Kitabı oku: «Erlösung und Utopie», sayfa 6

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Dieses Zitat macht die Motive der osteuropäischen revolutionären Intelligenz deutlich und zeigt, daß sich aus ihrer Mitte niemals eine geistige Strömung hätte entwickeln können, die jener in Mitteleuropa vergleichbar war.

Der einzige jüdische Intellektuelle des Zarenreichs, dem Religion und Spiritualität am Herzen liegen, konvertiert zum orthodoxen Christentum: Nikolai Maximowitsch Minski (N. M. Vilenkin) engagiert sich in der mächtigen Bewegung religiöser und revolutionärer Renaissance, die sich in St. Petersburg um die Jahrhundertwende um D. S. Mereschkowski, Zinaida Gippus, Nikolai Berdjajew und S. N. Bulgakow entwickelt hat. (Die »Konstrukteure Gottes« der bolschewistischen Partei, Bogdanow und Lunatscharski, sind im Zusammenhang mit dieser religiösen Renaissance ebenfalls von Bedeutung.)

Als Mitglied der Religiös-Philosophischen Vereinigung in St. Petersburg und der von Gorki herausgegebenen sozialistischen Revue Nowaja Shisn (Neues Leben) wird Minski stark beeinflußt vom Glaubensverständnis der russisch-orthodoxen Christen und scheint jede Verbindung zum Judentum abgebrochen zu haben.35

Gibt es bei den revolutionären Juden des Ostens keinerlei Ausnahme von der Regel – wie Bernard Lazare in Westeuropa? Wahrscheinlich schon, aber soweit meine Forschungen bisher gediehen sind, habe ich sie noch nicht gefunden …36

1Vgl. Pierre Guillen: L’Allemagne de 1848 à nos jours, Paris 1970, S. 58ff.

2Zum Begriff, seiner soziologischen Bedeutung und seiner verschiedenen Erscheinungsformen verweise ich auf meine Publikationen: Marxisme et Romantisme révolutionnaire. Essais sur Lukács et Rosa Luxemburg, Paris, Ed. du Sycomore, 1979; Pour une sociologie des intellectuels révolutionnaires, Paris, PUF, 1976.

3Vgl. Fritz Ringer: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1933, Stuttgart 1983, S. 12f.

4Vgl. Gershom Scholem: »Zur Sozialpsychologie der Juden in Deutschland 1900–1933«, Judaica IV, Frankfurt am Main 1984, S. 232.

5Vgl. Walther Rathenau: Ein preussischer Europäer. Briefe, (Hg: M. von Eynern), Berlin 1955, S. 146.

6Vgl. Gershom Scholem: »Zur Sozialpsychologie …«, S. 239.

7Vgl. Franz Rosenzweig: Briefe, Berlin 1935, S. 474.

8Vgl. Moritz Goldstein: Deutsch-jüdischer Parnaß, Der Kunstwart (Hg: Ferdinand Avenarius), 25. Jahrgang, 2. Viertel, Erstes Märzheft 1912, Heft 11, S. 286, 291.

9Vgl. Max Weber: Grundriß der Sozialökonomik, III. Abt.: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1947, S. 282.

10Vgl. Hannah Arendt: The Jew as Pariah: Jewish Identity and Politics in the Modern Age, New York 1978, S. 68.

11Vgl. Friedrich Paulsen: Die deutschen Universitäten und das Universitätsstudium, Berlin 1902, S. 149f.

12Vgl. Ismar Elbogen: Die Geschichte der Juden in Deutschland, Berlin 1935, S. 302f.

13Vgl. Ismar Elbogen: op. cit., S. 303 und Erich Rosenthal: Trends of the Jewish Population in Germany (1910–1939), Jewish Social Studies, VI, Juni 1944, S. 257.

14Vgl. das noch unveröffentlichte Manuskript des ungarischen Wissenschaftlers Zador Tordai: Wie kann man in Europa Jude sein? Walter Benjamin, Budapest 1979, S. 35, 48.

