Kitabı oku: «Der Traum vom Fremden», sayfa 3

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Ich bestimme, daß wir hier, mitten auf dem Pfad und während der größten Tageshitze, Rast machen. M. Brémond folgt nur mürrisch meinen Anweisungen; sieht aber ein, daß jeder laut vorgebrachte Protest ihn nur als Unmensch erscheinen ließe. Djami und ich spannen ein Tuch über den gestürzten Mann Gottes, damit er im Schatten liege und sich nicht bewegen muß. Dann entzündet Djami ein Feuer, um Pater Etienne eine warme Mahlzeit zu kochen. Wenn der ausgezehrte Mönch nicht wieder ein wenig zu Kräften kommt, können wir unseren Weg nicht fortsetzen; zumindest nicht gemeinsam.

Nur langsam kehrt das Leben in seine müden Augen zurück. Djami füttert ihn wie ein Kind. Alle (selbst Pater Maurice) sind verärgert über diese Unvernunft und die daraus resultierende Verzögerung. Wir werden eine Weile hier rasten müssen und mindestens einen halben Tag verlieren. Brémonds Leute sollen die Tiere von ihrer Last befreien und sie hinunter zum Fluß zu einer Wasserstelle führen. Dann bereiten wir Pater Etienne ein frühes Nachtlager: und die wechselnden Krankenwärter sorgen dafür, daß der Geschwächte in jedem wachen Augenblick ein wenig esse oder zumindest ausreichend trinke.

Als die Wache wieder an mir ist und ich ihm etwas von meinem Dörrfleisch in den Mund zwinge, laufen ihm Tränen über das vom Sturz geschwollene Gesicht. Laßt mich einfach hier liegen, und Gottes Wille geschehe: jammert er. Gottes Wille? Die Hyänen werden Sie holen; werden über Sie herfallen, noch ehe Sie überhaupt tot sind!

Gott wird mich schützen.

Gott hat Sie ja nicht mal auf Ihrem verdammten Maultier halten können! Sind Sie nur deshalb in dieses gottverlassene Land gekommen, um anderen Leuten Scherereien zu bereiten? Sich geißeln und Buße tun hätten Sie doch auch in Frankreich können.

Sie verstehen nicht.

Das ist wahr. Reißen Sie sich zusammen, wenigstens so lange, wie wir gemeinsam unterwegs sind. Dann schaffen wir es in zwei Tagen nach Bubassa.

Nach diesen durchaus ernstgemeinten Grobheiten gieße ich ein wenig Wasser aus dem Fellsack über mein Halstuch und wische dem zerknirschten Mönch das Elend und die Tränen aus dem hungerblassen Gesicht.

Nun sitze ich in meinem Zelt – im Licht der Petroleumlampe –, vor mir das aufgeschlagene Feldtagebuch, die leere Seite, das Datum, der genaue Ort (unbekannt), und nichts vom heutigen Tag, das mir im Gedächtnis geblieben, scheint mir wert, aufgezeichnet zu werden: kein unvergessliches Ereignis, keine Heldentat, kein Abenteuer, nur dieser Unfall, nur ein ermüdeter Mönch, nur diese notgedrungene Unterbrechung. Wann will ich mit meinem Bericht beginnen? Ich beobachte: wie die Moskitos und andere Nachtschwärmer ihren Weg in den Glaszylinder finden und in der gelbblauen Flamme verglühen; ich beobachte es mit unleugbarer Genugtuung. Ach, die Wildnis in mir; das Barbarentum; und der fatale Mangel an überraschenden Gedanken Einsichten Verzauberungen Räuschen (das abendliche Opium zaubert mich schon lange nicht mehr fort).

Bin ich denn immer noch oder schon wieder ein Zögling: ein Zögling des seiltänzerischen Daseins, ein Akrobat, der den Absturz liebt, ein Leben lang nichts anderes geübt hat? Die Wildnis, dachte ich wohl, werde mich retten (habe ich denn auf Java nichts gelernt?), und nun sitze ich inmitten dieser verdorbenen Natur, gefangen wie einer, dem man die Kleider fortgenommen hat und der sich nun nicht traut, nackt nach Hause zurückzukehren. Doch die Wildnis schert sich einen Dreck um meine Nacktheit! Was war es noch einmal, das Bardey mich zu erforschen bat? Immerhin ist es seine Reputation, die hier auf dem Spiel steht. Noch habe ich keines meiner Instrumente und Bücher ausgepackt.

