Kitabı oku: «Sentry - Die Jack Schilt Saga», sayfa 5

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„Denkst du etwa ich? Deswegen sind wir hier. Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als den ganzen Haufen Geschmier genauestens unter die Lupe zu nehmen. Vielleicht finden wir einen Hinweis, der uns weiterhilft.“

Mein guter Freund sah mich zweifelnd an. Sein Blick stimmte mich angriffslustig, nahm er mir doch von der wenigen Zuversicht, die noch vorhanden war.

„Was sollen wir sonst tun?“ rief ich und zeigte damit ungewollt, wie wenig ich selbst an den Erfolg der ganzen Aktion glaubte. „Ich sehe nur diese Möglichkeit.“

„Du hast ja Recht. Los, bringen wir den ganzen Mist raus!“

Nun begann die eigentliche Arbeit, das erneute Aussortieren. Ging ich anfangs noch mit Sorgfalt vor, änderte sich das relativ schnell. Was noch nicht völlig kaputt war, war es spätestens, nachdem Krister oder ich es inspiziert hatten. Leserliche Passagen rissen wir achtlos heraus und stapelten sie neben einem immer höher werdenden Haufen Abfall. Jeder Fetzen Information konnte von Nutzen sein, nichts von dem, was für uns verständlich war, durfte verloren gehen.

„Das meiste Zeug ist in einer Sprache geschrieben, die kein Mensch lesen kann“, sagte Krister irgendwann. „Was machen wir damit?“

Ich zuckte mit den Achseln.

„Hier lassen, denke ich. Wenn wir es nicht entziffern können, wer dann? Ich habe nicht die Absicht, irgendetwas davon irgendjemandem zu zeigen. Wem auch?“

Krister nahm dies nickend zur Kenntnis.

Alsbald hielt ich die Sammlung vergilbter Landkarten in den Händen, die Rob vor wenigen Tagen, als die Welt noch in Ordnung schien, so beeindruckt hatte. Ich öffnete den zerbröselnden ledernen Umschlag und nahm die erste Karte heraus, die den nordöstlichen Teil Gondwanalands darstellte. Meine Augen suchten und fanden Stoney Creek ganz im Nordwesten. Dann wanderten sie langsam nach Süden, durch Aotearoa, über das Zentralmassiv hinein nach Laurussia mit seiner alten Hauptstadt Hyperion und weiter über die Verfluchten Berge in ein Land, das ich nach einigen Mühen als „Ar-Nhim“ entzifferte.

Ich stutzte. Diesen Namen hatte ich doch schon einmal gelesen. Ob er dem Vokabular der Opreju entlehnt war? Oder der Uhleb?

Ah, dort lag also die Große Caldera, im Herzen Yalgas. Und am unteren linken Kartenrand ein riesiges Gewässer, der Taorsee. Obwohl schon beträchtlich lädiert, waren einige wenige Farben erhalten geblieben, vor allem das tiefe Blau der Gewässer und das Eisenbraun der Gebirge. Hier und da fanden sich noch olivgrüne Tupfer, die einst stilisierte Wälder kolorierten. Als ich mit dem Fingernagel sacht über das Kobaltblau der Tethys strich, bröckelte Farbe ab und hinterließ den Hauch eines Schattens auf nacktem, vergilbtem Pergament. Behutsam schloss ich den Umschlag wieder, stufte ihn als wertvoll ein und bettete ihn vorsichtig in den Sand. Neben anderen Schriften, die ich bereits durchforstet hatte, fiel mir auch das Tagebuch von Philip J. Patterson wieder in die Hände. Ich nahm mir vor, es genauer zu studieren und legte es ebenfalls beiseite.

„Dies hier dürfte so etwas wie eine Chronik sein“, meldete sich Krister. „Nach Jahren sortiert, so wie es aussieht. Beginnt im Jahre 51.“

„In unserer Sprache geschrieben?“ erkundigte ich mich leicht abwesend.

Krister warf mir den schweren, großformatigen Band zu.