15Siehe die Analyse dieses Phänomens in dem vor kurzem veröffentlichten Werk von Frederic Grunfeld über die deutsch-jüdische Kultur: »But parents and grand parents were almost always unfathomable to the German – or Austrian – Jewish intelligentsia: the gulf between father Mahler’s small-town grog shop and his son’s cosmic Resurrection Symphony hardly seemed bridgeable in a single generation … The shoe-factory generation regularly produced and nurtured a brood of scribes, artists, intellectuals. Else Lasker-Schüler was the daughter of an investment banker … Walter Benjamin of an antique dealer … Stefan Zweig of a textile manufacturer, Franz Kafka of a haberdashery wholesaler … Often this pattern involved the sons in a double revolt – against the father’s Jewish-bourgeois values, and against the system of obedience training of German society as a whole.« (Frederic V. Grunfeld: Prophets without Honour. A Background to Freud, Kafka, Einstein and Their World, New York, McGraw-Hill, 1980, S. 19, 28f.)

16Leo Löwenthal: Wir haben nie im Leben diesen Ruhm erwartet. In: Mathias Greffrath (Hg): Die Zerstörung einer Zukunft. Gespräche mit emigrierten Sozialwissenschaftlern, Reinbek bei Hamburg 1979, S. 199.

17Vgl. Karl Mannheim: Das Problem der Generationen, Wissenssoziologie, Neuwied 1964, S. 542.

18Wir verwenden den Neologismus »An-Akkulturation«, um die Umkehrung des Vorgangs der Akkulturation zu bezeichnen, die Rückkehr einer Gruppe oder eines Individuums zu seiner ursprünglichen Kultur.

19Vgl. Martin Buber: Über Jakob Böhme, Wiener Rundschau, Band V, Nr. 12, 1901.

20Vgl. Hans-Helmuth Knütter: Die Juden und die deutsche Linke in der Weimarer Republik (1918–1933), Düsseldorf 1971, S. 37: »… daß ein großer Teil der linken Intellektuellen Juden, fast alle linken Juden Intellektuelle sind.«

21Vgl. Hannah Arendt: The Jew as Pariah, S.144. Zum Gegensatz zwischen »Parvenu« und »Rebell« siehe Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, München 1959, S. 188–200.

22Vgl. Elisabeth Lenk: Indiscretions of the Literary Beast: Pariah Consciousness of Women Writers since Romanticism. New German Critique, Nr. 27, Frühling 1982, S. 106f, 113f.

23Vgl. Robert Michels: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, Stuttgart 1957, S. 254. Das Argument von Michels ist folgendes: »In weiten Kreisen des deutschen Volkes existiert noch Judenhaß und Judenhatz, lebt noch das abstruse Gefühl der Judenverachtung. In der Karriere sah sich bis vor kurzem der Jude benachteiligt, vom Richter- und Offiziersstand, von der Regierungslaufbahn so gut wie ausgeschlossen. Dazu gärt im Judentum überall noch ein eingewurzeltes Gefühl sittlicher Empörung über das seinem Volksstamm zugefügte Unrecht, das sich, bei dem idealistischen Fonds, der diese von Extremen beherrschte Rasse beseelt, leichter als beim Germanentum in die reine Empfindung des Abscheus vor allem Unrecht umsetzt und zur Höhe eines revolutionären Dranges nach großangelegter Weltverbesserung erhebt …«, ebd.

24Vgl. Victor Karady und Istvan Kameny: Les Juifs dans la structure des classes en Hongrie, Actes de la Recherche en Sciences sociales, Nr. 22, Juni 1978, S. 59.

25Vgl. Walter Lacqueur: Weimar. Die Kultur der Republik, Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1977, S. 99.

26Natürlich findet man (atheistische) jüdische Marxisten in den Rängen der Parti communiste français und eine Generation später auch bei den »linksradikalen« Strömungen der 60er Jahre. Fast immer handelt es sich um Juden aus Ost- oder Mitteleuropa oder um deren Nachkommen.

27Vgl. Léopold H. Haimson: The Russian Marxists and the Origins of Bolschevism, Boston 1955, S. 60.

28Vgl. die Einleitung von Rachel Ertel zu Moïse Kulback: Lundi, Lausanne 1982. Diese Haltung findet sich sehr viel später wieder bei Isaac Bashevis Singer: Satan in Goraj aus dem Jahre 1958. (Reinbek bei Hamburg 1969) Er beschreibt die Schrecken in einem polnischen Schtetl, die eine Folge des fanatischen Deliriums von Schülern des Sabbatai Zwi waren.

29Vgl. Vladimir Medem: The Youth of a Bundist. In: Lucy S. Dawidowicz: The Golden Tradition. Jewish Life and Thought in Eastern Europe, Boston 1967, S. 432.

