Kitabı oku: «Rattentanz», sayfa 16
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24. Mai, 00:05 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen, Intensivstation
Eva hatte darauf gewartet, dass, sobald sie die Leichen so weit weggezogen hatte, dass Joachim Beck durch das zerschlagene obere Glas hereinklettern konnte, Ritter und seine Kumpane aus dem Dunkeln hervorspringen und sich auf sie stürzen würden.
Als sie hinter ihrer Leichenbarrikade saß, abwartete und die Wut der Männer draußen im Ohr hatte, als diese dann plötzlich verschwanden und zur Dunkelheit auch noch Stille einkehrte, als der Moment kam, an dem sie aktiv nichts mehr tun konnte, da endlich wurde ihr mit einem Schlag die Ausweglosigkeit ihrer Situation bewusst. Nur durch tote Leiber und eine nachgebende Glastür von ihr getrennt warteten drei Männer darauf, über sie herzufallen. Sie zu töten. Oder sie zu vergewaltigen, einer nach dem anderen, immer wieder, bis sie den Spaß an ihr verloren hätten. Und dann erst zu töten.
Doch dann hatte sie die Stimme des Polizisten gehört.
Sie hatte sich eine kleine Taschenlampe von der Station geholt und so hingelegt, dass sie die Barrikade ein wenig erhellte. Im Schein dieser kleinen Lampe lächelte sie eine kleine, alte Frau an. Fast mitleidig, so schien es Eva. Die Frau lag ganz oben, die Haut zerbrechliches Pergament mit dunklen Flecken. Ihr Mund war zu einem Lächeln verzogen, stand halb offen und der obere Teil der Zahnprothese hatte sich gelockert und hing jetzt schief zwischen den dünnen Lippen der Toten. Sie blickte durch Eva hindurch, als könne sie hinter der Krankenschwester einen Punkt in der Ferne fixieren, eine nur ihr zugängliche Zukunft erkennen. Als dann Becks Stimme zu hören war, zuckte Eva zusammen und starrte ins Gesicht der Alten. Hatte sie nach ihr gerufen?
Der Polizist brauchte fast zehn Minuten, um Eva von seiner Existenz zu überzeugen. Dann endlich war sie aufgestanden. Was soll’s, hatte sie gedacht, wenn die anderen auch noch da draußen sind und gleich hinter Beck hereinklettern, dann ist es wenigstens bald vorbei. Was früher beginnt, ist auch früher zu Ende. Und dass sie Ritter nicht entkommen konnte, stand in diesem Moment für sie außer Frage. Sie zog drei Leichen auf den Boden, dann brach Beck mit einem Feuerlöscher die zerbrochene Scheibe heraus und kletterte zu ihr herein.
Nur er.
Während er ihr alles erzählte − warum er hier war, die Patrouillen in der Stadt, seine Begegnung mit Mehmet und wie er sie im OP-Trakt eingeschlossen hatte −, ließ Eva das Loch in der Tür keine Sekunde aus den Augen. Aber es erschienen weder Ritters Fratze, in der ein Zahn fehlte, noch die Visage Mehmets. Und auch von dem Typen im Mantel war nichts zu sehen. Beck kam allein.
Um sie zu retten?
Eva wechselte ihre Dienstkleider und wusch sich wie in Trance mit Mineralwasser Blut und Erdbeercreme ab. Dann brachte sie Beck zu Stiller.
Stiller zu wecken wurde schwieriger als gedacht. Das Mittel, welches Eva ihm gegeben hatte und das leicht für einen Elefanten gereicht hätte, hatte den Arzt mit einem tiefen, traumlosen Schlaf ausgefüllt. Nur widerwillig erwachte er. Schließlich schnitt Eva den Plastikhals einer Flasche mit Infusionsflüssigkeit ab und goss Stiller den Inhalt – ein tausend Milliliter Salzlösung, angereichert mit diversen Mineralien und Spurenelementen – ins Gesicht. Stiller sprang auf, hustete und spuckte auf den Boden.
»Was, was wollt ihr?« Er blickte sich in der Dunkelheit um. »Wer hat geschossen? Wo sind sie?« Sein Blick hetzte umher.
Im Schein von Evas Lampe wurde der Assistenzarzt wieder zu Gollum. Die dünnen Haarsträhnen klebten ihm am Kopf, er stand leicht vornübergebeugt, wartete sprungbereit, wie ein Raubtier, das zwischen Angriff und Flucht schwankt. Seine großen Augäpfel wanderten zwischen der Krankenschwester und dem Polizisten hin und her. Dann erinnerte er sich.