Ach, die Dichtkunst: was ist sie wert, wenn sie nicht in Wissenschaft mündet! einer universellen, praktischen Wissenschaft, die den Menschen zu überleben hilft; einer klaren, nüchternen Sprache, die nicht nur der Träumer versteht?

Hier ist mein Versuchsfeld, mein Laboratorium, hier: wo die Menschheit begann; wo das Paradies und die Hölle so nah beieinander liegen. Bin ich nicht gut gerüstet mit meinen Büchern und Geräten: der Leitfaden der Metallverarbeitung, die Hydraulische Technik für Stadt und Land, das Taschenbuch des Zimmermanns und die Anleitung zur Errichtung von Sägewerken sind mir schon vor geraumer Zeit ins Adener Bureau geschickt und in den unzähligen zähen Mußestunden durchgearbeitet worden; und endlich hat der gute Delahaye mir auch den Reise-Theodolit, das Taschen-Aneroidbarometer, den Sextanten, das Jahrbuch des Bureau des Longitudes für 1882 und die Topographie und Geodäsie von Commandant Salneuve zugesandt; und das alles befindet sich mit dem photographischen Apparat, dem modernsten seiner Art, und den Gerätschaften für die naturkundlichen Präparationen wohlverstaut in den festen, mit Holzwolle ausgepolsterten und weitestgehend wasserdichten Kisten, die wir auf einem Packesel mit uns führen. Meine Studien über den Harar und die Gallas werden nicht nur die Geographische Gesellschaft überraschen, es wird auch ein Werk mit einer ganz neuen Sprache, einer ganz neuen Art der Poesie daraus entstehen!

Und doch: wenn wir verstanden werden wollen, müssen wir uns wiederholen, die Wörter der anderen wiederholen, aus dem gemeinsamen Sprachschatz. Erfundene Wörter mögen originell sein, dienen aber nicht der Verständigung. Welchen anderen Sinn und Zweck hat Sprache als zu dienen? Ein verständliches Sprechen ist ein ständiges Zitieren.

Nun sollte ich endlich den Anfang wagen: RAPPORT 1. Es gibt zwei Wege von Harar in den Ogaden: einen Richtung Osten durch War-Ali, auf dem drei Handelsstationen bis zur Grenze des Ogaden liegen. Diesen Weg hat unser Agent, M. Constantin Sotiro, bereits einigermaßen erkundet. Es ist der am wenigsten gefährliche und der wasserreichere.

Der zweite Weg führt südöstlich von Harar über den Erer-Fluß, die Märkte in Babili und Wara-Heban bis in die Stammesgebiete der Hawïa.

Hier sind die Erkenntnisse, die M. Sotiros und meine Expeditionen über den Ogaden bereits erbracht haben: Ogaden ist der Name einer Gruppe von Stämmen somalischer Herkunft und zugleich der Name der Region, die sie besiedeln. Im Westen grenzt der Ogaden an das Hirtenvolk der Gallas und entlang des Wabi-Flusses, der ihn vom großen Oromo-Stamm der Oroussis trennt, im Norden an die somalischen Stämme der Habr-Gerhadjis, im Osten an jene der Doulbohantes und der Midgertines und im Süden an die Hawïa.

Der Name Hawïa scheint insbesondere jene Stämme zu bezeichnen, die sich aus einer Vermischung von Gallas und Somalis gebildet haben, von denen ein geringer Teil im Nordwesten Harars, ein größerer Teil südlich von Harar an der Straße in den Ogaden und schließlich der bedeutendste Teil im Südosten des Ogaden in Richtung des Sahel siedelt. Die drei Stammesglieder leben völlig unabhängig voneinander.

Wie bitter ist es indes, daß die Geographische Gesellschaft sich mit keinem einzigen Centime an der Ausrüstung dieser Forschungsreise beteiligt. Allein die Früchte gedenken sie zu ernten. Sei’s drum: ich bin hier in Abessinien ja vor allem um meiner selbst willen.

Manchmal träume ich: ich würde erwachen, und alle Gesetze und Sitten hätten sich geändert. Schon als Heranwachsender träumte ich von Entdeckungsreisen in Länder, über die noch keiner je berichtet hatte, Gebiete ohne Geschichte, ohne Glaubenskriege, ohne menschenfresserische Sitten. Ich glaubte an Zauber und Magie, an Rausch und Taumel – und hier bin ich nun, finde Flinten und Glasperlen statt der nackten kriegerischen Engel.

