. (Als meine Eltern Wien 1938 verlassen mußten, haben sie ihre Schiller-Ausgabe mitgenommen …) Die konsequentesten Verfechter der Assimilation waren in Deutschland die Mitglieder des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Zu diesem sozialen Milieu gehörte auch die Familie Gershom Scholems. Er schreibt dazu: »Die Bildung und Lektüre lagen ausschließlich im deutschen Kulturbereich, und ein Ausbruch aus ihm, besonders gar ins Jüdische zurück, begegnete in den meisten Fällen starken Widerständen. Die Assimilation ging sehr weit. Es wurde immer wieder betont, wenn auch in verschiedenen Nuancen, daß man dem deutschen Volk zugehöre und darin nichts weiter als eine Konfession bilde, wie andere auch. Das war um so paradoxer, als ja gerade das religiöse Moment, das angeblich den einzigen Unterscheidungspunkt bildete, in den meisten Fällen gar nicht vorhanden war und auf die Lebensführung ohne Einfluß blieb.«6
Dennoch wäre es falsch, in diesem Hunger nach Akkulturation nur simple Karrieresucht zu sehen. Auch ehrliche und echte Überzeugtheit spielte eine Rolle. Sogar ein zutiefst religiöser Jude wie Franz Rosenzweig konnte 1923, kurz nach der Veröffentlichung seines großen theologischen Werkes Der Stern der Erlösung noch schreiben: »Ich glaube, die Verjudung hat aus mir keinen schlechteren, sondern einen besseren Deutschen gemacht … Und der Stern wird wohl einmal und mit Recht als ein Geschenk, das der deutsche Geist seiner jüdischen Enklave verdankt, angesehen werden.«7
Bis zu einem gewissen Punkt war diese Assimilation möglich, aber es gab eine gesellschaftliche Schranke, die nicht zu überschreiten war. Moritz Goldstein bringt das 1912 in einem Text (»Deutsch-Jüdischer Parnass«) zum Ausdruck, der an die Klage eines enttäuschten Liebenden gemahnt: »Machen wir uns doch nichts vor: wir Juden, unter uns, mögen den Eindruck haben, als sprächen wir als Deutsche zu Deutschen – wir haben den Eindruck. Aber mögen wir uns immerhin ganz deutsch fühlen, die andern fühlen uns ganz undeutsch … Sind wir nicht aufgewachsen mit dem deutschen Märchen? … Lebt nicht auch in uns der deutsche Wald, dürfen nicht auch wir seine Elfen und Gnomen erblicken …?«8
Die Assimilation hatte auch da ihre Grenzen, wo die jüdischen Mitbürger von einer ganzen Reihe gesellschaftlicher Tätigkeiten ausgeschlossen blieben. Der Zugang zur Verwaltung, zur Armee, zum Gerichtswesen und zum öffentlichen Schul- und Erziehungswesen blieb ihnen verwehrt. Seit Beginn des Jahres 1890 ließ sich sogar ein wachsender Antisemitismus beobachten; er hatte seine Ideologen, seine Aktivisten, seine Presse. Aus all diesen Gründen kann von einer wirklichen Integration der jüdischen Bevölkerung in Mitteleuropa nicht die Rede sein. Auf sie treffen einige der wesentlichen Bestimmungen Max Webers in seiner klassisch gewordenen Definition des Paria-Volkes zu: »Eine durch (ursprünglich) magische, tabuistische und mit rituellen Schranken der Tisch- und Konnubialvergemeinschaftung nach außen einerseits, durch politische und sozial negative Privilegierung, verbunden mit weitgehender ökonomischer Sondergebahrung andererseits, zu einer erblichen Sondergemeinschaft zusammengeschlossene Gruppe ohne autonomen politischen Verband.«9 Natürlich läßt sich die damalige Situation der Juden mit der bestimmter Kasten in Indien oder der der jüdischen Ghettobewohner im Mittelalter nicht vergleichen. Wirtschaftliche Sicherheit und eine zumindest formelle Gleichheit der Bürgerrechte waren seit der Emanzipation gewährleistet. Aber auf gesellschaftlicher Ebene hatte der Jude nicht aufgehört, Paria zu sein. Und er legte sich, um mit Hannah Arendt zu sprechen, Rechenschaft über die Tatsache ab, »how treacherous the promise of equality (is) which assimilation has held out.«10