Eva berichtete ihm, was geschehen war, während er geschlafen hatte.
»Und warum sind Sie noch hier?«, fragte er Beck.
»Ich bin wegen der Schwester zurückgekommen. Und wegen der hier.« Der Polizist hielt dem Arzt seine blutverkrustete Hand vors Gesicht. Diagonal über die Handfläche, eine zusätzliche Lebenslinie, die jeder Wahrsagerin in Zukunft Schwierigkeiten bereiten würde, klaffte ein tiefer Schnitt, ein zweiter verlief parallel zum ersten über die Innenseite seiner Finger. Nur der Daumen war unverletzt. Die Wundränder an den Fingern waren glatt, zwar leicht gerötet und geschwollen, aber sauber. Ganz anders in der Handfläche. Hier klafften die ausgefransten Ränder weit auseinander, weiße Schlieren dazwischen, und das Fleisch ringsum glühte.
»Das sollte in der Ambulanz ausgeschnitten und gesäubert werden«, empfahl Stiller. »Wenn die Entzündung nicht bald behandelt wird, sind Sie die für immer los.« Er zeigte auf Becks Hand.
»Ambulanz? Haben Sie mir vorhin nicht zugehört, Doktor? Es gibt keine Polizeiwache mehr, auf der Sie einen Unfall melden könnten, es gibt keine Banken mehr, wo Sie ein wenig Geld abheben können, es gibt keine Supermärkte mehr und«, Beck hielt dem Arzt seine Hand erneut unter die Nase, »es gibt auch keine Ambulanz mehr, wo ich das hier behandeln lassen kann!«
»Sie müssen ihm helfen, Doktor.« Eva richtete die Lampe auf Becks Hand. »Wenn wir nichts unternehmen, wird er die Hand verlieren. Min destens.«
»Aber ich bin kein Chirurg! Ich bin Anästhesist!«
»Sie sind Arzt.«
»Das ist ja wohl nicht dasselbe!«
Eva leuchtete Stiller jetzt direkt ins Gesicht. »Aber Sie sind der Einzige hier, der die Kenntnisse hat, das zu behandeln. Und während Ihres Studiums haben Sie doch auch chirurgische Einsätze gehabt.«
»Das ist jetzt fast fünfzehn Jahre her«, sagte Stiller.
Beck zog den Ärmel seiner Jacke hoch. Auch der Unterarm war gerötet und strahlte Hitze aus.
»Sie werden mir jetzt helfen, Doktor!«
»Ich hole alles, was wir brauchen«, sagte Eva.
Stiller zögerte, dann gab er sich einen Ruck. »Also gut. Aber erst will ich einen Kaffee!« Stiller stapfte mit einem weiten Schritt über sein Schlaflager aus dem Büro Richtung Aufenthaltsraum.
»Kaffee?« Evas Lachen klang traurig. »Und wie wollen Sie den machen? Ich meine, so ganz ohne Strom?«
»Aber ich brauche jetzt einen Kaffee!« Stiller stand bockig wie ein kleiner Junge auf dem Flur. Die neue Realität schien ihn noch immer nicht erreicht zu haben oder aber er weigerte sich einfach, sie zur Kennt nis zu nehmen.
»Sie bekommen Ihren Kaffee, Doktor. Versprochen. Aber erst, nachdem Sie mich behandelt haben!«, sagte Beck. Stiller schwankte einen Moment, dann gab er sich geschlagen und tastete sich vor Beck bis in den kleinen Aufenthaltsraum der Station. Sie ließen sich auf die Eckbank fallen und warteten auf Eva, die am anderen Ende des Flurs ein Skalpell, Desinfektionsmittel und etwas suchte, womit man Becks Hand für den Eingriff betäuben konnte.
»Und die Kerle sind jetzt im OP?«, fragte Stiller in die Dunkelheit hinein. Obwohl er den Polizisten nicht sehen konnte, wusste er, dass der nickte.
»Eingeschlossen?«
»Ja.«
»Und wie können Sie so sicher sein, dass die nicht rauskommen?«
»Die Tür, durch die sie rein sind, bekommen die nie und nimmer auf!«, antwortete er mit tiefer Überzeugung in der Stimme. »Und so wie die da drin geflucht und geschrien haben, scheint es keinen zweiten Ausgang zu geben.«
»Und Fenster? Was ist mit Fenstern? Was ist, wenn die ein Fenster zerschlagen, runterklettern und dann zu uns zurückkommen?« Stillers Stimme überschlug sich. Es war eine reale Möglichkeit, die ihm da plötzlich Angst in die Brust trieb. Fenster einschlagen. Rausklettern. Zurückkommen.