30Vgl. Ezra Mendelsohn: Worker Opposition in the Russian Jewish Socialist Movement, from the 1890’s to 1903, International Review of History, Band X, Teil 2, 1965, S. 270.

31Vgl. Rachel Ertel: Le Shtetl. La bourgade juive de Pologne, Paris 1982, S. 148, 151.

32Vgl. Lucy S. Dawidowicz: Introduction: The World of Eastern European Jewry, The Golden Tradition, S. 81.

33Vgl. Rachel Ertel: Le Shtetl, S. 292f.

34Vgl. Isaac Deutscher: Der nichtjüdische Jude. In ders.: Die ungelöste Judenfrage, Berlin 1977, S. 24f.

35Vgl. die bemerkenswerte Arbeit von Jutta Scherrer: Die Petersburger Religiös-Philosophischen Vereinigungen, Wiesbaden 1973, S. 44, 272.

36Man könnte Eugen Leviné als Ausnahme betrachten, aber er ist zu sehr von der deutschen Kultur durchdrungen – die elterliche deutsche Erziehung, das Studium in Heidelberg etc. –, als daß er als wirklich repräsentativ für die russische jüdische Intelligenz betrachtet werden könnte.

KAPITEL 4
Religiöse Juden mit anarchistischen Tendenzen: Martin Buber, Franz Rosenzweig, Gershom Scholem, Leo Löwenthal

Von den romantischen jüdischen Rebellen um die Jahrhundertwende wenden wir uns jetzt einer Gruppe von Denkern zu, bei denen das jüdische Element dominiert, sowohl in nationaler und kultureller als auch in religiöser Hinsicht. Was den Zionismus betrifft, sind ihre Positionen allerdings unterschiedlich. Rosenzweig lehnt ihn ab und Löwenthal verwirft ihn ziemlich schnell, während Buber und Scholem sich der Bewegung anschließen, aber ihre antietatistische Position bringt sie in die Rolle von Außenseitern. Die tiefe, dem Messianismus verpflichtete Gläubigkeit dieser Autoren hat wenig gemein mit den Riten der Orthodoxie und den traditionellen Gesetzesvorschriften, und ihr Streben nach nationaler jüdischer Erneuerung hat nichts zu tun mit dem Nationalismus. Ihr Entwurf des Judentums ist stark geprägt von der deutschen Kultur. Alle bezeugen in unterschiedlichen Abstufungen utopische Zielvorstellungen vom Typ des freiheitlichen Sozialismus, mehr oder weniger dem Anarchismus nahe, den sie – direkt oder indirekt, explizit formuliert oder unausgesprochen – mit ihrem Messiasglauben in Verbindung bringen. Die meisten von ihnen kritisieren den Marxismus, betrachten ihn als zu zentralistisch oder zu sehr in Identifikation mit der industrialisierten Zivilisation – mit Ausnahme Leo Löwenthals. Sie sympathisieren mit den revolutionären Bewegungen, die Europa zwischen 1917 und 1923 erschüttern, werden aber selbst nicht unmittelbar aktiv. Der wichtigste Brennpunkt ihrer Bewegung ist die Zeitschrift Der Jude, die Martin Buber von 1916 bis 1924 geleitet hat.

Über diese vier Autoren hinaus gibt es viele andere Intellektuelle, die hier noch erwähnenswert sind: Hans Kohn, Rudolf Kayser, Erich Unger usw. Man könnte auch den jungen Erich Fromm der Jahre 1921 bis 1926 anführen, aber sein veröffentlichtes Werk – seine erste Veröffentlichung stammt aus dem Jahre 1927 – ist ganz dem entgegengesetzten Pol verpflichtet, atheistisch-religiös und marxistisch-libertär. Er liefert ein Beispiel für die Möglichkeit eines Übergangs von einer Option zur anderen im Spektrum des revolutionären Messianismus; die Grenzen existieren, sind aber alles andere als undurchdringlich.