Ich habe die Wüsten geliebt, ohne sie zu kennen; stattdessen habe ich mich durch kotige Straßen geschleppt und mich bereits in einem Dschungel gewähnt. Doch die Fliegen auf den Scheißhaufen von London oder Paris sind nicht dieselben, die hier im Ogaden ihre Eier in unseren Augenwinkeln ablegen.

Aber selbst zu Hause, ja gerade zu Hause lauerte der Tod; mußte reisen, um ihm zu entkommen. Natürlich weiß ich, wußte schon immer, daß man ihm am Ende nicht entkommt. Wie dumm der Stolz darauf, keine Heimat zu besitzen, keine Freunde, keine Sprache! wie töricht die Verachtung für alle, die es nicht besser wußten, besser wissen konnten – was suche ich hier in der Wüste?

Auch die Wissenschaft wird mich nicht retten. Gebete wirken schneller. Arbeit zehrt rascher auf. Träume machen uns zu Heiligen. Lieben zu Verbrechern. Schluß mit dem Gejammer!

DIENSTAG, DEN 9. OKTOBER 1883

Die Giftflaschen zum Töten der Insekten, der Leibgürtel mit dem zu erwartenden Wegezoll und die Notizbücher sind in meiner Obhut, während ich die Verantwortung für meine Leibwäsche, unseren Proviant und unsere Wasserschläuche Djami anvertraut habe, der auf seinem Maultier beständig an meiner Seite oder, wenn es das Gelände nicht erlaubt, direkt hinter mir reitet. Einen gesonderten Träger oder einen Treiber für unseren Packesel haben wir nicht gemietet. In den Augen der Träger müssen wir schwierige und unbegreifliche Fremdlinge sein, um wieviel mehr erst in den Augen der wilden und freien Ogadenkrieger! Anstatt, wie es in dieser mit jedem Schritt ins Tiefland heißer werdenden Region üblich ist, des Nachts zu reisen, sind wir vor allem am Tage, also auch während der allergrößten Hitze unterwegs, und das nicht der Ignoranz der europäischen Reisegefährten, sondern meines zweiten, womöglich eigentlichen Reiseziels wegen: zu beobachten, zu sammeln, aufzuzeichnen und zu kartographieren.

Indes versuchen wir, einander mit Freundlichkeit zu begegnen, da ja einer ohne den anderen hier nicht überleben kann. Die Krieger der Ogadeni haben es niemals gelernt zu gehorchen, und Fremden gegenüber, die allem Anschein nach keinem Gott oder zumindest nicht dem ihren dienen, können sie erst einmal keinerlei Achtung entgegenbringen. In dieser Hinsicht unterscheiden die Völker sich nur wenig voneinander. Also ist es an uns, ihre Achtung zu verdienen.

Ein heftiger Wortwechsel reißt mich aus meinen Gedanken. Offenbar ist der ehrenwerte M. Brémond mit dem friedfertigen Pater Maurice in einen heftigen Streit geraten (was durchaus keine geringe Kunst ist): Mit dem Auftauchen eures warmen Bruders Jesu und seiner weibischen Lehre endet unsere seelische Gesundheit! höre ich seinen dröhnenden Baß. Von Gethsemane und Golgatha stammen alle unsere sündhaften Ausschweifungen und Verirrungen. Wären wir doch Heiden geblieben!

In Paris wäre ein Mann wie Brémond ganz und gar belanglos. Man müßte diesen Sack erst ordentlich mit Scheiten vollstopfen, damit er ein wenig Ecken und Kanten zeigt. Aber damit sind wir schon wieder bei der Effektsucht der Skribenten.

Doch was in Paris allenfalls – zumindest in gewissen Kreisen – zu amüsieren vermag, erregt nicht nur bei den Missionsbrüdern, sondern auch bei den strenggläubigen Mohammedanern in unserer Karawane zunehmenden Unmut. Wenn sie auch nicht die Worte des Pariser Kaufmanns verstehen, so hören sie durchaus die Angriffslust heraus: den Spott und die Verachtung für alles, was ihnen heilig ist. Spürt Brémond die Gefahr nicht? Sucht er sie gar?