Zurückkommen!
»Dann wären sie längst hier.«
Der Arzt dachte noch über Becks Worte nach, als Eva alles für den kleinen Eingriff Nötige brachte. Sie gab Stiller die Taschenlampe und breitete ein steriles Tuch auf dem Tisch aus.
»Legen Sie Ihre Hand da drauf«, forderte sie Beck auf.
»Wird es wehtun?«
»Bestimmt«, antwortete der Arzt. Er betrachtete im schwachen Schein der Lampe die Hand und verzog das Gesicht. »Ich muss die Wundränder ausschneiden, die Wunde säubern und zusammennähen.«
»Und was dann?«, wollte Beck wissen.
»Dann nehmen Sie Antibiotika und beten, dass Sie nicht noch bereuen müssen, mich hierzu überredet zu haben!«
Eva sprühte die Hand mit Desinfektionsmittel ein. Beck verzog das Gesicht, die Flüssigkeit brannte in der Wunde wie Feuer.
»Können Sie die nehmen?« Stiller hielt dem Polizisten die Taschenlampe hin. »Leuchten Sie genau in die Wunde und, wenn Ihnen Ihre Hand lieb ist, halten Sie still dabei.« Eva reichte ihm eine kleine Spritze.
»Was ist das?«
»Scandicain.«
Das war in Stillers Augen offensichtlich Erklärung genug, denn ohne weiter auf Becks Frage einzugehen, stach er fünfmal um die Wunde herum in Becks Hand und injizierte jeweils einige Tropfen des Betäubungsmittels unter die Haut. Nach einigen Minuten fühlte die sich pelzig an.
Mit sichtlichem Unmut säuberte Stiller Becks Wunde mit einem Tupfer, dann reichte Eva ihm ein Skalpell, mit dem er die zerrissenen Ränder begradigte.
»Passen Sie auf, wo Sie hinleuchten!«
»Kommen Sie«, Eva nahm Beck die Lampe aus der Hand. »Geben Sie die mir. Und schauen Sie lieber woanders hin.«
Joachim Beck schloss dankbar die Augen, während sich Stiller fluchend und schwitzend weiter an seiner Hand zu schaffen machte. Schließlich − er war mit sich offensichtlich einigermaßen zufrieden − nähte er die Wunde mit sieben Stichen und klebte einen breiten Pflasterstreifen auf sein Werk.
»Eva gibt Ihnen gleich ein paar Tabletten Antibiotika. Nehmen Sie die die nächsten zehn Tage. Die Fäden können raus, wenn die Tabletten alle sind.« Stiller stand auf. Er kramte eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche.
»Könnte ich auch eine haben?«, fragte Beck.
Stiller nickte. »Kommen Sie mit.«
»Sie können ruhig hier rauchen.« Eva, die den Tisch abräumte, zuckte mit den Achseln. »Ich glaube kaum, dass die Rauchmelder noch funk tionieren. Und selbst wenn, wird niemand kommen.« Was sie sagte, klang traurig. Und endgültig. Als ob sich die Katastrophe dieses Tages auf das Funktionieren eines Rauchmelders reduzieren ließe. Und das Traurige dabei war, dass dies tatsächlich dem Istzustand entsprach.
Während sie rauchten, sprach keiner ein Wort. Jeder hing seinen Gedanken nach und starrte in die Finsternis, die Taschenlampe hatten sie gelöscht. Beck grübelte über die Gefangenen im OP nach, während Stillers Gedanken bei seiner schwangeren Frau in Freiburg waren. Schließlich drückte Eva ihre Zigarette in einer Untertasse aus. Es war die erste Zigarette seit acht Jahren und sicher nicht das Beste für das Baby.
»Ich dachte vorhin wirklich, das war’s. Wenn Sie nicht gekommen wären …« In ihr lief erneut der Film von Ritter, Mehmet und Fuchs ab, in dem die drei in die Station eindrangen und sich dann um sie kümmerten. Kümmerten. Lag der Ursprung des Wortes in Kummer? Sie hatte Todesangst ausgestanden, als unter der Maschinengewehrsalve die obere Scheibe der Glastür zersplitterte. Was wäre gewesen, wenn Beck nicht erschienen wäre?