Der wahrscheinlich wichtigste und repräsentativste Vertreter eines religiösen Sozialismus im Bereich der deutsch-jüdischen Kultur ist Martin Buber. Seine Wiederentdeckung der chassidischen Legenden in den Jahren 1906 bis 1908 und seine berühmten Vorträge über das Judentum in den Jahren 1909 bis 1911 im Bar-Kochba-Kreis in Prag haben die moderne jüdische Spiritualität tiefgreifend erneuert. Die Ausstrahlung sowohl seiner politischen als auch seiner religiösen Ideen hat eine ganze Generation von jüdischen Intellektuellen entscheidend geprägt, von Prag bis nach Wien und von Berlin bis Budapest. Das von Buber präsentierte Bild des Judentums war völlig verschieden sowohl vom Liberalismus der assimilierten Juden (und von der Wissenschaft des Judentums) als auch von der Orthodoxie der Rabbiner. Es war eine romantische und mystische Religiosität, erfüllt von Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen und von der Sehnsucht nach Gemeinschaft. Eng befreundet mit Franz Rosenzweig, mit dem er die Bibel ins Deutsche neu übersetzt, und mit dem libertären Philosophen Gustav Landauer, dessen Testamentsvollstrecker er sein werden sollte, spielt er auch eine Rolle in der geistigen Entwicklung Gershom Scholems und vieler anderer junger Zionisten, die der Bewegung Hapoel Hazair angehören. Tatsächlich gibt es wenige deutschsprachige jüdische Denker dieser Epoche, die in diesem oder jenem Moment ihres Lebens von den Schriften Martin Bubers nicht beeinflußt wurden.

Erzogen von einem Großvater, der hebräische Studien betreibt, und Anhänger der Haskalan, sucht Buber während seiner Jugend Distanz zur jüdischen Religion. Er studiert in Wien, Leipzig und Berlin. Dort besucht er die Veranstaltungen von Simmel und Dilthey. Er ist fasziniert von den Strömungen der Neuromantik und von der Renaissance der religiösen Spiritualität. Die Themen seiner ersten Arbeiten haben mit dem Judentum nichts zu tun, behandeln vielmehr österreichische Schriftsteller wie Peter Altenberg und Hugo von Hofmannsthal, den Mystiker Jakob Böhme (Wiener Rundschau, Vol. V, Nr. 12, 1901) und Kultur und Zivilisation (Kunstwart, Vol. XIV, 1901). Er engagiert sich früh in der zionistischen Bewegung, gerät aber schnell in Konflikt mit Theodor Herzl, dessen etatistische Diplomatie er ablehnt, und zieht sich gegen 1902 von politischen Aktivitäten zurück, um sich eher dem Studium der Religion zu widmen. Charakteristisch für diese Generation ist Bubers Interesse an der christlichen Mystik. Seine 1904 abgeschlossene Doktorarbeit trägt den Titel: »Beiträge zur Geschichte des Individuationsproblems. Nicolaus Cusanus und Jakob Böhme.« Erst später wird er sich mit der Mystik des Judentums beschäftigen. Sein erstes Buch über den Chassidismus, Die Geschichten des Rabbi Nachmann, stammt aus dem Jahre 1906.

Seine Schriften, vor allem bis zum Jahre 1920, sind erfüllt von Anspielungen auf die Philosophie der deutschen Romantik: Görres, Novalis, Franz von Baader usw. Aber enge Beziehung aufnehmen wird er vor allem zur Philosophie Nietzsches und zur neuromantischen Soziologie. Im Rahmen seiner Sammlung sozialpsychologischer Monographien Die Gesellschaft wird er 1906 bis 1912 Schriften von Tönnies, Simmel und Sombart veröffentlichen, und sein Begriff des Zwischenmenschlichen steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der neuromantischen Thematik, vor allem ihrer Sehnsucht nach Gemeinschaft.

