Kitabı oku: «Luise und Leopold», sayfa 2
Ein folgenreicher Brief
Der Erzherzog hat hier in der Stadt Zürich einen weitreichenden Entscheid getroffen, den er schon seit längerer Zeit erwogen hat. Er geht zum Hotel zurück, um einen wichtigen Brief an Kaiser Franz Joseph, das Oberhaupt des Herrscherhauses Habsburg, aufzusetzen.
Die Zeit sei reif für diesen Schritt, findet Leopold und setzt sich an den Schreibtisch im Zimmer des Grandhotels Bellevue, blickt hinaus auf den Zürichsee und erahnt die Berge, hinter denen sich auch das Grossreich Österreich-Habsburg befindet, von dem er sich endgültig lossagen will. In seiner gleichmässigen, nach rechts geneigten, aber nicht sehr leserlichen Schrift richtet er sich an Kaiser Franz Joseph I. Wörtlich schreibt er mit Tinte: «Ich bitte Eure Majestät, meine Stellung und Rang als Erzherzog ablegen und den Namen Wölfling annehmen zu dürfen.»
Ein Satz mit ungeheurer Sprengkraft.
Der Erzherzog will nicht mehr.
Verzichtet auf Titel und Rang.
Will bürgerlich leben.
Vielleicht hat Franz Joseph beim Lesen des Briefs seinen berühmten Spruch ausgerufen: «Mir bleibt gar nichts erspart!» Auf jeden Fall wird er sich darüber geärgert haben, dass schon wieder ein Erzherzog aus der Reihe tanzt. Die unglaublich lange Zeit von 54 Jahren wirkt er schon als Kaiser, sodass eine gewisse Amtsmüdigkeit nachvollziehbar ist. Dazu haben ihn die verlorenen Kriege in Italien und gegen Preussen ebenso erschüttert wie tragische Ereignisse im Privaten. Sein Leben gleicht einer unendlich langen griechischen Tragödie, die im Übermass mit Unglücken befrachtet ist. Die erste Tochter, die ihm Elisabeth gebar, war Sophie Friedericke. Doch die Kleine bekam im Alter von zwei Jahren heftigen Durchfall und Fieber und starb daran.
Danach übernahm Franz Josephs Bruder Maximilian die Kaiserkrone von Mexiko; doch er scheiterte in dieser ihm so fremden Umgebung. Die Aufständischen nahmen ihn gefangen, verurteilten ihn zum Tode und richteten ihn hin.
Für den nächsten Schicksalsschlag war sein einziger Sohn, Thronfolger Rudolf, besorgt. Dieser hatte zwei grosse Probleme: Er war zu liberal für einen zukünftigen Kaiser, und er hatte Syphilis. Weil er keinen Ausweg sah, brachte Rudolf zuerst seine Geliebte und dann sich selbst um – ein Unglück sondergleichen, das Franz Joseph nur schlecht vertuschen konnte.
Und schliesslich hatte der Kaiser noch das Drama mit seiner Frau Elisabeth zu verkraften: Eine ihrer vielen Auslandsreisen führte sie 1898 in die Westschweiz. Von ihrem Hotel in Montreux aus machte sie einen mehrtägigen Ausflug nach Genf. Hier stach sie ein hasserfüllter Anarchist auf dem Quai du Mont-Blanc mit einer einfachen Feile nieder.
Doch damit nicht genug: Im Gebälk der jahrhundertealten Habsburgermonarchie knirscht es seit Jahrzehnten bedenklich. Angesichts der demokratischen Revolutionen in ganz Europa haben Kaiser- und Königshäuser einen schweren Stand. Luise und Leopold stellen mit ihrer Flucht Paradebeispiele für das allmähliche Zugrundegehen der Monarchien dar, für den Niedergang des Unhinterfragten, für den Abgesang auf den höfischen Kitsch. Der österreichische Publizist Karl Kraus nennt das Wien der Jahrhundertwende eine «Experimentierstation für den Weltuntergang». Das ist zugespitzt formuliert, aber zielt darauf, dass das Vielvölkerreich Österreich-Ungarn auseinanderzubrechen droht; die Menschen in Österreich, Ungarn, der Slowakei, in Rumänien, Kroatien, Slawonien, Galizien, Bukowina, Böhmen, Mähren, Schlesien, Serbien, Bosnien und Siebenbürgen haben unterschiedliche Interessen; die Völker des Reiches arbeiten deshalb mehr gegen- als miteinander.
Franz Joseph versucht mit eiserner Disziplin das zusammenzuhalten, was nach links und rechts wegzubrechen droht. Er hält den Mythos der – angeblich – unsterblichen Habsburger aufrecht. Seit 1848 ist er schon im Amt, sodass er als Langzeitkaiser die integrative Kraft des Reiches verkörpert. Franz Josephs Regierungszeit ähnelt dem damals so beliebten Walzertanz: Dabei geht es nach links, nach rechts und dann im Kreis herum, doch alles bleibt im eng bemessenen Rahmen, trotz viel Bewegung. Die Form bleibt allen Emotionen zum Trotz immer gewahrt. So geht es auch dem Vielvölkerreich Habsburg-Österreich, wo der Kaiser die Form, wenn nicht sogar einen ausgeprägten Formalismus, aufrechterhält.