»Bis auf Glück sind wirklich alle Patienten tot?« Stiller blies Rauch über den Tisch. »Sind Sie sicher, dass kein anderer noch lebt?«
Eva schüttelte den Kopf. »Ganz sicher, Doktor. Aleksandr Glück ist unser einziger Patient, sieht man von unserem Retter hier einmal ab.«
»Und was machen wir jetzt?« Beck stellte die Frage, die allen dreien im Kopf herumschwirrte. Und die keiner als Erster aussprechen wollte. Weil keiner eine Antwort wusste. Weil keiner wusste, wie die Welt außerhalb der Station im Augenblick funktionierte, geschweige denn, wie sie bei Sonnenaufgang aussehen würde. Wäre dann der Strom wieder da? Funktionierten die Handys? Gäbe es noch irgendeine Ordnung, einen Staat?
So, kam es Eva in den Sinn, muss sich ein Kind fühlen, das vom Sandkastenspiel aufsieht und erkennt, dass die Mutter verschwunden ist. Und der Vater. Und dies in einer fremden Stadt.
Alle Sicherheit, alle Gewohnheiten und die traute Berechenbarkeit des Kommenden waren nicht mehr, sowohl für das Kind im Sandkasten als auch für Eva, Stiller und Beck. Nur, dass das Kind wahrscheinlich von einer mitfühlenden älteren Dame mit Brille und Stützstrümpfen zur Polizei gebracht werden würde, während sie hier höchstens noch auf einen Gott hoffen durften und darauf, dass der auch gerade in der Stimmung war, ihnen zu helfen.
Über den Stationsflur drangen aus Aleksandr Glücks Zimmer tiefe regelmäßige Atemzüge zu ihnen herüber.
»Und wo bleibt jetzt mein versprochener Kaffee?«, fragte Stiller schließlich. Er fragte allerdings nur, um überhaupt etwas zu sagen. An die Erfüllung des Versprechens glaubte er nicht ernsthaft.
»Stimmt. Hätte ich fast vergessen.« Beck schlug sich mit der gesunden Hand gegen die Stirn und tastete nach der Taschenlampe.
»Was dagegen, wenn ich uns ein kleines Feuer mache?«
»Hier?« Eva klang entgeistert. »Wollen Sie das Krankenhaus in Brand stecken?«
»Nein, natürlich nicht.«
Beck sah sich im Lichtkegel der Lampe im Aufenthaltsraum um, dann hatte er gefunden, wonach er suchte. Er ging zu dem metallenen Spülbecken und öffnete die Tür darunter.
»Das müsste gehen.«
»Was müsste gehen?« Stiller kam zu ihm.
»Wenn Sie den Siphon hier abschrauben«, erklärte Beck dem Mediziner, »müsste ein Feuer im Spülbecken genügend Zugluft bekommen. Haben Sie einen Topf?«
Eva schüttelte den Kopf.
»Sonst irgendein Metallgefäß? Irgendwas, das wir ins Feuer heben können?«
Arzt und Krankenschwester überlegten kurz, dann fragte Eva:
»Geht vielleicht auch ein kleiner Metallcontainer?«
Beck nickte. »Egal, wie das Ding aussieht − Hauptsache es ist feuerfest und dicht.«
Eva brachte eine fünfzehn Zentimeter hohe Blechkiste mit dem Grundriss einer Computertastatur.
»Müsste gehen«, nickte Beck und erhob sich. In der Hand hielt er den Siphon. »Jetzt brauchen wir nur noch Papier und Pappe. Holz habt ihr hier sicher nicht vorrätig.«
»Doch!«, widersprach Eva. Sie ging in den Lagerraum nach nebenan und als sie wenig später zurückkam, hielt sie den Männern stolz acht kleine Regalbrettchen hin.
Stiller zerknüllte unter der Anleitung des einhändigen Beck Papier, schichtete Pappe darüber und entzündete schließlich das kleine Lagerfeuer.
»Wenn das Tröndle sehen könnte.«
»Oder Kellermann!«, freute sich Stiller, erschrak aber sofort über die eigenen kühnen Worte und Taten und sah sich um. Nein, das hier gehörte sich wirklich nicht. Das widersprach allen gängigen Regeln. Man wird den Schuldigen zur Rechenschaft ziehen.
Wie von Beck erwartet, erhielt das Feuer durch die Öffnung im Spülbecken genügend Sauerstoff. Bald knisterten die ersten Regalböden und über die Wände und die Decke des Raumes flackerten warme Schatten. Blauer Rauch sammelte sich unter der Decke, ohne dass der Rauchmelder irgendetwas zu beanstanden hatte, und zog durch die beiden weit geöffneten Fenster nach draußen. Schließlich setzte Stiller den Container über das Feuer, während Eva zwei Flaschen Mineralwasser hineingoss.