Brémond – etwas klingt an, eine Erinnerung steigt auf, die wohl zehn Jahre zurückliegt: der Vater Kaufmann; Heeresausstatter; Brémond & Fils; ein ungeheurer Skandal; im Grunde ein ganzer Reigen von Skandalen: Nach der Gefangennahme des Kaisers in Sedan und der Ausrufung der Republik wird Brémond der Veruntreuung von Staatsgeldern angeklagt; der Sohn (Antoine?), Chefbuchhalter und Miteigentümer der Firma, erklärt sich zur Aussage gegen den Vater bereit, wenn ihm Straferlaß gewehrt wird. Der Vater läßt ihn gewaltsam in die Salpêtrière einweisen, entmündigen und für verrückt erklären; er wird (wenn ich mich recht erinnere) erst aus der Anstalt entlassen, als sein Vater verurteilt wird und ins Gefängnis muß. Das Geschäft ist bankrott, der gute Ruf ruiniert, also verlässt der junge Brémond (Antoine Brémond? ich frage nicht) Frankreich.

Die Luft über dem kargen Boden zittert und flirrt, das Fernliegende wirkt verschwommen und zugleich wie durch ein Brennglas vergrößert: hartlaubiges Gesträuch wird zu einem Hain verkrüppelter Bäume, die den steinigen Grund nach ihren verlorenen Brillen absuchen, eine einsame Hyäne verwandelt sich in den porphyrglänzenden Gott Anubis, wehe, wenn unsere Seele schwerer als das Herz ist!

Ich sehe sie noch vor mir: die sumpfigen Wälder und Wiesen, die Flußauen Gräben und Tümpel voll faulendem Wasser, auf deren Grund heute die Stadt steht, solange ist es noch gar nicht her. Im Waggon Dritter Klasse finde ich unter meiner Holzbank zwei frische lidlose Augäpfel. Die Faust in meiner rechten Hosentasche erinnert mich daran, daß ich ohne Geld und Fahrkarte unterwegs bin: Ich werde mir mein Essen rauben müssen. (Der Schiffsbauch ist voller Vorräte, während ich an der Reling stehe und kotze.)

Die Lokomotive qualmt wie die Esse des Hephaistos, die Luft stinkt nach Schwefel, und ich denke: ist es der Teufel, der sich auf den Weg nach Paris gemacht hat? Die Scheiben sind von einer fettigen Rußschicht bedeckt, ich bin müde und zugleich erregt, das dampfende und zischende Ungeheuer pfeift wie irrsinnig.

Auf der Fahrt hierher, zum Parnass, fliegen sie noch leichten Sinns am Abteilfenster vorbei: die Schaubuden, Riesenräder, Kettenkarussells, die glänzendroten Aug- und Liebesäpfel, die fliegenden Blätter, das Küchenlatein, die pornographischen Schriften, ohne Bindung, ohne Punkt und Komma, die Groschenromane unserer Mütter und ihre täppischen Kinderreime.

Dann der Gare du Nord: als würden Salpeter oder Guano hier verladen; ein Uniformierter fragt nach meiner Fahrkarte. Ich könnte unter seinen Beinen hindurchschlüpfen, könnte ihm ins Gesicht spucken oder in die Eier treten oder ihm den Schlagstock aus dem Gürtel reißen und ihm mit dem eigenen Knüppel einen überziehen, aber noch bin ich nur ein argloser fünfzehnjähriger Schwarzfahrer aus der Provinz.

Die Amtsstube riecht nach Stempelblau, verschwitztem Drillich, nach Angst, Mißtrauen und Gewalt. Der Wachmann Cerbère notiert Namen und Wohnort und führt mich in den Zellentrakt, Cerbère, Zerberus, der Vielköpfige, Schwarzgeschuppte, der jeden hineinläßt, doch keinen jemals wieder hinaus.

Vielleicht war es falsch, mich zwei Jahre älter zu machen: muß mich bis auf die nackte Haut ausziehen, werde geschoren, vermessen, entlaust, als sei ich eine Weihnachtsgans, die man für das bevorstehemde Fest rupft und ausnimmt.

Und nun hier, in dieser Zelle: sie besteht aus einer Gaslampe, einer Eisenpritsche, einer Wasserflasche, einem Koteimer und einer zwielichtigen Gestalt, mit der ich das Lager zu teilen habe, will ich nicht auf dem nackten Estrich ruhen.

Der zerlumpte Dichter, noch weiß er nicht, daß er vierzehn lange Tage und noch längere Nächte hier verbringen wird, das nasse, schimmlige Brot, der erste Rausch, das erste Blut und der langanhaltende Schmerz, der Zellengenosse, der ihn in seine leprösen Arme preßt, das Haar und die Achselhöhlen voller Läuse, Läuse zwischen den Beinen und im Herzen, und er, an die Bank genagelt, ohne Alter, ohne Gefühl, fast wäre ich im Rausch gestorben, fast auferstanden.