Im Jahre 1900 tritt Buber in Berlin einem neuromantischen Arbeitskreis bei, Die neue Gemeinschaft, wo er die Bekanntschaft Gustav Landauers macht und einen Vortrag hält, der den Titel trägt: »Die neue und die alte Gemeinschaft.« Dieser Text bleibt lange Zeit unveröffentlicht und wird erst zehn Jahre nach Bubers Tod erscheinen, aber er enthält im Keim bereits einige der wesentlichen Leitgedanken, denen er sein ganzes Leben widmen wird. Dieser erste Auftritt Bubers in der Öffentlichkeit zeigt bereits seine Originalität als einen der großen Erneuerer des Gemeinschaftsgedankens im 20. Jahrhundert. Für ihn ist es weder möglich noch wünschenswert, zur traditionellen Gemeinschaft zurückzukehren. Vielmehr handelt es sich darum, für eine Gemeinschaft neuen Typs zu kämpfen, keine vorgesellschaftliche wie die von Tönnies beschriebene, sondern eine nachgesellschaftliche. Der entscheidende Unterschied zwischen der alten und der neuen Organisation der Gemeinschaft ist der, daß die erste auf der Blutsverwandtschaft begründet war, während die zweite das Resultat einer Wahlverwandtschaft ist, das heißt Ausdruck einer freien Wahl. Diese Art von Gemeinschaft kennt keine religiösen, regionalen oder nationalen Grenzen. In der kosmopolitischen und mystischen Formulierung Gustav Landauers, die Buber zitiert, strebt sie nach »der Gemeinschaft, die die älteste und die universellste ist: die Gemeinschaft mit der menschlichen Gattung und dem Kosmos«. Obwohl er also jede rückwärtsgerichtete Utopie ablehnt, bleibt der neuromantische Bezug auf die traditionelle Form der Gemeinschaft im Denken Bubers dennoch präsent. Einerseits als Traum, »das Ameisengewimmel der Städte« zu verlassen, um die neue Welt auf dem »starken, jungfräulichen Boden« des Landes zu erbauen, näher der Natur und der Erde; andererseits in der Idee, daß die neue Gemeinschaft in anderer Form und auf höherer Ebene die Wiederkehr der Lebenseinheit des Urmenschen bedeutet, die durch die Sklaverei der modernen Gesellschaft zerstört und zerschlagen wurde.1

Diese Themen wird Buber in einem 1919 veröffentlichten Text mit dem Titel Gemeinschaft wieder aufnehmen und weiterentwickeln. Unter direkter Bezugnahme auf Tönnies stellt er die organische und natürliche Gemeinschaft der Vergangenheit der modernen, künstlichen und mechanischen Gesellschaft gegenüber. Dennoch tritt er nicht ein für eine Restaurierung der Vergangenheit: »Gewiß, wir können nicht hinter die mechanisierte Gesellschaft zurückgehen, aber wir können über sie hinausgehen, zu einer neuen Organik.« Darunter versteht er eine Gemeinschaft, die nicht mehr aus primitivem Wachstum resultiert, sondern aus bewußtem Wirken für die Befestigung des gemeinschaftlichen Prinzips; das Ziel dieser Aktion wäre die Konstruktion einer sozialistischen Gesellschaft durch die Allianz zwischen autonomen Gemeinden.2

Buber glaubt nicht mehr an die Rückkehr aufs Land als Alternative zu den Industriestädten der Moderne. Im Jahre 1923 stellt er bei einem Vortrag in Zürich fest: »Wir können die Stadt nicht verlassen, um aufs Land zu flüchten. Das Dorf ist der primitiven Gemeinschaft noch zu nahe. Die Stadt ist die Lebensform, die unserer Differenzierung entspricht. Hinter die Stadt können wir nicht mehr zurück, wir müssen sie überwinden.« Die Lösung, die er vorschlägt, wäre eine dritte Form gemeinsamen Lebens, vom ländlichen Dorf ebenso unterschieden wie von der Großstadt, die aus der Neuorganisation von Arbeit entstehen könnte.3

In diesem Zusammenhang entdeckt Buber die chassidische Tradition als Form der jüdischen Mystik, gleichwertig mit der Mystik Jakob Böhmes oder Meister Eckharts. Als religiöse Manifestation einer organischen Gemeinschaft eint sie diese durch ihre Spiritualität und ihre Kultur. Wie er einige Jahre später schreiben wird, ist es keine Doktrin, die die Besonderheit und die »Größe des Chassidismus ausmacht«, sondern eine »Lebenshaltung«, ein soziales Verhalten, das wesensmäßig »gemeindebildend« wirkt.4

Nach Gershom Scholem wird die Interpretation des Chassidismus durch Martin Buber beeinflußt von dessen »religiösem Anarchismus«, das heißt von seiner Weigerung, in der Welt der lebendigen Beziehung zwischen dem Ich und dem Du einengenden Zwängen einen Platz zuzugestehen.5 Tatsächlich definiert Buber in seinem berühmten Text »Ich und Du« (1923) die authentische Beziehung der Menschen untereinander und des Menschen zu Gott gemäß dem Paradigma des Dialogs und der Begegnung – eine durch und durch subversive Definition, sowohl hinsichtlich der starren Riten der institutionalisierten Religion, die der Chassidismus in Frage stellt, als auch im Hinblick auf politische und staatliche Institutionen.