Es dauerte fast zwanzig Minuten und weitere vier Brettchen, dann begann das Wasser zu sieden.
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01:26 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen, Operationssaal 3
Es dauerte eine Weile, bis Mehmets hysterisches Geschrei endlich nachließ. Vielleicht Tribut an seine Erschöpfung, vielleicht aber auch, weil es einfach nichts brachte. Irgendwann verstummte er. Er saß mit dem Rücken an der Wand in einer der Ecken ihres Gefängnisses und schlief. Ritter und Fuchs lauschten dem Atem des Jungen, Atemzüge, die einmal dahinjagten, dann wieder für einige Sekunden ganz verstummten, als hielte der Bengel im Schlaf die Luft an.
Hermann Fuchs hockte in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes. Er hatte den weiten Mantel eng um sich geschlungen. An der Brust spürte er den wohltuenden Druck seines Geldbündels und war zufrieden. Genau zwischen den Männern musste der Operationstisch stehen, mit dem toten Stinker drauf, wie Ritter die Leiche nannte. In der Ecke zwischen Mehmet und Fuchs lag Daniel Ritter. Er hatte starke Schmerzen. Den Verband hatte er vor einer Stunde abgenommen, aber in der Dunkelheit, die den kleinen Operationssaal bis unter die Decke ausfüllte, konnte er sein Bein nicht erkennen. Aber seine Finger hatten gefühlt, dass etwas nicht stimmte. Die verkrustete Wunde fühlte sich heiß an und aus einem Ende der hastig ausgeführten Naht sickerte warme Flüssigkeit. Die junge Ärztin, die Ritters Bein in der Ambulanz genäht hatte, war durch die Präsenz der Männer und durch das Chaos dieses Morgens derart verunsichert, dass sie ihrer Sorg faltspflicht nicht in allen Punkten gerecht geworden war. Sie hatte die Wunde nur flüchtig desinfiziert (und dabei immer abwechselnd zu den Freunden ihres Patienten gesehen, die mit verschränkten Ar men die beiden Ausgänge der Kabine blockiert hatten) und sie hatte in der verständlichen Aufregung vergessen, Ritter mit Antibiotika zu versorgen. Jetzt war der muskulöse Oberschenkel Ritters dermaßen aufgequollen, dass die Haut darüber zum Zerreißen gespannt war und jedes Härchen senkrecht abstand.
»Tut es immer noch weh?«, fragte Fuchs ohne großes Interesse. Ihn quälte die Frage, wie sie − wie er − hier wieder rauskommen sollten. Ob. Und die Sicherheit seines Geldes.
»Ja, verdammt! Natürlich tut es weh! Blöde Frage.«
»Hab mal gehört, dass es ziemlich böse ausgehen kann, wenn so ’ne Entzündung nicht behandelt wird. Glaub, das ganze Bein kann abfaulen oder so. Aber meistens kommt es nicht so weit, weil man vorher an der Blutvergiftung stirbt.« Fuchs zog an einer Zigarette und inhalierte tief. Mit etwas Vorstellungskraft, dachte er, könnte man fast glauben, sie würde brennen. »Außerdem hab ich gehört, dass es unvorstellbare Schmerzen sein müssen. Mein Großvater hat mir mal erzählt, wie sie im Krieg, irgendwo in Russland, einem Kameraden das Bein mit ’nem Feldmesser abgeschnitten haben. War irgend ’ne Verletzung von ’nem Granatsplitter oder so. Steckte dem Soldaten im Bein. Und das hat sich entzündet und mein Großvater hat erzählt, dass der arme Kerl dermaßen geschrien hat, dass sie ihn fesseln und knebeln mussten, weil sie sich in einer Bauernkate versteckt hatten und draußen überall Russen unterwegs waren. Soldaten, weißt du? Und damit die Schreie sie nicht verrieten, haben sie ihn halt geknebelt. Muss echt schlimm gewesen sein. Mein Großvater hat sonst nie viel erzählt, aber manchmal, wenn er etwas getrunken hatte, dann wurde er ganz ruhig und ernst und seine Augen bekamen einen ganz seltsamen Blick. Und dann fing er an zu erzählen. Von seinem Kameraden und dessen Bein. Und welche Angst die anderen hatten, weil sie sich vor den Russen fürchteten.
Als er anfing zu fantasieren und das Bein stank und brannte wie Feuer, da hat einer von ihnen sein Messer gezogen und den anderen befohlen, den Kameraden festzuhalten. Mein Großvater hat das Bein gehalten, während der Offizier das kranke Fleisch zerschnitt und den Knochen zersägte. Und kannst du dir vorstellen, wie lange das gedauert hat?«
»Will ich nicht wissen«, stöhnte Ritter und hielt sich die Ohren zu.