Die Hände des Gefängniskaplans mögen sanfter sein, doch bitte ich meinen Zellengenossen, ihn nicht hereinzulassen. Sein lieblicher Gestank kann mich nicht täuschen: ich rieche den Schwefelgeruch seiner Scham.

Während in der Ferne schon die preußische Artillerie explodiert: sie wird mich aus diesem Kerker herausschießen, die uringetränkte Strohmatratze in Brand setzen und den kotbeschmierten Korridor rot färben!

War ich denn bisher nicht folgsam und sanft: die Fingernägel sauber, die Hefte fleckenlos, die Schulnoten herausragend? Bis gestern kam die Päpstin noch am Samstagabend in die Küche, wo die Zinkwanne stand, in die ich nach meinem Bruder und meinen Schwestern stieg, um mir mit der Scheuerbürste den Rücken, den Hals, den Kopf, die Ohren und den Hintern zu waschen – an Schwanz und Sack wagte sie sich schon nicht mehr, doch drückte mir mit einem grausamen Zug in ihrem Gesicht die Bürste in die Hand, damit ich selbst all den Dreck, die Krusten und das Ungeziefer (welches Ungeziefer außer dem in ihrem Kopf?) aus meinem Schamhaar scheure.

Da es in Charleville nichts zu erleben, nichts zu lieben gibt, beginnt meine Schwester Vitalie (sie trägt denselben Namen wie die Päpstin), Straßenbäume zu zählen: hundertundelf Kastanienbäume auf der Allee, dreiundsechzig rings um die Bahnhofspromenade: damit füllt sie ihr Tagebuch. Es ist wohl Schwindsucht, an der sie am Ende (mit siebzehn Jahren) stirbt.

Frédéric, mein älterer Bruder, ist der hübschere von uns beiden, wenngleich genauso still und einsam wie ich. Auf dem Schulhof bleiben wir unter uns. Selbst dort müssen wir still sein. Schweigend stopfen wir einander Schnee ins Maul. Nur die Raucher unter uns finden das kindisch. Sobald es läutet, stehen wir in Reih und Glied und wagen nicht einmal mehr: auszuspucken. Wie kommt es, daß ich ein so guter Schüler bin? Ist es der Angelhaken unter meiner Zunge? – Trotzdem sind wir froh, wenn der Sonntag endlich zu Ende ist.

Ich zweifle, daß es eine Sprache geben wird, in der wir überleben könnten. Die Wörter sterben und zerfallen mit unseren Leibern. Statt schwarzer Stoppeln sprießen grüne Halme aus meiner porösen Haut. Und madenblasse Wurzelspitzen bahnen sich ihren Weg in meine durchlässige Stirn. In Java pflockt man die Delinquenten am Boden fest und wartet einfach ab, bis die Bambussprossen aus der Erde schießen, eine Handbreit am Tag; sie sind es gewohnt, sich ihren Weg zwischen Steinen hindurch zu bahnen, Rippen und Schädelknochen sind da kein Hindernis.

CAHIER II

MITTWOCH, DEN 10. OKTOBER 1883

Wer in diesen kargen südlichen Ländern unterwegs ist, altert schneller: die Sonne trocknet die Haut aus, Gesicht und Handrücken röten sich, werden braun, dann schwarz wie altes Leder, nach stundenlangem Reiten ist der Hintern wund, sind die Beine taub, daß man kaum noch von seinem Maultier steigen kann, ohne einfach zu Boden zu stürzen; was weich ist, wird hart, schorfig, Fett schwindet, Sehnen treten hervor, und am Ende ist es, als würde der ganze Körper ausgetauscht und in einen neuen, härteren, vielleicht auch wahreren wechseln und das ganze falsche Weiß und alle Sanftheit wie eine abgestreifte Haut zurücklassen.

Die beiden Franziskaner sind noch ganz im Zustand der Wundheit und Häutung, während M. Brémond bereits ein neues Gleichgewicht zwischen Lethargie und Grausamkeit erlangt hat. Unter seinen schweren, teigigen Lidern scheint er zu dösen, doch ein gelegentliches Aufblitzen zeigt, daß ihm nichts in seiner Umgebung entgeht. Bei mir wuchs das Barthaar immer nur spärlich, bei den anderen aber sehe ich den offenkundigen Wandel auch am voranschreitenden Zuwuchern ihrer zu Beginn der Reise noch hellen und offenen Gesichter. Den größten Teil des Weges sind sie inzwischen stumm, nicht, weil bereits alles gesagt wäre, sondern aus Erschöpfung, aus Furcht, die Schmerzen in jedem Muskel, jeder Faser könnte Laut werden und den um Haltung Bemühten der Lächerlichkeit preisgeben. So sind wir denn eine Karawane von Tieren mit unnatürlich steifen, wort- und blicklosen Lasten.