Der bemerkenswerte Erfolg von Bubers Schriften über die Lehrmeister des Chassidismus (Baal Schem und Rabbi Nachman) ist der Tatsache zu verdanken, daß er einer geheimen Sehnsucht nach religiöser Erneuerung zum Ausdruck verhilft, die sich bei der jüdischen Intelligenz mit romantischem Gedankengut verbindet. Mit ihm entdecken auch Bubers jüdische Zeitgenossen in den polnischen Legenden des 18. Jahrhunderts etwas Uraltes, Urkünftiges, eine verlorene Vergangenheit und ein Objekt ihrer Sehnsucht.6 Die Interpretation des Judentums als eine vor allem rationalistische Religion wurde betrieben von der Wissenschaft des Judentums, vom jüdischen Liberalismus und von der akademischen Soziologie, deren Vertreter vor allem Max Weber und Werner Sombart waren. Nach Sombart zum Beispiel können wir »uns schwer einen jüdischen Mystiker vorstellen, wie es etwa Jakob Böhme war« und im Hinblick auf die Kabbala meinte er: »Alle Romantik ist … dieser rein diskursiven Weltbetrachtung fremd.« Die Romantik gehe aus von der Verschmelzung des Menschen mit der Welt, mit der Natur und mit dem Nächsten; der Jude jedoch, seinem Intellektualismus bis zum Exzeß verpflichtet, sei dazu nicht in der Lage.7 Buber wird diese Übereinkunft brechen, indem er in seinen Schriften eine mystische und romantische Lesart der jüdischen Religion präsentiert. Er kreiert ein neues Bild des Judentums, mit dem sich die rebellische Generation, die mit dem bürgerlichen Liberalismus gebrochen hat, identifizieren kann.

Einer der wichtigsten Aspekte dieser neuromantischen Interpretation liegt in der signifikanten Bedeutung des Messianismus. In seinen Prager Vorträgen legt Buber dar, der Messianismus sei »die am tiefsten originale Idee des Judentums«. Es handle sich um ein Streben nach einer »absoluten Zukunft, die aller Realität der Vergangenheit und Gegenwart gegenübersteht«, einer Zukunft, die das »wahre und vollkommene Leben« bringt, einer »Welt der Einheit«, wo die Trennung zwischen Gut und Böse durch die endgültige Vernichtung der Sünde überwunden sein wird.8 Die Thematik des messianischen Zeitalters als einer Welt, die vom Bösen erlöst sein wird, ist, wie Gershom Scholem nachgewiesen hat, einer der religiösen Grundpfeiler der anarchistischen Utopie. Wenn es das Böse nicht mehr gibt, werden Zwänge, Einschränkungen und Sanktionen überflüssig. Das messianische Zeitalter situiert sich für Buber nicht im Jenseits, sondern in der Welt hiernieden. Es ist kein geschichtliches Ereignis, aber es »bereitet sich in der Geschichte vor«. Im Rahmen einer utopischen und restitutionistischen Perspektive geschieht die Ankunft des Messias als Geheimnis, »wo Vergangenheit und Zukunft, das Ende der Zeit und die Geschichte miteinander verbunden sind … Es hat die Form der absoluten Vergangenheit und trägt den Keim der absoluten Zukunft.«9

Buber, der von einer romantischen und messianischen Vision der Geschichte ausgeht, stellt wie Rosenzweig, Landauer und Benjamin das Konzept der Evolution in Frage, das des Fortschritts und der Verbesserung: »Denn ich meine mit Erneuerung durchaus nichts Allmähliches und aus kleinen Veränderungen Summiertes, sondern etwas Plötzliches und Ungeheures, durchaus nicht Fortsetzung und Verbesserung, sondern Umkehr und Umwandlung.« Viel eher als einen mittelmäßigen Fortschritt, handelt es sich darum, »das Unmögliche zu begehren«. Das Paradigma dieser totalen Erneuerung findet sich in der messianischen Tradition des Judentums: »Der letzte Jesaja läßt den Herrn sprechen: Ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen … Das ist keine Metapher, sondern unmittelbares Erlebnis.«10