»Fast ’ne Dreiviertelstunde! Wahnsinn. Kannst du dir das vorstellen? ’Ne Dreiviertelstunde, dann war das Bein endlich ab. Mein Großvater hat es dann nachts hinter die Kate gebracht. Am nächsten Morgen war es verschwunden. Vielleicht hat’s ja der Fuchs geholt! Eh Ritter, verstehst du? Der Fuchs hat es geholt!« Er lachte und schlug sich auf den Schenkel. »Wollen mal hoffen, dass der Fuchs dein Bein nicht holen muss. Hätte echt keine Lust dazu.«
»Glaubst du etwa ich?«
»Irgendwie ist es schon verrückt«, sinnierte Fuchs weiter, ohne sich Gedanken zu machen, wie das, was er von sich gab, in Ritter arbeiten musste, »wir hocken hier im Krankenhaus, du bist ganz nett verletzt und es gibt keine Möglichkeit, dir zu helfen. Ist ja gerade so, als säße man in einer Bäckerei, bekommt aber nix zu futtern. Und verhungert.«
Ritter stöhnte.
»Aber der Kamerad da im Krieg, der hat’s auch nicht überlebt. War wohl ’n paar Stunden später tot. Wär’ nur interessant zu wissen, ob sie ihn hätten retten können, wenn sie das Bein früher amputiert hätten. Netter Punkt übrigens − das mit dem frühzeitigen Amputieren, mein ich. Ich an deiner Stelle würd’ mir darüber mal Gedanken machen.«
»Hör jetzt auf mit deinen Schauergeschichten, ja?« Ritter stöhnte und griff sich mit beiden Händen an das verletzte Bein. Er hielt es von sich gestreckt. Bum, bum, bum klopfte es unter der Wunde.
Fuchs’ Worte hallten in ihm nach. Amputation. Das Wort hatte eine erschreckende Endgültigkeit. Abschneiden. Absägen. Und das war es dann, ohne Wenn und Aber. Annähen ging später nicht mehr.
»Lieber verreck ich hier, hörst du? Mein Bein wird niemand absägen, auch du nicht. Sind hier schließlich nicht im Krieg.«
Fuchs stieß den imaginären Rauch seiner Zigarette aus und schnippte wie gewohnt mit dem Daumen an ihr, um die nicht vorhandene Asche abzuklopfen.
»Kam mir aber schon fast so vor.«
»Wie Krieg?«
Fuchs nickte ungesehen im Dunkeln. Dann sagte er: »Glaubst du viel leicht, morgen früh macht hier irgend eine nette Schwester mit weitem Ausschnitt und dicken Dingern drunter die dämliche Tür da auf und alles ist in bester Ordnung? Selbst wenn, Alter, selbst wenn morgen alles wieder funktionieren sollte, was meinst du wohl, was die mit dir machen, he? So, wie du den Bullen abgemurkst hast, kommst du nie wieder aus dem Knast raus. Arschficken für den Rest deines Lebens. Aber in deinen Arsch!« Fuchs schien der Gedanke zu amüsieren.
»Redest ja gerade so, als wärst du schon mal drin gewesen.«
Fuchs ignorierte den Einwurf und fuhr mit seinen Betrachtungen fort: »Hätte ich die Wahl zwischen meinem Arsch und meinem Bein, ich würde mich wahrscheinlich von meinem Bein verabschieden und dann lustig weiter in Freiheit herumhumpeln. Aber dafür wäre mein Allerwertester noch heil, verstehst du? Aber zum Glück muss ich das nicht entscheiden. Ganz im Gegensatz zu dir«, fügte er hinzu.