„Und ob. Aber pass auf, die Seiten sind lose!“

„Gar nicht mal so schlecht erhalten.“ Beim Öffnen des Einbandes fiel mir der halbe Inhalt entgegen. Poröse, zum Teil aufklappbare Innenseiten verschieden großer Formate mit mehr oder weniger gut erhaltenen gedruckten Illustrationen aller Art weckten mein Interesse. Detailgetreue Bilder von Tieren, die ich nur zum Teil erkannte. Akribisch genau wiedergegebene Pflanzen und Bäume. Herrliche Landschaftsabbildungen, Fotografien, wie ich annahm. Die Kunst des Fotografierens war nach dem Großen Krieg verlorengegangen. Wohl gerade deswegen faszinierten mich Fotografien so sehr. Eine Menge Aufnahmen von wunderschön gemauerten Häusern mit meisterhaft gearbeiteten Fassaden, überdachten Terrassen und kunstvoll verzierten Säulen. Ansichten einer großen Stadt, die vom Meer bis in die Berge reichte. Womöglich bestand sie aus den vielen schönen Häusern, die ich ein paar Seiten vorher bewundert hatte. Dann folgten mehrere Darstellungen von grotesk anmutenden, walzenförmigen Gebilden auf vier oder auch sechs Laufrädern, darunter welche mit starr abstehenden, flügelartigen Auswüchsen.

Sehr eigenwillig.

Aber das Beste daran: alle Abhandlungen, jede Notiz war in unserer Sprache geschrieben. Es würde sich also für alles eine Erklärung finden. Mein Interesse wuchs von Seite zu Seite. Beim ersten Mal war mir dieser Band gar nicht aufgefallen. Das versprachen lange Abende zu werden. Ich konnte es kaum erwarten, das Bild von Gondwana korrigiert zu sehen.

Der gebratene Speck roch köstlich. Krister legte noch einen Armvoll Feuerholz nach. Inmitten der Glut schmorten Kartoffeln in ihrer Schale. Erst jetzt bemerkte ich, wie hungrig ich war und vergab Krister, der mich irgendwann hatte alleine sitzen lassen, um sich so etwas Niederem wie der Verköstigung zu widmen. Da wir davon ausgegangen waren, die Nacht auf Radan zu verbringen, durfte es natürlich nicht an Proviant fehlen. Dafür war bestens gesorgt. Als Krister ein Dutzend Eier aufschlug und in dem ausgelassenen Speck anbriet, war es endgültig um mich geschehen. Hungrig wie ein Wolf fiel ich über meine Ration her.

„Schon irgendetwas Aufschlussreiches herausgefunden?“ fragte Krister mit vollem Mund.

Ich schüttelte den Kopf. Davon war ich auch nicht ausgegangen. Das genaue Studium der Funde würde wahrscheinlich Tage in Anspruch nehmen. Immerhin hatte sich ein ansehnlicher Berg von verwertbarem Material angesammelt. Ich brannte darauf, den vielen verwelkenden Seiten ihr Geheimnis so schnell wie möglich zu entlocken, als erwartete ich in Bälde ihren unwiderruflichen Zerfall.

Bis zum Sonnenuntergang hatte ich es schließlich geschafft, die Spreu vom Weizen zu trennen. Krister stopfte die Ausbeute in zwei Leinensäcke, die wir zum Boot schleppten. Während er das Nachtlager direkt am Strand bereitete, machte ich mich daran, die aussortierten Schriften, die sich noch immer auf dem nackten Sandboden türmten, in die Höhle zurückzubringen. Bedeutend behutsamer als beim erstenmal stapelte ich sie hinter der zusammengestürzten Mauer auf, akribisch darauf achtend, nicht auf unseren armen Kerl zu treten. Nachdenklich ging ich in die Knie und betrachtete im Licht der Fackel die Überreste des Toten. Er lag auf dem Rücken, ganz so als wäre er im Schlaf gestorben. Jedenfalls redete ich mir das ein.

Das Skelett erschien männlich, ich führte es auf die markanten Muskelansätze zurück, vor allem an den beiden Hüftkämmen. Der Unterkiefer war kräftig geformt, mit ausstehenden Kieferwinkeln, die Zähne zum Teil ausgefallen. Wie er wohl umgekommen war? War er wirklich bei lebendigem Lein eingemauert worden, wie Rob vermutet hatte, oder schon vorher tot gewesen? Diese Frage würde wohl für immer unbeantwortet bleiben. Irgendwie fühlte ich mich schuldig. Wer weiß wie viele Jahrhunderte der arme Kerl seinen Schatz bewacht hatte, bevor ich daherkam und ihn ihm für immer entriss.