Als Königsweg zum Erwerb gesellschaftlicher Würden und Ehren galt in Deutschland wie im übrigen Mitteleuropa die Universitätskarriere. Wie der Neukantianer Friedrich Paulsen schreibt, bildeten die Bürger mit universitärer Ausbildung in Deutschland eine Art von intellektueller Aristokratie. Das Nichtvorhandensein eines akademischen Titels hingegen stellte einen Makel dar, den weder Reichtum noch hohe Geburt völlig ausgleichen konnten.11 Das innere Gesetz der kulturellen Assimilation und das Bedürfnis, auf der sozialen Stufenleiter nach oben zu kommen, treiben das jüdische Bürgertum vor allem seit dem Ende des 19. Jahrhunderts dazu, seine Söhne zur Universität zu schicken. »Wie die meisten deutschen Kaufleute, wollten auch die jüdischen höher hinaus. Die Auszeichnungen durch Ehrenämter, Titel und Orden, die ihnen trotz des Antisemitismus nicht ganz vorenthalten blieben, genügten nicht; ihre Söhne und Schwiegersöhne sollten mehr gelten als sie selber. Die Laufbahn des Offiziers und höheren Beamten, das Ziel des christlichen jungen Mannes, war dem jüdischen verschlossen, wenn er es sich nicht durch die Taufe erschloß, das akademische Studium offen.«12
So kommt man seit 1895 zu einem Anteil von jüdischen Studenten an den deutschen Universitäten, der 10 % beträgt, das sind zehnmal soviel, wie der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung ausmacht (1,05 %).13 Dieser massive Bildungsanstieg der jüdischen Jugend aus bürgerlichem Milieu führt um die Jahrhundertwende schnell zur Formation einer neuen sozialen Kategorie: der jüdischen Intelligenz.
Natürlich findet man jüdische Intellektuelle deutscher Muttersprache seit dem Ende des 18. Jahrhunderts (Moses Mendelssohn), aber seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ist das Phänomen allgemein zu beobachten und wird zu einem neuen gesellschaftlichen Faktum. Diese jüdischen Intellektuellen sind ein typisches Beispiel für die sozial freischwebende Intelligenz, von der Mannheim spricht. Sie sind »deklassiert«, instabil, ohne feste soziale Einbindung. Ihre Lebensbedingungen sind ungeheuer widersprüchlich: tief verwurzelt in der deutschen Kultur, bleiben sie dennoch Außenseiter, Kosmopoliten, die ohne ihre Muttersprache nicht leben können, ohne innere Beziehung und im Widerspruch zu ihren geschäftstüchtigen, bürgerlichen Elternhäusern. Von der traditionellen, ländlichen Adelsschicht werden sie verachtet und haben keine Chance, in die gesellschaftlichen Kreise aufgenommen zu werden, wo ihr natürlicher Platz wäre (eine Karriere als Universitätsprofessor). Da sie ideologisch verfügbar sind, erliegen sie rasch der Faszination und fühlen sich von zwei entgegengesetzten Geisteshaltungen gleichermaßen angezogen. Thomas Mann hat die Eckpfeiler des Spektrums intellektueller Auseinandersetzungen im Deutschland jener Zeit im Zauberberg personifiziert: »Settembrini« verkörpert den liberalen Menschenfreund, Demokraten und Republikaner und »Naphta« den romantischen, konservativen Revolutionär.