»Hast du ’ne Ahnung, was eigentlich passiert ist heute? Ich denke schon die ganze Zeit drüber nach, aber mir fällt nix ein, Mann. Terroristen vielleicht?«
»Ooch«, Fuchs streckte sich, dann setzte er sich bequemer hin. »Da gibt’s schon ’ne ganze Menge Typen, die das angezettelt haben könnten. Da«, er zeigte im Dunkeln in die ungefähre Richtung, in der er Mehmet vermutete, »unser kleiner Freund zum Beispiel.«
Ritter musste bei der Vorstellung, dass Mehmet hinter allem stecken sollte, trotz seiner Schmerzen lachen. »Glaubst doch nicht im Ernst, dass der kleine Bengel was damit zu tun hat!«
»Er selber natürlich nicht! Aber seine ganzen Kumpel, die ganzen Araber und Moslems und so. Du wirst sehen, jetzt machen die sich noch mehr hier bei uns breit. Und wir müssen alle in Zukunft nach Mekka pilgern und statt Kirchenglocken gibt’s Musinegeschrei.«
»Gibt’s was?«
»Na der Musine, der von denen ihren Kirchtürmen runterruft.«
»Muezzin heißt das, glaub ich.«
»Meinetwegen. Aber du wirst sehen, die stecken dahinter!«
»Und wer kommt noch infrage?«
Fuchs rutschte ein Stück näher und senkte die Stimme. »Juden, könnte ich mir noch ganz gut vorstellen. Jetzt echt. Die haben Kohle ohne Ende, haben sich überall ganz oben eingeschlichen mit ihrem ständigen Lächeln und ihrer Katzbuckelei. Und denk mal nach, Mann: Wer verdient hinterher daran, wenn alles wieder aufgebaut werden muss? Wem nützt es, wenn es bei uns bergab geht? Und wer hat noch ’ne alte Rechnung mit den Deutschen offen, he? Die Juden!«
Ritter antwortete nicht sofort, sondern dachte einige Sekunden über das mit den Juden nach. Schien irgendwie Sinn zu machen.
»Und wenn die es auch nicht waren, wer dann?«
»Dann haben die in Berlin vielleicht einfach keine Lust mehr gehabt, weiterzumachen und ruck, zuck alle Hauptschalter umgelegt und sich dann aus dem Staub gemacht.« Beide mussten bei dieser Vorstellung lachen: Das Bundeskabinett beschließt mit nur einer Gegenstimme und zwei Enthaltungen, die Lichter zu löschen. Alle trinken noch gemütlich ihr Mineralwasser aus, dann machen sie sich davon.
»Vielleicht hat sich aber auch der Typ da unten«, Fuchs klopfte auf den gefliesten Boden, »der rote, mit den Hörnern, verstehst du − vielleicht hat der auch gedacht: He, is mal wieder an der Zeit, den alten Chef ein bisschen zu ärgern.«
»Und wenn es der Chef nun selbst war?«
»Du meinst, so ’ne Art Sintflut, nur halt ’n bisschen zeitgemäßer?«
Fuchs kratzte sich am Kopf, die Zigarette im Mundwinkel. »Gar nicht so dumm, die Idee.«
Er lehnte sich zurück und sah nach oben, zur Decke. Juden, Teufel oder Gott persönlich – spielte das überhaupt eine Rolle? Nein, entschied Fuchs, das war sozusagen scheißegal. Genauso scheißegal wie Ritter und der Türkenbengel. Wen interessierte schon das Warum. Ihm war es egal. Er hatte keine Lust, hier zu sterben, auch nicht, wenn er dafür von Gott persönlich über die Ursachen des ganzen Durcheinanders aufgeklärt werden würde. Er wollte lieber dumm weiterleben statt allwissend zu verrecken.
Er betrachtete das, was die Decke sein musste. Der Tag hat auch bei mir Spuren hinterlassen, dachte Fuchs, anders konnte er sich die kleinen Lichtpunkte nicht erklären. Ich bin müde. Er rieb sich die Augen. Nach ein paar Sekunden sah er wieder hinauf. Aber sie waren immer noch da − kleine Lichtpunkte, unscharf und verschwommen, wie durch eine beschlagene Brille betrachtet. Sie waren da und versuchten ihm etwas zu sagen, ihn zu …
»He!« Fuchs sprang auf. »Siehst du das auch oder spinne ich?«
»Was denn?«
»Da, da oben. In der Decke. Die Punkte. Siehst du die auch? Los, sag schon, siehst du sie?«
Ritter blickte zur Decke und tatsächlich, jetzt, nachdem ihn Fuchs darauf aufmerksam gemacht hatte, sah er sie ebenfalls: winzige Pünktchen, etwas verschwommen zwar, aber trotzdem zu erkennen. Und wenn mitten in der Nacht in einem geschlossenen Raum Lichtpunkte auftauchten, schlussfolgerte er, dann konnten es nur Glühwürmchen sein, was sie ausschlossen. Oder aber in dem Gebäudeteil über ihnen gab es noch − oder wieder − Licht! Und wenn das durch die Decke leuchten konnte, mussten da irgendwelche Risse, Kabelschächte oder so sein, durch die man vielleicht rauskam.