Mein Blick fiel auf den rechten Ringfinger des Toten. Er war glatt in der Mitte durchgebrochen. Krister war beim Ablösen des Rings nicht zimperlich umgegangen. Kopfschüttelnd richtete ich mich wieder auf und blieb unschlüssig stehen. Hatte sich der Tote nicht ein anständiges Grab verdient? Der fortgeschrittene Zerfall sprach dagegen, die porösen Knochen umzubetten. Nein, hier, wo er seit einer halben Ewigkeit lag, sollte er auch bleiben. Ich beschloss, das Gerippe wenigstens notdürftig zu bedecken, jetzt wo es so offen dalag und keine Mauer mehr Schutz spendete.

Kurz entschlossen häufte ich mit Armen und Händen Sand und Kies an. Dabei berührte ich mit den Handkanten einen vergrabenen Gegenstand, der zuerst an einen Schaufelschaft erinnerte. Doch organische Substanz hätte längst vermodert sein müssen, und meine forschenden Finger erkannten sehr schnell, dass es sich mitnichten um Holz handelte. Nein, es war ein durchaus härteres Material, ich tippte sogleich auf Eisen. Schnell hatte ich ihn freigelegt, einen ungefähr anderthalb Meter langen Stab. Leicht lag er in der Hand, viel zu leicht. Eisen konnte es schlecht sein, nicht die Spur von Rost fand sich auf seiner stumpfen, silbergrauen Oberfläche. Material wie dieses hatte ich noch nie gesehen. Es war in der Tat leicht wie Holz, sah aber aus und fühlte sich auch an wie Metall. Mein Fund faszinierte mich von Sekunde zu Sekunde mehr. Was Krister wohl dazu sagen würde? Gewissenhaft führte ich die mir selbst auferlegte Arbeit zu Ende und bedeckte das Skelett von oben bis unten, bevor ich die Höhle verließ, den Strand hinunterlief und Krister stolz meine neueste Errungenschaft präsentierte.

„Liegt prächtig in der Hand“, meinte der nach einer ersten Untersuchung. „Merkwürdiges Material allerdings.“

„Ja, nicht wahr? Wahrscheinlich eine Schlagwaffe aus der Alten Zeit.“

„Zum Schlagen eignet sie sich auf jeden Fall prächtig.“ Krister holte weit aus und wirbelte den Stab fauchend umher. „Was meinst du, tauschen wir? Ring gegen Stab?“

Ich kam mir vor wie ein Leichenfledderer.

„Danke, kein Interesse“, gab ich kühl zurück. Mochte Krister seinen lumpigen Ring behalten. Mit diesem Stab ließ sich weitaus mehr anfangen.

Widerwillig händigte er ihn dann auch wieder aus.

„Also doch nicht nur altes Geschmier. Wer weiß, was noch alles vergraben da drinnen rumliegt?“

Ich wusste, was nun kommen würde. Immerhin erklärte sich Krister bereit, die unmittelbare Nähe des Skeletts unangetastet zu lassen. Doch all sein Buddeln und Wühlen brachte nichts mehr zu Tage. Wir hatten der Höhle alle Schätze entrissen.

Nach Einbruch der Dunkelheit legten wir uns zum Schlafen nieder. Ich starrte hinauf in den prächtig funkelnden Sternenhimmel und wurde mir zum tausendsten Mal meiner kleinen und unbedeutenden Existenz gewahr, diesen Wimpernschlag in der unendlichen Zeitrechnung des Universums. Der Gedanke gefiel mir vom ersten Moment an, als er mir vor vielen Jahren in den Sinn kam. Unbedeutend, ein Niemand zu sein, hatte etwas ungemein Beruhigendes an sich.

Das Lagerfeuer prasselte knisternd vor sich hin und zeichnete lange, flatternde Schatten des uns umgebenden Buschwerks. Niemand sprach eine Silbe, und als ich tief in Gedanken längst überzeugt war, dass Krister eingeschlafen war, meldete er sich ohne Vorwarnung zu Wort.

„Sicher bin ich nicht, ob ich all das wissen möchte, was wir im Begriff sind zu erfahren.“ Aha, auch ihm schien das Ergebnis des vergangenen Tages den Schlaf zu rauben.

„Wir wissen leider schon viel zu viel. Es lässt sich nicht mehr ändern.“

„Die Frage ist, ob ich all das glauben kann. Es klingt so phantastisch, so unwirklich. Stammen wir in der Tat von einem anderen Planeten? Bis heute hatte ich an so etwas nicht im Entferntesten gedacht. Und nun weigere ich mich einfach, es anzunehmen, nur weil es in irgendeinem Buch steht, das jemand vor Hunderten von Jahren geschrieben hat.“

Ich sagte darauf nichts. Dieser Zweifel war mir kein Unbekannter. Dennoch spürte ich, dass es der Wahrheit entsprach. Irgendetwas in mir weigerte sich standhaft, das ganze abzulehnen oder als bloßes Hirngespinst abzutun. Nein, da steckte mehr dahinter. Viel mehr.