Für viele junge jüdische Intellektuelle wird der Rationalismus, der Glaube an die Evolution des Fortschritts im Sinne der Aufklärung und die Philosophie der Neukantianer zum Anknüpfungspunkt. Diese Position steht nicht im Widerspruch zu einer Art von »verdünntem« Judentum, oft reduziert auf bloße monotheistische Ethik im Sinne von Hermann Cohen. Im Rahmen dieser Weltanschauung sind mehrere Standpunkte möglich. Das geht vom gemäßigten Liberalismus, der die bevorzugte Ideologie der jüdischen Bourgeoisie darstellt, bis zur Anhängerschaft an die Sozialdemokratie (Eduard Bernstein), an den Marxismus (Max Adler, Otto Bauer und die Austro-Marxisten) und sogar an den Kommunismus (Paul Levi, Ruth Fischer, Paul Frölich, August Thalheimer). Die vorherrschende Strömung im Geistesleben Mitteleuropas um die Jahrhundertwende aber ist der romantische Antikapitalismus. Es ist demnach unvermeidlich, daß ein großer Teil der neuen jüdischen Intelligenz, die ihre Universitätsausbildung um die Jahrhundertwende erhalten hat, von der romantischen Kritik an der industriellen Zivilisation wie »Naphta!« fasziniert ist. Gierig machen sie sich diese nostalgische, antibürgerliche Weltanschauung zu eigen. Im universitären Milieu gibt es ohnehin keine andere, vor allem nicht in den Geisteswissenschaften, auf die sich das Gros der jüdischen Studenten stürzt. Was daraus folgt, ist die Weigerung, in das Geschäft des Vaters einzutreten, die Revolte gegen das bürgerliche Familienmilieu und das heftige Streben nach einer »intellektuellen Lebensweise«.14 Nun kommt es zum Generationskonflikt, der von so vielen jüdischen Intellektuellen in ihrer Autobiographie beschrieben wird: dem Bruch der jungen, auf Kultur, Spiritualität, Religion und Kunst versessenen Antibourgeois mit ihren Eltern, die als Unternehmer, Geschäftsleute oder Bankiers erfolgreich sind und sich in Sachen Religion eines gemäßigten Liberalismus befleißigen, der sie nicht daran hindert, gute deutsche Patrioten zu sein.15 Leo Löwenthal, Literatursoziologe der Frankfurter Schule, schildert das Gefühl, das viele Intellektuelle seiner Generation beherrschte, in einem Interview: »Mein Elterhaus war sozusagen die Symbolisierung all dessen, was ich nicht wollte – schlechter Liberalismus, schlechte Aufklärung und doppelte Moral.«16
Mannheim verwendet den Begriff Generationszusammenhang, um die enge Bindung zu bezeichnen, die aus der Teilhabe an einem gemeinsamen geschichtlichen und gesellschaftlichen Schicksal einer Generation erwächst.17 Tatsächlich ist der Bruch zwischen den Generationen kein biologisches Faktum. Nur unter ganz bestimmten sozialen Bedingungen entsteht ein Abstand oder sogar eine Kluft zwischen den Generationen. Bei der neuen jüdischen Intelligenz, die in den letzten 25 Jahren des 19. Jahrhunderts geboren wurde, läßt sich solch ein Generationszusammenhang nachweisen. Er betrifft die Gruppe von Intellektuellen, der diese Untersuchung gewidmet ist. Sie alle sind etwa in den letzten zwanzig Jahren des vorigen Jahrhunderts geboren: Martin Buber 1878, Franz Kafka 1883, Ernst Bloch 1885, Georg Lukács 1885, Franz Rosenzweig 1886, Walter Benjamin 1892, Ernst Toller 1893, Gershom Scholem 1897, Erich Fromm 1900, Leo Löwenthal 1900. Allerdings muß ergänzt werden, daß die oben skizzierte soziologische Analyse lediglich Aufschluß gibt über die Chancen einer bestimmten Anzahl dieser jüdischen Intellektuellen, den romantischen Antikapitalismus zu vertreten. Sie kann nicht erklären, warum gerade diese Wahl von diesem oder jenem Menschen getroffen worden ist. Zu diesem Zwecke müßte eine Reihe von anderen Variablen geklärt werden, zum Beispiel solche psychologischer Natur. Das Beispiel der Familie Scholem mag hier aufschlußreich sein: Einer der Söhne, Reinhold, wird deutscher Nationalist, und bleibt es sogar nach 1945 …; der andere, Werner, betätigt sich als kommunistischer Abgeordneter, und den dritten, Gerhard, kennen wir als Zionisten und Historiker der Kabbala … Das soziale Milieu allein kann eine derartige Unterschiedlichkeit der Lebensläufe ganz offensichtlich nicht erklären!