»Los«, drängte Fuchs, »los, Mann, heb mich hoch! Ich kletter auf deine Schultern und dann schau ich mal, was da oben ist! Vielleicht ist das die Chance, hier wieder rauszukommen!« Und euch zurückzulassen, fügte er in Gedanken hinzu. Aber Ritters Bauch sagte ihm unmiss verständlich, dass er einem Hermann Fuchs nicht vertrauen konn te.
»Weißt du was?«, schlug Ritter schließlich vor, »Wir schlafen jetzt ein, zwei Stündchen und dann geht es meinem Bein sicher schon viel besser. Und dem Bengel vielleicht auch.« Und dann hebe ich den Türken hoch! Der wird nicht abhauen und mich im Stich lassen!
Aber Fuchs wollte nicht aufgeben, nicht jetzt! Warum noch warten? »Ich weck den Jungen. Dann könnt ihr mich zusammen hochheben, in Ordnung? Dann ist es für dich allein nicht zu schwer und ich schau, was da oben ist.«
»Jetzt nicht!« Ritter klang plötzlich kalt.
»He, was soll das? Vertraust du mir etwa nicht, Mann?«
»Genau«, antwortete Ritter und griff sich wieder an sein Bein. In der Aufregung, welche die Lichtpunkte in ihm auslösten, hatte sein Körper den Schmerz fast vergessen. Jetzt erinnerte er sich aber umso intensiver an das Versäumte und wollte es schnellstmöglich nachholen. »Warum sollte ich dir vertrauen? Wir kennen uns erst seit heute Morgen.«
»Sicher, ich versteh ja dein Misstrauen. Aber das ist vielleicht die einzige Chance, die wir haben! Los jetzt, heb mich hoch und ich hol uns hier raus.«
Aber Ritter schüttelte nur den Kopf. »Nein.«
Daniel Ritter hatte sich auf dem kalten Boden ausgestreckt und versuchte wach zu bleiben. Er betrachtete die Lichtpunkte über sich und hatte den Eindruck, dass sie langsam vorrückten. Aber wahrscheinlicher war, dass ihm seine überreizte Fantasie und die Müdigkeit einen Streich spielten. Vielleicht bekam er auch Fieber. Er fühlte sich erschlagen, wie nach drei Stunden im Studio mit Hanteln und Gewichten. Nein, es war schlimmer, denn die Erschöpfung und der Schmerz im Studio waren angenehm, waren kraftvoll und frisch. Das jetzt hier war die Erschöpfung eines Kranken, krank an Körper und Geist. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass er einfach mal eben so, im Vorübergehen sozusagen (einmal Pommes mit Majo, bitte), einen Menschen würde umbringen können. Er streckte sich und entlastete das schmerzende Bein, indem er einen seiner Turnschuhe unter die Kniekehle legte. Aber es war schon ein geiles Gefühl, dem Bullen den Inhalt des vollen Magazins in den Bullenbauch zu jagen! Wow, hatte der gezuckt! Und wie das Blut aus ihm rausspritzte! Wahrscheinlich würden sie den Eingang zum Revier mit einem Dampfstrahler reinigen müssen.
Er musste wach bleiben, das war die einzige Möglichkeit. Den Fuchs im Auge behalten, bevor er das Bein stiehlt. Im Auge … er lächelte blöde. Wie sollte man hier etwas im Auge behalten? Die Lichtpünktchen vielleicht?
Er hatte Durst und musste pinkeln.
Er hörte Mehmet jetzt tief und regelmäßig atmen. Vorhin, als Fuchs seine Stimme erhoben hatte, um Ritter davon zu überzeugen ihn jetzt und sofort an die Decke zu heben, da war der Bengel kurz unruhig geworden. Aber jetzt schlief er wieder tief und fest. Und wahrscheinlich hatte er den Daumen im Mund, während seine andere Hand zwischen den angewinkelten Knien liegt, wie bei einem kleinen Kind. Aber so sehr er sich auch bemühte, er konnte Fuchs nicht atmen hören. Kein Geräusch aus dessen Richtung, keine Bewegung, nichts. Als wären er selbst und Mehmet allein. Er versuchte seinen Durst zu ignorieren, aber seltsam, egal an was er auch dachte – den toten Bullen vor dem Revier, den anderen, dem er das mit seinem Bein zu verdanken hatte oder die Leute am Morgen vor der Sparkasse –, immer wieder schob sich das Bild eines frisch gezapften Bieres vor sein inneres Auge. Mal war es auch ein Gebirgsbach, frisch und klar, er konnte das Plätschern des Wassers hören, es riechen.