Nach den kargen Hängen wird die Landschaft sanfter, zwischen dem graubraunen Geröll finden sich einige alte, windzerzauste Akazien, dickstämmige Aloe mit leuchtendgelben Blütensträußen und ein Kraut, das Hadsch Afi harmal nennt, uns und die Tiere indes von dem niedrigen Gewächs fernhält, da es giftig sei. Schließlich löst rak das giftgrüne Kraut ab, ein Busch mit eßbaren, dunkelvioletten Beeren. Die Einheimischen fertigen aus den dicken Ästen dieser Pflanze ihre Zahnbürsten, indem sie ein fingerlanges Stück abschneiden und das Ende mit den Zähnen ausfransen.

Die Kamele fressen diese rak-Zweige mit großer Gier, obwohl sie durchaus wissen, daß ihr Verzehr anhaltende Durchfälle hervorruft. In der Folge, die auch wir zu spüren bekommen, bespritzen die unablässig hin und her peitschenden Schwänze das Gepäck, den Reiter und die nebenher Gehenden mit grünem Kot, und bis zum nächsten Bade wird der Reisende den rak-Geruch nicht mehr los. Und wer die Milch einer Kamelstute trinkt, die sich ausgiebig am rak-Strauch gelabt hat, erlebt an sich selbst die heftig abführende Wirkung dieser Pflanze.

Endlich tauchen die Grashütten Bubassas hinter einem kargen Hügel auf. Nie ist ein Europäer (vor Sotiro) weiter gen Süden vorgedrungen als bis hierher. Tierhäute warten auf uns, doch werden wir uns erst auf unserem Rückweg darum kümmern können.

Meine sterbenswilligen Begleiter, die von der drohenden Gefahr beseelten Missionsbrüder, singen ein aus reinen Kehlen aufsteigendes engelhaftes Lied, das so gar nicht in die schroffe Landschaft passen will und sogleich alle Schakale in der näheren Umgebung in die Novene einfallen läßt.

Bubassa ist nicht viel mehr als ein kleiner Marktflecken mit wenigen stallgleichen Lehmkaten, der nur an den Markttagen zu gewissem Leben erwacht. Dann werden Gestelle mit Dächern aus Flechtwerk errichtet, die den zusammenströmenden Menschen und Tieren einen leidlichen Schutz gegen die Sonne gewähren, während Händler und Käufer um das eine wie das andere feilschen. Obgleich die Ägypter nach ihrer Besetzung Harars sogleich den Menschenhandel verboten haben, reicht ihre Amtsgewalt kaum über die Stadtmauern hinaus. Und ob nun einer ein Diener mit geringem Lohn oder ein Sklave mit freier Kost und Unterkunft ist, läßt sich kaum mit Sicherheit sagen, solange der Betreffende sich nicht beklagt. Selbst in unserer Karawane wüßte ich nicht, wer von den Trägern Brémonds ein Lohnknecht und wer ein Sklave wäre. Brémond behandelt sie alle gleich schlecht.

In Bubassa stehen wir unter dem Schutz des boko Seyfou Galla, des Scheichs dieses Weilers; nennen zwei Handelsplätze an verschiedenen Enden des Ortes unser Eigen; bezahlen vier Stammeskrieger für den Schutz unserer südlichsten Handelsniederlassung. Die ersten vier, die Scheich Seyfou uns gestellt hat, waren Diebe. Wen wundert’s, da Scheich Seyfou den für die Wächter bestimmten Lohn selbst eingestrichen hat. Nachdem Sotiro und ich dem boko Beweise für die Schwindsucht unserer Waren vorgelegt haben, ließ er seine untreuen Krieger verstümmeln (kastrieren) und davonjagen. Ein unbekanntes Fieber fesselte Sotiro und mich bei unserem letzten Besuch in Bubassa ans Lager, so daß wir diese Grausamkeit nicht haben verhindern können.