Für den jüdischen Intellektuellen der »romantischen Generation« der Jahre 1880, der manchmal die halböffentlichen Kreise frequentierte, in denen der romantische Antikapitalismus erstmals in Begriffe gefaßt wurde (Lukács und Bloch besuchten den Kreis um Max Weber in Heidelberg), stellte sich sofort ein ganz bestimmtes Problem. Der Traum von der Vergangenheit, das wesentliche der romantischen Position, wurde von Assoziationen genährt, die über deutsches Nationalbewußtsein hinaus eine gemeinsame Geschichte und Religion, vielleicht sogar die Zugehörigkeit zur Aristokratie, voraussetzten.
Wie aber sah die Beziehung eines Juden zum Germanentum der Vorfahren aus, zum mittelalterlichen Adel, zum protestantischen oder katholischen Christentum? Von diesem allen Deutschen gemeinsamen kulturellen Erbe war er völlig ausgeschlossen. Es ist richtig, daß bestimmten jüdischen Intellektuellen der Sprung gelang, vor allem die Mitglieder des Kreises um Stefan George waren hier sehr erfindungsreich. Rudolf Borchardt wandelte sich zum deutschen Nationalisten; Friedrich Gundolf und Karl Wolfskehl zu konservativen Germanisten, Hans Ehrenberg zum protestantischen Theologen. Aber derart extreme Fälle kamen selten vor, sie lassen auf eine einigermaßen künstliche, selbstentfremdende Entwicklung und eine völlige Verneinung der jüdischen Identität schließen. Eine nicht zu überbietende Manifestation dieser Haltung liegt uns vor im Werk jüdischer Antisemiten wie Otto Weininger und Theodor Lessing. Für die anderen und damit für die Mehrzahl gab es im Rahmen der Neuromantik nur zwei mögliche Auswege: entweder die Rückkehr zu den eigenen historischen Wurzeln, zur eigenen Kultur und zur Nationalität und Religion der eigenen Ahnen, oder der Glaube an eine romantische und revolutionäre Utopie, die universellen Charakter hatte. Es ist nicht erstaunlich, daß eine Anzahl jüdischer Denker deutscher Sprache, die als Anhänger des romantischen Antikapitalismus gelten können, beide Wege gleichzeitig wählten. Sie entdeckten die jüdische Religion für sich neu, vor allem die restaurativen und utopischen Tendenzen des Messianismus, und sympathisierten bzw. identifizierten sich sogar mit revolutionärem, utopischem Gedankengut, das in gleicher Weise von Sehnsucht nach der Vergangenheit erfüllt war. Wie wir oben bereits gezeigt haben, entsprachen beide Tendenzen in struktureller Hinsicht einander.
Sehen wir uns die Wege näher an, die sie gingen. In der religiösen Atmosphäre der Neuromantik revoltieren viele jüdische Intellektuelle gegen die Assimilation ihrer Eltern und versuchen, die religiöse Kultur der Vergangenheit vor dem Vergessen zu bewahren. So vollzieht sich eine De-Säkularisation, eine (partielle) Dissimilation, eine kulturelle und religiöse Anamnese, eine »An-Akkulturation«.18 Es gab Kreise und Vereinigungen, die hier als treibende Kräfte wirkten: der Club Bar Kochba in Prag, zu dessen Mitgliedern Hugo Bergmann, Hans Kohn und Max Brod zählten, der Kreis um den Rabbiner Nobel in Frankfurt (Siegfried Kracauer, Erich Fromm, Leo Löwenthal, Ernst Simon), das Freie Jüdische Lehrhaus mit Franz Rosenzweig, Gerhard Scholem, Nahum Glatzer, Margarete Süssmann, die Zeitschrift Martin Bubers Der Jude usw. Aber diese »An-Akkulturation« erfaßt noch weitaus breitere Bereiche der Gesellschaft. Eine Vielzahl der von der Neuromantik beeinflußten jüdischen Intellektuellen sind von ihr betroffen. Sie trägt manchmal nationale Züge, vor allem durch den Zionismus, aber ihr vorherrschendes Charakteristikum ist die Hinwendung zur Religiosität. Die Auswirkungen der Assimilation gehen so tief, daß es äußerst schwierig ist, mit dem deutschen Nationalbewußtsein zu brechen. Im Rahmen des fortgeschrittenen Assimilierungsprozesses in Mitteleuropa verbleibt die Religion als einzig legitimes Merkmal für die »deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens«. Demnach ist es verständlich, daß sie schnell zum wichtigsten Ausdrucksmittel der kulturellen Rückbesinnung wird.