„Gute Nacht, Krister.“ Schläfrig rollte ich zur Seite und zog die Decke enger zusammen. Der weiche und noch warme Sandboden erwies sich als bequemer und wohlriechender wie das muffige Stroh zuhause. Ginge es nach mir, schliefe ich immer im Freien.

Als ich hochschreckte, war das Feuer heruntergebrannt. Die Asche glimmte nicht mehr. Tiefste Dunkelheit herrschte, kein Stern leuchtete. Für einen Augenblick wusste ich nicht, wo ich mich befand. Warum war ich so jäh erwacht, wo mich nicht einmal der Anflug eines Traumes geplagt hatte? Es dauerte ein wenig, bis ich überzeugt war, nicht in unmittelbarer Gefahr zu schweben. Erst dann hörte ich das Flüstern. Wie ein leises Raunen drang es an mein Ohr, als wisperte mir der Wind eine geheime Botschaft zu. Ich lauschte schreckenstarr. Phantasierte ich oder spielte mir Krister einen üblen Streich? Wie versteinert lag ich da, unfähig auch nur den kleinen Finger zu bewegen.

Was zum Teufel war das?

Endlich streifte ich die Starre ab und richtete mich auf. Das Geflüster dauerte an, es kam nicht aus Kristers Richtung, das stand fest. Nein, es kam von woanders her, von ganz woanders.

Das Flüstern kam aus der Höhle!

Es drang aus dem schwarzen Schlund!

In der Sekunde, in der es mir klar wurde, verstummte die leise Stimme. Lauschend stand ich da und fragte mich allen Ernstes, ob ich noch klar bei Verstand war. Sollte ich der Sache auf den Grund gehen? Die Fackel wäre schnell entfacht, keine Frage. Doch bei dem Gedanken, mich jetzt in die Höhle vorzuwagen, stellten sich meine Nackenhaare einzeln auf. Nein, nicht jetzt. Nicht mitten in der Nacht.

„Was ist los, Jack?“

Kristers Stimme ließ mich zusammenfahren. Fast hätte ich laut losgeschrien.

„Himmel, hast du mich erschreckt“, entfuhr es mir.

„Was stehst du da rum? Wieso schläfst du nicht? Wieder einer dieser Träume?“

„Sieht ganz so aus“, murmelte ich und legte mich umständlich wieder hin. Krister wach zu wissen und seine Stimme zu hören, beruhigte ungemein.

„Versuche wieder einzuschlafen“, sagte er. „Wir haben noch die halbe Nacht vor uns.“

„Ich gebe mein Bestes“, versprach ich. Tatsächlich dauerte es eine Ewigkeit, bis mein rastloses Gehirn den dunklen Schleiern der Müdigkeit erlag und ich endlich wegdämmerte. Stimmen vernahm ich nicht mehr. Jedenfalls keine, die aus der mysteriösen Höhle drangen.

04 AUFBRUCH

Die Sichtung der Ausbeute nahm weniger Zeit in Anspruch als zunächst angenommen. Der Zerfall des gesamten Materials schien im Zeitraffer abzulaufen. Sonnenlicht und salzhaltige Luft trugen wohl mehr dazu bei, als sich abschätzen ließ. Grob gesagt bröckelten die bereits stark in Mitleidenschaft gezogenen Schriften buchstäblich unter den Fingern weg.

In einer Nacht-und-Nebel-Aktion schaffte ich die beiden Säcke und den eisernen Stab ins Haus und verwahrte alles in meiner Kammer. Tagsüber verhielt ich mich wie sonst auch und verrichtete die alltäglichen Arbeiten. Nach Sonnenuntergang aber, wenn es im Haus totenstill geworden war, ging ich gänzlich anderen Tätigkeiten nach. Im Licht herunterbrennender Kerzen verwandelte ich mich in einen Forscher auf einer Reise in die Vergangenheit. Wenig Schlaf gönnte ich mir in den Nächten meines Studiums. Einzelne Puzzlestücke, die ich verschiedenen Quellen entnahm, formten allmählich ein Bild. Vieles, was ich bereits beim ersten groben Durchblättern zusammen mit Rob auf Radan erfahren hatte, vertiefte sich auf der einen Seite, widersprach sich auf der anderen – oder zumindest kam es widersprüchlich vor – und warf neue Fragen auf. Fragen, auf die ich mir nach der Lektüre anderer Schriftstücke Antworten zusammenreimen konnte, aber auch welche, die Teile des zusammengesetzten Mosaiks wieder in Dunkelheit tauchten.