Er stammt von Rhodos, wie so viele andere griechische Kaufleute in Afrika. In den langen ereignislosen Hararer Nächten spricht er manchmal, wenn auch einsilbig, von der Kreuzfahrerinsel, als sei er selbst ein Nachfahre der Johanniter. Sobald er genügend Geld zusammen habe, wolle er heimkehren und sich gleich im Schatten der mächtigen Festungsmauern eine Villa im klassischen Stil errichten. Ich wünsche ihm dabei viel Erfolg, denn wesentlich zahlreicher als diejenigen, die in die Heimat zurückkehren, sind jene, die in Afrika der Hitze, den Krankheiten, den Überfällen oder gar der Versklavung anheimfallen. Diesmal aber soll sein Schicksal noch nicht entschieden sein: ich will alles tun, meinen Geschäftsfreund aus seiner unglücklichen Lage zu befreien. Indes habe ich unsere Maria-Theresien-Taler in Harar gelassen. Sie hätten ohnehin nicht gereicht, das unverschämte Lösegeld zu bezahlen. Offenbar halten die hiesigen Menschenräuber alle Europäer im Lande für die Gebrüder Rothschild. Gewöhnlich aber bezahlt man hier, wenn man keinen Tauschhandel betreibt, mit Flinten-oder Pistolenkugeln. So haben wir denn zum Tausche für Sotiro eine Munitionskiste und ferner mehrere Ballen indischen Katuns und ein Säckchen böhmischer Glasperlen im Gepäck: und – wenn das nicht reichen sollte – einen unbegrenzten Vorrat an Beredsamkeit. Vielleicht läßt Mkuënda, der König von K’elafo, sich ja vom Vorteil einvernehmlicher und langfristiger Handelsbeziehungen überzeugen, während ein einmaliger Ranzion, wie hoch er auch immer ausfallen mag, irgendwann verbraucht sein wird und im Übrigen nur unberechenbare Feinde schafft.

Hier in Bubassa werden wir endlich unsere Missionsbrüder los und können in kleinerer Schar der Auslösung Sotiros entgegeneilen. Am Erer-Fluß wartet Scheich Omar mit seinen Männern auf uns, um uns bei den Verhandlungen mit Häuptling Mkuënda beizustehen. Und in Fiq werden wir dann endlich auch M. Brémond und seine Kamelkarawane zurücklassen. Von nun an werden wir Unbekanntes erforschen, in die Territorien der Aroussi und Itou, ins Elfenbeinland vordringen, womöglich neue Märkte erschließen.

Das bucklige Pflaster, der narbige Putz der schiefen Fassaden, der Ziegeldunst, durchmischt von den Miasmen aus dem Untergrund, den Kloaken der Hauptstadt, im Souterrain eine Pelznäherin, Ratten- und Hundefelle für die Nierengürtel der Gichtgeplagten, in den Kellern und Katakomben ein einziger riesiger Hundefriedhof: jedes zweite schwarzhaarige Gesicht kommt mir bekannt vor, aber sie gehen an mir vorbei, ohne mich zu grüßen.

Düstere Häuser, das Leben auf den Straßen kommt kaum dagegen an, man müßte die Höfe mit ihren Aborten nach außen kehren oder den Hauswartsfrauen ihre Katzen rauben: kein einziger Baum, an den man unbescholten pissen dürfte, die Hofeinfahrten wehren sich bereits mit ihrem bestialischen Gestank.

Ich stehe vor verschlossenen Türen; hätte meine eigene Matratze mitbringen müssen; starre den Frauen hinterher, die mit blutigen Messern und Walpenissen in den Händen Richtung Bastille stürmen: die Erinnerung, ein Raunen. Ich versuche, sie mit Bildern zu ersticken. Warum gibt es das nicht: ein farb- und klangloses Wort, nüchtern, kalt wie eine Zahl, unser Dasein zu beschreiben – wir müßten nicht mehr nach dem Sinn fragen.

Bierhallen; durch die großen Schaufenster kann ich die behaarten Arme der Arbeiter sehen, am frühen Morgen dann das Geschepper der Kehrichtkübel und der Jauchewagen, hier, zwischen den Kommisbrotkulissen, beschleicht mich weniger das Gefühl des Unerlaubten als in den Vierteln der Flaneure: dort bewachen die Kellner wie Gendarmen ihre Terrassentischchen, die Männer blicken ölig, die Mädchen platzen aus ihren Miedern, alle plustern sich auf, geben sich bedeutungsvoll, von ihren Sockeln gesprungene Monumente.