Deshalb regt sich Franz Joseph so sehr auf über diejenigen Familienmitglieder des Hauses Habsburg, die neben der Spur laufen. Vor allem viele der Erzherzöge benahmen und benehmen sich nicht so, wie er es erwartet.
Eine «Künstlerin»
Jetzt folgt Leopold Wölfling mit seinem Austrittsschreiben. Wie hatte sich Kaiser Franz Joseph schon früher mit dem Kerl herumgeärgert! Als dieser zum ersten Mal mit dieser besonderen «Künstlerin» Wilhelmine Adamovic ankam, die unübersehbar aus dem horizontalen Gewerbe stammte, hatte Franz Joseph seinen unartigen Verwandten in die unbeliebte Garnisonsstadt Przemyśl versetzt, einen befestigten Vorposten gegen Russland (heute an der Südostecke Polens gelegen).
Es half nichts.
Ein nächster Plan musste her.
Eine geschlossene Anstalt.
Auch das ohne Wirkung.
Leopold hielt seiner Wilhelmine die Treue.
Franz Joseph hatte durchaus selbst Erfahrung mit unschicklichen Beziehungen und Affären. Neben der ehelichen Beziehung mit seiner Frau Elisabeth – Sisi – pflegte er während Jahren sexuellen Umgang mit Anna Nahowski, der Frau eines Eisenbahners. Ihre Liebesdienste verdankte der Kaiser mit teuren Geschenken, einer Villa und einem Sommerhaus. Nach 14 Jahren regelmässigen Kontakts liess er sie kurzerhand mit einem Schmerzensgeld von umgerechnet 1,6 Millionen Franken sitzen.
Danach hatte der Kaiser eine Beziehung mit der Burgschauspielerin Katharina Schratt, übrigens mit ausdrücklicher Billigung seiner Frau Elisabeth. «Die Schratt», wie man sie in Wien nannte, arbeitete zuerst am Wiener Stadttheater und dann aber, als sich die Beziehung mit Franz Joseph vertiefte, am renommierteren Wiener Burgtheater. Nach Elisabeths Ermordung in Genf heiratet Franz Joseph nicht mehr, sondern führt eine Art Geheimehe mit Katharina Schratt. Sie nimmt unübersehbar Einfluss am Hof, sodass die hohen Beamten den Kaiser neckischerweise «Herr Schratt» nennen, wenn er es nicht hört.
In Anbetracht dieser eigenen Erfahrungen könnte man von Franz Joseph mehr Verständnis für Leopold Wölfling erwarten, der wegen einer unakzeptablen Liebe den Ausbruch wagt. Doch nach aussen wahrt der Kaiser mit eiserner Disziplin die Etikette, da lässt er die Zügel keinen Millimeter schleifen. Das Haus Habsburg dürfe keine Schwäche zeigen, ist er überzeugt. Franz Joseph versucht deshalb zusammenzuhalten, was noch zu halten ist. Dazu gibt er sich sehr standesbewusst, wenn nicht sogar elitär.
Er ernennt zeitlebens nur Adlige zu Ministerpräsidenten und zeigt auch sonst viel Standesdünkel. Aus seiner Sicht ist beispielsweise der Handschlag des Kaisers eine Art Auszeichnung, die nicht jede oder jeder verdient. So reicht Franz Joseph bei Empfängen nur Hochadligen die Hand; Bürgerliche, die als Landeshauptleute oder als hohe Beamte den Aristokraten machtmässig überlegen sind, müssen sich mit einem kurzen Kopfnicken des Kaisers begnügen.
Angesichts seines Standesbewusstseins dürfte ihn das Austrittsbegehren seines Verwandten ungemein ärgern. Dass Leopold Ferdinand «Stellung und Rang als Erzherzog ablegen» will, sei wegen einer Liebelei völlig unnötig; dieser Schritt errege vermeidbares Aufsehen und schwäche erneut die Aussenwirkung des Hauses Habsburg. Das hat tiefgreifende Folgen, die Leopold noch lange beschäftigen werden.
Ein nicht standesgemässes Verhältnis
Der nächste Tag in diesem Dezember 1902 ist Freitag, der Vierzehnte. Nach dem Frühstück fährt die Dreiergruppe zum Hauptbahnhof Zürich, um André Giron abzuholen – Luise freut sich ausserordentlich, dass ihr Liebhaber mit einem Tag Verspätung doch noch nach Zürich gefunden hat.