Das Tagebuch von Philip J. Patterson stellte ein wichtiges Bindeglied dar. Es zeichnete ein unverfälschtes Bild vom Alltag in einer Siedlung namens Kelvin ganz im Süden Laurussias, in einem Land, das in den Karten Gondwanas die Bezeichnung „Angmassab“ trug. Wie es aussah, stellte es auch das einzige Werk gänzlich privaten Hintergrunds dar. Und leicht verständlich. Hier hatte ein junger Mensch Gedanken und Empfindungen mit der eigenen Hand niedergeschrieben.

Der überwiegende, weniger spektakuläre Teil präsentierte sich in Druckschrift, so wie die wenigen alten Bücher, die noch in Stoney Creek kursierten und von denen die meisten in der Kambera lagerten. Die gedruckten Bücher (oder die noch lesbaren Teile davon) waren wissenschaftlicher Natur, nüchtern geschrieben und von der Wortwahl eher kompliziert. Da verhielt es sich mit den handgeschriebenen schon anders. Zwar hatte der Zahn der Zeit gerade an ihnen mit besonderer Vorliebe genagt, dennoch fanden die Informationen, die sie preisgaben, mein ungeteiltes Interesse. Auch stellte ich überraschenderweise fest, nichts aber auch gar nichts über Aotearoa im Einzelnen oder Avenor im Besonderen gefunden zu haben. Es wirkte beinahe so, als existierte meine Heimat überhaupt nicht außer auf den Landkarten. Nichts zu seiner Geschichte. Nichts über die Menschen, die dort lebten. Alles drehte sich um Laurussia.

Vier lange Nächte verbrachte ich mit dem Studium. Dann hatte ich alles durchforstet. Und blieb enttäuscht zurück. Keine Informationen über den Großen Krieg. Kein Hinweis auf diese Lebensform namens „Skiavos“, die Patterson mehrfach in seinem Tagebuch erwähnt hatte. Nicht viel mehr über die Opreju. Nur der Hinweis auf Travorsa, die zweimal als „Insel der Opreju“ bezeichnet wurde. In diesem Zusammenhang fiel auch der Name eines merkwürdigen Landes, des „Landes der Sonnensteine“, in das die Xyn angeblich keinen Zugang hatte. Dennoch ging dort niemals das Licht aus, da Tausende von leuchtenden Steinen, so hell, dass ein Mensch bei ihrem Anblick erblinden würde, der Finsternis Einhalt geboten. In diesem sonderbaren Land lebte der „Rote Herrscher“, den die Opreju offenbar als Gottheit verehrten. An anderer Stelle stieß ich noch einmal auf den Roten Herrscher und den Hinweis über seine Vernichtung am Fluss Algon durch die „Ermeskul“.

Skiavos.

Roter Herrscher.

Ermeskul.

Sehr verwirrend. So vieles ergab keinen Sinn. Noch nie zuvor waren mir diese Namen zu Ohren gekommen. An sich wollte ich etwas über die Skiavos erfahren, kam bei der Suche nach Informationen über sie stattdessen in Berührung mit Bezeichnungen, die mir noch weniger sagten.

Dafür fanden sich Berichte über das Leben auf Vestan vor dem Exodus der Menschheit. Abhandlungen über einen Planeten namens Erde, dem angeblichen Ursprung der menschlichen Rasse. Sogar einige stark angegriffene Landkarten, die die fünf Landmassen der Erde zeigten. Wenig ließ sich noch entziffern. Begriffe wie „Africa“ und „Eurasia“ waren gut lesbar, von anderen Bezeichnungen, wie jenem aus zwei mächtigen Teilen bestehenden Kontinent, die mittels einer schmalen Landbrücke verbunden waren, existierten nur noch Fragmente. Ich glaubte jedoch „Septentrionalis“ und „Meridionalis“ herauszubuchstabieren.

Auch eine Karte von Vestan fand sich, das drei Kontinente aufwies, deren Namen ich deutlich lesen konnte: Rodinia, Laurentia, Pannotia.