Mehr als jeder andere jüdische Religionsphilosoph der Moderne stellt Martin Buber den aktiven Beitrag aller Menschen zur Erlösung in den Mittelpunkt seiner messianischen Idee. Die Menschen sind Partner Gottes. »Zentrale jüdische Glaubensaussage, nicht formuliert, nicht als Dogma, die aber als Hintergrund die ganze Doktrin und Prophetie zusammenhält, ist der Glaube an die Beteiligung der menschlichen Aktion am Werk der Welterlösung.«11 Die Botschaft des Chassidismus, so wie Buber ihn interpretiert, besteht darin, daß der Mensch nicht zum Warten und zur Kontemplation verdammt ist. Es ist ihm gegeben, die Erlösung zu beeinflussen, indem er die in der Welt verstreuten Funken des göttlichen Lichtes aufhebt und befreit.12

Bedeutet das, daß Gott nicht allmächtig ist, daß er die Welt ohne die Hilfe des Menschen nicht retten kann? Nein, antwortet Buber, das bedeutet nur, daß er die Erlösung ohne die Beteiligung der Menschen nicht will. Den Menschen ist eine »mitwirkende Kraft« gegeben, eine »messianische Kraft«13, die wirksam wird. Aus diesem Grunde wird er in zunehmend kategorischer Weise die messianische Prophetie der Apokalyptik entgegenstellen, der jüdischen Eschatologie im eigentlichen Sinn, gegen die eschatologische Konzeption iranischen Ursprungs: Die Propheten legen die Vorbereitung der Erlösung in die Hände des Menschen und appellieren an die Entscheidungskraft jedes einzelnen, während die Apokalyptik die Erlösung als unabänderliche Zukunft begreift, die bis in die kleinsten Einzelheiten vorherbestimmt ist und die Menschen nur als Werkzeug benutzt.14

Nach Buber ist es diese aktive messianische Hoffnung auf eine erlöste Zukunft, die die jüdische Religiosität von der christlichen unterscheidet. In einem Brief aus dem Jahre 1926 formuliert er diese These in Worten, die an die Utopie des Noch-Nicht-Seins von Ernst Bloch erinnern: »Meinem Glauben nach ist der Messias nicht in einem bestimmten Augenblick der Geschichte erschienen: Sein Erscheinen kann nur das Ende der Geschichte sein. Nach meinem Glauben ist die Erlösung der Welt nicht vor 19 Jahrhunderten geschehen, sondern wir leben noch immer in der unerlösten Welt und harren der Erlösung, an der mitzuwirken jeder von uns in unbegreiflicher Weise berufen ist. Israel ist die Menschengemeinschaft, die diese rein messianische Erwartung trägt, … das heißt das Noch-nicht-geschehen-sein und Geschehen-sollen der Welterlösung.«15

Wie verbindet sich dieser messianische Glaube Bubers mit seiner sozialistischen und libertären Utopie? 1914 wird er wie viele deutschjüdische Intellektuelle von der patriotischen Welle der Kriegsbegeisterung mitgerissen; aber unter dem Einfluß der Ereignisse und aufgrund der harten Kritik seines Freundes Gustav Landauer ändert er seine Haltung.

Im Zuge einer Polemik gegen Hermann Cohen – einem der heftigsten Verfechter des »Staatsbewußtseins« – entwickelt Buber zwischen 1916 und 1917 seine eigenen politischen und religiösen Ansichten. Nachdem er wie Cohen selbst das kaiserliche Deutschland zu Beginn des Weltkriegs unterstützt hat, weist Buber jetzt die nationalstaatlichen Ansichten des Neukantianers in Marburg zurück und schreibt: »Denn die Menschheit – und das, Herr Professor Cohen, auszusprechen, ist in diesen Tagen mehr als je die Pflicht jedes aus Gott lebenden Menschen – die Menschheit ist ein Größeres als der Staat.« Er faßt ihre Meinungsverschiedenheiten in einer scharfen Formulierung zusammen: »Cohen, … will, ob es ihm auch nicht bewußt ist, den Geist unter den Staat beugen.« Diese Unterwerfung wird im messianischen Zeitalter vollendet sein, dann wird die dialektische Überwindung (Unterordnung) des Staates durch eine höhere Form der Gesellschaft endlich möglich sein: die Trennung zwischen Volk (Prinzip der Kreativität) und Staat (Prinzip der Ordnung) wird nur solange wirksam sein, »bis das Reich, Malkhut Shamayim auf Erden ersteht; bis in der messianischen Gestalt der Menschenwelt Schöpfung und Ordnung, Volk und Staat in einer neuen Einheit, in der Gemeinschaft des Heils verschmelzen«.16