Ich sehe schon das Zerbröckelnde, den zukünftigen Schutt: der allgegenwärtige Staub läßt mich husten, die wenigen Augenblicke der Stille sind voller Pulverdampf, alle Brücken über den Fluß und die Gleise sind Selbstmörderbrücken, ich meide sie und versuche, stets am selben Ufer und jenseits der Gleisanlagen zu bleiben.

Paul hat das Gesicht einer unter dem Brennglas vergrößerten Heuschrecke: große kurzsichtige Augen, zwei Löcher, wo sich sonst eine Nase befindet, und mächtige Kauwerkzeuge, ohne ein Kinn. Er säuft sich in immer verrücktere Wut, mich schaudert und fasziniert dieser Irrsinn, mag aus dieser Maßlosigkeit auch kein einziger außerordentlicher Vers entstehen. Es ist: als wolle er über den Schatten des eigenen Todes springen, um dann doch in eben dieser Schattenwelt hart aufzuschlagen. Tote Worte. Totenworte. Wahrheit dringt nur aus dem Mund des Sturzbesoffenen. Dein marodierendes Glied, lazarettgrau. Saugst an mir, als wären es die Zitzen Gottes. Die letzten Küsse kleben mir wie Froschlaich an den Lippen. Blödsinn! warte nur, bis du wieder nüchtern bist.

Jeder redet über den anderen, als spräche er von sich selbst: voller Haß, moralischer Überheblichkeit und Ekel. Du sagst: Junge, ich höre dein Herz schlagen! – Vielleicht liegt es daran, daß ich so mager bin. Ich versuche erst gar nicht, deines schlagen zu hören, solange du die schwere Lederschürze trägst. Ich steige in die Hosen, die noch steif sind von der Nacht. Der Schlächter bleibt liegen. Was am Morgen übrig bleibt, war bereits am Abend aufgegessen. Erbrochenes und Vogeldreck in deinem Brusthaar, und meine klebrige Zunge, die nichts will als wachsen. Sag mir: ob dieses Tier ohne Fell in Wahrheit nicht ein bemooster Baum ist.

DONNERSTAG, DEN 11. OKTOBER 1883

Nach nur kurzem Aufenthalt verlassen wir Bubassa. Der Abschied von den beiden Franziskanern war kurz, fast schroff, obgleich die nicht unbegründete Gefahr besteht, daß es ein Abschied für immer gewesen sein könnte. Nun folgen wir dem Erer-Fluß durch die Stammesgebiete der Somali-Galla ins Land von Nokob, wo der Erer in den Wabi mündet. Dort, in einem Dorf namens Eimeh, wollten Sotiro und Hadsch Afi eine Niederlassung für den Elfenbeinhandel gründen, sind aber niemals angelangt.

Ich hoffe nur, daß man den armen Sotiro einigermaßen am Leben läßt, denn wir kommen nur elendig langsam voran. Es ist wie bei einem Schwimmer im Meer, der kaum wahrnimmt, ob er seinem Ziele näherkommt oder sich eher von ihm entfernt.

Indes ist eine solche Reise wohl die wirksamste Medizin gegen Schwermut, Trägheit und Erschlaffung, wie sie sich unweigerlich überall dort einnistet, wo man sich zu Hause fühlt. Und doch wird es wohl noch die eine oder andere Rückkehr geben, und mit ihr die Rückkehr der Gewohnheiten und Wiederholungen: alles ist noch genauso, wie ich es verlassen habe; als sei ich gar nicht fort gewesen; nichts Besonderes hat sich ereignet, alle waren einfach weiterhin nur da, wie sie immer schon da waren, erzählen mir dieselben Geschichten, die sie stets im Munde führten, und ihre Hand, die sie mir zur Begrüßung geben, ist genauso schlaff wie jene, die sie mir zum Abschied reichten. Nichts hat sich verändert, nichts Aufsehenerregendes ist in der Zwischenzeit geschehen, nicht einmal irgendein Bekannter oder Erzfeind ist gestorben.

In Paris gab es immerhin dieses Leben in Morast, Absinth und Sperma, man speist das eine oder andere gleich im Bett, ohne eines Tisches oder Nachtgeschirrs zu bedürfen, beschwert sich, wenn der Bettgenosse sich zu oft wäscht oder für die intimen Stellen eine Seife benutzt. Schon zum Frühstück am fortgeschrittenen Nachmittag wird man handgemein, und damit kein Blitz das alltägliche Gelage sprengt, hängt neben den rosa Vorhängen zum Boudoir ein Weihwasserbecken, aus dem die gelegentlichen jungfräulichen Besucher aus der Provinz sich benetzen und bekreuzigen können.

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