Und dann natürlich die überwältigenden Zeichnungen des Sternenschiffs „Britannic“. Ich konnte mich gar nicht sattsehen an dieser überragenden Konstruktion, die mit nichts Ähnlichkeit hatte, was ich kannte. Ohne weiteres akzeptierte ich, mit einem Gefährt wie diesem durch das Weltall reisen zu können. Wenn überhaupt, dann damit!

Einzig und allein die gedruckte Zeittafel über die Besiedelung Gondwanalands mit exakten Datumsangaben enthielt wertvolle Informationen über die Anfänge der Kolonisation. Es sah alles so echt aus, so glaubhaft. Ich spürte meine Zweifel weichen. Was in den vergangenen Nächten geschehen war, ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Ich war ein neuer Mensch geworden, streifte eine alte Haut aus Lug und Trug ab. Was auch immer unter ihr zum Vorschein kommen mochte, eines war klar: ein Zurück gab es nicht mehr. Dieser Prozess war unumkehrbar. Noch begriff ich die Tragweite dieses Ereignisses nicht, aber etwas war in Bewegung geraten, der erste Stein ins Rutschen gekommen, ein kleiner nur, aber er genügte um einen unaufhaltsamen Erdrutsch in Gang zu setzen, der donnernd zu Tal gehen und alles mit sich reißen würde, was ihm im Weg stand.

Ich sah auf, als hätte mich ein Geist berührt. Verstand ich schon, was vor sich ging? Natürlich nicht. Ich befand mich noch ganz am Anfang, aber mir dämmerte es dennoch. Etwas Großes zog herauf.

Fröstelnd raffte ich die Decke fester um die Schultern, als mein Blick wieder auf die Karte fiel, die das Xyn-System darstellte. Sieben Planeten. Sieben statt sechs. Ein unbekannter namens Pangäa hatte sich dazugesellt, von dem ich noch nie etwas gehört hatte, einer ehemals blau kolorierten Kugel von ungefähr der gleichen Größe Gondwanas. Deutlich kleiner als Oodis oder gar Tauri, der enorme Ringplanet, aber größer als Taran, Belfeg oder Itiko, die drei kleineren Gestirne des Xyn-Systems. Sieben Planeten... warum war er mir unbekannt? Wenn er existierte, wovon ich ausging, wieso hatte ich ihn noch nie am Firmament ausgemacht?

Die Antwort darauf dämmerte mir im nächsten Moment. Natürlich! Weil er mir nie gezeigt worden war. Der Nachthimmel wimmelte von unzähligen Sternen. Warum sollte nicht einer dieser blassen Lichtpunkte Pangäa heißen? Sehr wahrscheinlich sogar.

Müde und mit schweren Lidern löschte ich endlich die Kerze und streckte mich auf meiner Bettstatt aus. Die Dunkelheit tat den geschundenen Augen gut. Mir wurde erschreckend klar, nichts erfahren zu haben, was dabei hätte helfen können, etwas über Robs Aufenthaltsort herauszufinden. Eine ganze Woche war er nun schon fort. Vater hatte sich mehrfach erkundigt, ob ich nicht etwas wüsste, ob er am Ende nach Cape Travis verschwunden war, diesem Mädchen hinterher, in das er sich letzten Sommer verguckt hatte. Diese Erklärung erschien einleuchtend, und ich bestärkte ihn in diesem Glauben. Dennoch glaubte ich keine Sekunde daran. Mein Vater schien sich wenig Sorgen zu machen. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass sich sein ältester Sohn für einige Tage auf und davon gemacht hätte. Aber ohne Abmeldung? Ohne ein Wort? Das passte nicht zu ihm.

Der herannahende Schlaf griff nach mir. Doch noch weigerte ich mich, ihm nachzugeben. Was sollte ich nur tun? Wie sollte ich Rob aufspüren? Mit jeder Stunde, die verging, wurde mir sein endgültiger Fortgang bewusster, fühlte ich immer eindringlicher, dass er nicht mehr zurückkommen würde. Konnte ich dann so einfach hier liegen und schlafen?

In jener Nacht glaubte ich endlich zu verstehen, warum mich jene Träume mit beunruhigender Regelmäßigkeit überfielen. Wieder stand mein Bruder im Mittelpunkt, er rannte wie ein Gejagter über endlos weite Wiesen. Ich sah sein vor Anstrengung verzerrtes Gesicht, das schweißnasse Haar, welches wirr an seinem Schädel klebte. Und schwarze Tränen, die in Strömen aus weit aufgerissenen Augen rannen.