Mit dem Aufschwung der revolutionären Bewegungen zwischen 1917 und 1920 wird Buber seine Vision präzisieren, radikalisieren und weiterentwickeln. In einem im Jahre 1919 in seiner Zeitschrift »Der Jude« veröffentlichten Artikel mit dem Titel »Die Revolution und Wir« besteht er auf der Notwendigkeit für die Juden, an der Revolution der Menschlichkeit mitzuwirken, das heißt an der Wiedergeburt der Gesellschaft durch den Gemeinschaftsgeist; er manifestiert seine Solidarität mit der revolutionären Welle, die Mitteleuropa erschüttert: Wir befinden uns im revolutionären Lager … »nicht als Nutznießer, sondern als Mitkämpfer und Mitträger grüßen wir die Revolution«.17 Die antietatistische Dimension ist mehr denn je in seinen Schriften präsent: in dem bereits erwähnten Text »Gemeinschaft« (1919) bezieht er sich auf Kropotkin, Tolstoi und Landauer, um die Tyrannei des Staates zu verdammen: »der Homunkulus Staat hat den Gemeinden das Blut aus den Adern gezogen«, diese aufgezogene mechanische Puppe, die das organische Leben ersetzen will.18 Der bestimmende Einfluß ist ohne Zweifel der seines Freundes Gustav Landauer, über den er in einer kurz nach dessen Ermordung im April 1919 veröffentlichten Hommage schreibt: »Er verwarf diesen zentralistischen, mechanistischen Scheinsozialismus, weil er einen föderalistischen, organischen Gemeinschaftssozialismus in seiner Sehnsucht trug.«19 Unter dieser Perspektive wird er den Bolschewismus kritisieren und mit der neuromantischen Strömung des »Gilden-Sozialismus« in England und der Kibbuzim-Bewegung in Palästina sympathisieren.20

In einer bedeutsamen Untersuchung, die 1919 veröffentlicht wurde (Der heilige Weg) und die er Landauer als Denkschrift widmen wird, ist der rote Faden die Einheit von Messianismus und gemeinschaftlicher Utopie. Für ihn sind die Gemeinschaft mit Gott und die Gemeinschaft zwischen den Menschen nicht voneinander zu trennen, folglich ist »das Harren auf den Messias … das Harren auf die wahre Gemeinschaft«. Ihre Verwirklichung hängt ab von den Menschen selbst; das jüdische Volk wird »nie, solange das Reich Gottes nicht erstanden ist, einen Menschen als den gekommenen Messias anerkennen; und wird doch nicht aufhören, vom Menschen die Erlösung zu erwarten, weil es des Menschen Sache ist, Gottes Macht in der Erdenwelt zu begründen«. Er bezeichnet diese Haltung als »aktiven Messianismus«, der nicht passiv auf die Ankunft des Messias wartet, sondern »die Welt für die Herrschaft Gottes vorbereiten will«. Buber erkennt Jesus als den Messias nicht an, aber er sieht in ihm einen authentischen jüdischen Propheten, für den das zukünftige Königreich Gottes identisch war mit »dem vollkommenen Zusammenleben der Menschen«, das heißt »die wahre Gemeinschaft, die eben dadurch die unmittelbare Herrschaft Gottes, seine Basileia, sein irdisches Königreich ist … Das Reich Gottes ist die kommende Gemeinschaft, in der alle, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, satt werden …«21

Diese Beziehung zwischen Gemeinschaft und Messianismus wird auf besonders frappierende Weise in einem Vortrag formuliert, den Buber im Jahre 1924 in Frankfurt hielt (die stenographische Mitschrift befindet sich im Martin Buber-Archiv in Jerusalem): »Die Gemeinschaft ist eine messianische Kategorie, keine geschichtliche. Als geschichtliche erweist sie ihren messianischen Charakter.« Er analysiert die russische Revolution und betont, daß die Sowjets echte Gemeinden waren, aus denen das »revolutionäre gemeinschaftliche Sein« hätte entstehen müssen; aber der Gang der Ereignisse hat zu ihrer Schwächung zugunsten zentralistischer Tendenzen des Staates geführt. Das Handeln des Staates, und sei es noch so revolutionär, kann zur messianischen Erlösung nichts beitragen; nur die Gemeinschaft ist der wahre Vorläufer und kündigt das Königreich Gottes an, dessen Wesen in der »Vollendung der Schöpfung durch die Gemeinschaft besteht«.22

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