Dann verlor er sich in der Entfernung, bis mir klar wurde, wie ein Vogel weit über ihm zu schweben, immer höher hinaufsteigend in ein grenzenloses Firmament. Am Horizont machte ich Berge aus, eine Gebirgskette mit hohen, schneebedeckten Gipfeln. Dahinter formte das Meer eine Bucht, die weit ins Land ragte. Dort an der Küste, umspült von eisgrauen Wellen, lag eine große Stadt, die von der Küste bis hinauf in die Berge reichte. Ein Meer aus schneeweißen Häusern. Ich flog direkt darauf zu, hatte Rob weit hinter mir gelassen. Die Wolken rissen auf und gleißende Sonnenstrahlen beleuchteten jene Stadt. Über sie hinweg schaukelnd sah ich nach unten, machte Einzelheiten aus, erkannte die schönen hellen Häuser zum größten Teil eingefallen, als hätte eine Naturkatastrophe das Gebiet erschüttert und Tod und Verderben gebracht. Dennoch wirkte sie so wunderschön erhaben und intakt, diese weiße Stadt, die sich von der See bis in die sie schützend umgebenden Berghänge hinzog.

Dann war der Moment vorüber, Wolken zogen auf und Regen fiel. Ich flog immer noch, aber jetzt wieder zurück, an einem breiten Flusslauf vorbei, der sich wie ein blaues Band durch das ebene, saftig grüne Land zog, und strich wieder über die schneebedeckten Kronen des Gebirgszuges. Ich sah Rob erneut laufen, auf das Gebirge zu. Wollte er es überqueren? Konnte ich ihn nicht aufhalten, ihn umdirigieren? Aber ich trieb an ihm vorbei, passierte ihn ohne bemerkt zu werden, und einen Flügelschlag später war er aus meinem Blickfeld verschwunden.

Die weiße Stadt! Als ich anderntags erwachte, hatte sich ihr grandioser Anblick tief und in allen schillernden Farben in die Erinnerung gegraben. Eine großartige Stadt, erbaut zwischen Bergen und Meer! Jetzt im hellen Morgenlicht erschien mir dieses Bild nicht mehr so fremdartig. Wo hatte ich es schon einmal gesehen?

Gedankenvoll kletterte ich aus meiner Schlafstatt und griff zielsicher nach einem dicken Bildband mit vielen gedruckten Fotografien. Tatsächlich! Da waren sie! Es handelte sich um die alte Hauptstadt Laurussias, handelte sich um Hyperion!

Mit wild klopfendem Herzen blätterte ich weiter, jedes einzelne Bild genauestens prüfend. Konnte es sein? War Rob auf dem Weg nach Hyperion? War dies der Hinweis, den ich mir erhofft hatte? Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr war ich davon überzeugt. Der Gedanke, ihm zu folgen, reifte innerhalb weniger Stunden von bloßer Idee zu wahrer Besessenheit. Ich musste es tun. Ich musste!

An diesem Nachmittag sprach ich endlich meinen Vater an. In seiner Werkstatt arbeitend fand ich ihn beim Ausbessern der von den heftigen Winterstürmen arg in Mitleidenschaft gezogenen Fensterläden auf. Vater war in dieser Hinsicht fabelhaft, ich bewunderte ihn für sein handwerkliches Geschick. Er war Zimmermann, Maurer, Tischler, Dachdecker, Steinsetzer und was weiß ich nicht noch alles in einer Person. Und er arbeitete akkurat wie kein Zweiter. Seine Qualitätsarbeit genoss guten Ruf in Stoney Creek. Sommers wie winters gab es für ihn immer zu tun. Das Fischen stellte nur einen Nebenerwerb dar, eine Art Zeitvertreib für seine beiden Söhne. Rob hatte kurz vor seinem Verschwinden noch mit dem Gedanken gespielt, sich ein eigenes Boot zu bauen und dann ganz und gar als Fischer zu verdingen. Die Vorstellung, meinen Lebensunterhalt auf See zu verdienen, früh am Morgen hinaus zu segeln, um abends mit reichem Fang zurückzukehren, gefiel mir ausnehmend gut. Zumal ich handwerkliche Fähigkeiten leider nicht vererbt bekommen hatte.

Mein Vater sah von seiner Arbeit auf. Die Sonne fiel durch das Fenster direkt auf ein vom Leben zerfurchtes Gesicht und zeichnete es schonungslos in allen Einzelheiten. Mir fiel erneut auf, wie schnell er alterte. Die Veränderungen, die Mutters Tod vor eineinhalb Jahren mit sich brachten, hatten tiefe Spuren in seinem schwermütigen Antlitz hinterlassen.

Wir beiden Kinder hatten von klein auf ein merkwürdig zurückhaltendes Verhältnis zu unserem Vater entwickelt, Rob vielleicht sogar noch ein ganzes Stück mehr als ich. Irgendwie war es nie gelungen, Zugang zu ihm zu finden. Ich spürte zwar instinktiv eine Art von verstümmelter Zuneigung, doch drückte sie sich zu keiner Zeit in für ein Kind begreiflicher Form aus. Früh fühlte ich mich von ihm lediglich geduldet, jedoch nie angenommen oder gar geliebt.

Liebe fanden wir dafür stets bei unserer Mutter, die sich – so schien es – doppelt Mühe gab, ihren beiden Söhnen ein nötiges Maß an Herzenswärme zukommen zu lassen.

Wir lernten zeitig, unseren Vater in Frieden zu lassen, ihn nicht in der Werkstatt aufzusuchen, in der er tagein tagaus bis spät in die Nacht arbeitete, ihn nicht zu bitten, uns mit aufs Meer oder auf die Jagd zu nehmen. So blieb er auf eigenartige Weise ein Fremder, ein Unbekannter, der zufälligerweise mein Vater war. Robert Schilt sr. jedoch tat alles für seine Familie, es mangelte nie an irgendetwas. Er sorgte aufopferungsvoll für uns alle, daran gab es keinen Zweifel. Womöglich stellte dies die einzige für ihn mögliche Form dar, seinen Kindern so etwas wie Wohlwollen zu zeigen.

Oft fragte ich mich, wie meine Mutter jemals etwas für ihn empfunden haben konnte, für ihn, der meiner Erfahrung nach außerstande war, Gefühle zu zeigen, geschweige denn sie in Worte zu fassen. Unsere Mutter gab uns stets die gleiche Antwort: „Es ist schade, wie wenig ihr euren Vater kennt. Er liebt euch beide sehr, so wie er mich liebt.“ Dann strich sie uns übers Haar und lächelte entrückt.

An dem Tag, an dem sie uns für immer verließ, war unser Vater genauso abwesend wie bei der Geburt seiner Söhne. Erst Tage nach ihrer Beisetzung tauchte er wieder auf und widmete sich wortlos noch intensiver seiner Arbeit, wenn das überhaupt möglich war. Ihren Namen erwähnte er nie wieder. Nur einmal habe ich ihn klagen hören, spät nachts, eingeschlossen in seiner Kammer. In jenem Moment hätte ich ihn gerne getröstet, den Schmerz geteilt. Undenkbar jedoch. Selbst wenn sich die Tür geöffnet und er in seiner Trauer vor mir gestanden hätte, würde ich es nicht geschafft haben, ihn in die Arme zu nehmen. Die unsichtbare Mauer zwischen uns erwies sich als unüberwindlich.

Vor wenigen Tagen, als ich ihm von Robs Verschwinden erzählt hatte, offenbarte sich ums andere Mal ihre unbezwingbare Höhe. Er schien es nicht einmal bemerkt zu haben. Noch weniger machte er sich offensichtlich Sorgen. Dinge wie diese hatten keinen Platz mehr in seiner Welt. Wären wir beide gleichzeitig auf und davon gewesen, er würde es wahrscheinlich erst nach Wochen realisiert haben. Weder ich noch Rob hatten jemals einen richtigen Platz in seinem Leben erobern können. Vor langem hatte ich es aufgegeben, mich darum zu bemühen, geschweige denn, unseren Vater verstehen zu wollen.

Nun sah er mich an. Hobelspäne hatten sich in seinem salz- und pfefferfarbenen Haar verfangen, die Stirn glänzte vor Anstrengung. Er war überrascht, mich zu sehen. Um diese Tageszeit war ich selten in der Nähe des Hauses. Vermutlich wähnte er mich eher beim Fischen oder bei der Verrichtung sonstiger Tätigkeiten, falls er je Gedanken daran verschwendete, wo sich seine Söhne überhaupt herumtrieben. Ich spürte genau, ihn zu stören. Er hingegen bemerkte meine Absicht, ihm etwas mitteilen zu wollen.

„Spuck es einfach aus!“ forderte er kurzerhand. Zuweilen gefiel mir seine barsche Art sogar.

Und ich spuckte es aus.

„Ich glaube, Rob ist auf dem Weg nach Laurussia.“

Die Augen des alten Robert Schilt verengten sich.

„Wie kommst du darauf?“