Der junge Belgier ist seit Anfang 1902 Sprachlehrer von Luises Kindern am Hof in Dresden. Sein Unterricht interessierte Luise, und er gab ihr ausgesprochen höflich und sympathisch über den behandelten Stoff und die Lernfortschritte der Kinder Auskunft. Dieser 24-jährige Lehrer verhielt sich so anders als Luises Ehemann Friedrich August, der schroff und abweisend wirkte und weder Interesse für seine Frau noch für die Kinder zeigte und lieber tagelang durch seine Jagdreviere streifte.
So sahen sich Luise und der Privatlehrer jeden Tag, die Gespräche nahmen an Intensität, Verbindlichkeit und Vertraulichkeit zu. Als dann im Mai die royale Familie vom weitläufigen Taschenbergpalais in Dresden gewohnheitsmässig in die Villa Wachwitz umzog, kam auch André Giron mit, und der Kontakt zu Luise gestaltete sich noch familiärer. So geschah es, dass sich Luise von Sachsen und André Giron ineinander verliebten. Wie sie später zugaben, kamen sie sich in diesem Mai auch körperlich näher.
Zunächst konnten sie das komplett unschickliche Verhältnis geheim halten, doch irgendwann im Herbst tuschelten die Hofangestellten so sehr, dass Oberhofmeisterin Henriette Florentine Freifrau von Fritsch von dieser Beziehung erfuhr und gleich mit grösstmöglicher Empörung dem Kronprinzen Friedrich August III. Bericht erstattete.
Dieser reagierte erstaunlich gelassen und betrachtete die angebliche Affäre als eine weitere Laune seiner Frau, die sicher bald vorübergehe. Das Gerede erschien ihm wenig glaubhaft, schliesslich sei Giron acht Jahre jünger als seine Frau und erst noch ein eitler Geck, den er nicht ernst nehmen könne – eine kolossale Fehleinschätzung, die sich nun rächt, da seine Frau mit genau diesem Giron sogar ins Ausland getürmt ist, bis nach Zürich.
Jetzt ist das Quartett vollständig: der unverheiratete Erzherzog Leopold mit seiner Geliebten Wilhelmine, der «Künstlerin», sowie Sachsens Kronprinzessin Luise mit ihrem Geliebten, dem Privatlehrer ihrer Kinder, die sie in Dresden zurückgelassen hat. Auch wenn sie sich in Zürich frei bewegen können, nehmen Journalisten ihre Anwesenheit wahr und schreiben über sie: «Eine zweifelhafte Ehre ist der Stadt Zürich dadurch zu teil geworden», urteilen beispielsweise die Neuen Zürcher Nachrichten.
Vor dem Hauptbahnhof besteigen Luise, Leopold und ihre Begleiter einen Pferde-Omnibus (also einen Buswagen, der von einem Pferd gezogen wird). Der Zufall oder das Pech will es, dass sie ausgerechnet jenen Pferde-Omnibus wählen, der an diesem Nachmittag mit einem Tramwagen zusammenstösst. Auch das noch! Ein komplett unnötiger Unfall. Aufgrund der niedrigen Geschwindigkeit kann das Unglück den Fahrgästen nichts anhaben. Doch müssen die königlichen Hoheiten das letzte Wegstück zum Hotel zu Fuss zurücklegen.
Um den Aufenthalt in Zürich zu vertuschen, greift die aussergewöhnliche Reisegruppe zu einer ausgeklügelten Finte. André Giron hat einem Freund den Auftrag gegeben, im Namen von Luise in Brüssel ein Telegramm aufzugeben. Darin benachrichtigt sie – angeblich! – den sächsischen Hof ihres verlassenen Gattens, dass sie definitiv nicht mehr nach Dresden zurückkehren wolle.
Der Inhalt des gefälschten Telegramms verbreitet sich in ganz Europa und schlägt – gemäss der sonst um Zurückhaltung bemühten Neuen Zürcher Zeitung – ein «wie eine Bombe»; denn bislang vermutete man Luise noch immer in Salzburg und bestimmt nicht in Brüssel, wo ihr Liebhaber André Giron herkommt.
Thronfolger Friedrich August schickt seine Leute sofort nach Belgien: Für die delikate Mission bestimmt er Hofmarschall Wolf Ferdinand von Tümpling, den Kammerherrn Luises, zudem Baronin von Fritsch, die Oberhofmeisterin, und den sächsischen Kriminalkommissar Arthur Schwarz. Sie sollen seine Frau möglichst diskret zur Umkehr bewegen und einen grösseren Skandal verhindern.
Doch in Brüssel sind die Geflohenen nicht zu finden. Um ihre Spuren noch besser zu verwischen, entscheiden Luise, Leopold und ihre Begleiter, nach Genf weiterzureisen. Zuvor erkunden sie nochmals die Stadt Zürich. Vielleicht haben Luise und André, Leopold und Wilhelmine etwas gegessen und dann das nahe Stadt-Theater besucht, das heutige Opernhaus; dort wird an diesem Abend die Oper «Zar und Zimmermann» gespielt. Diese hätte ausgezeichnet zu ihrer momentanen Situation gepasst, denn in der Oper verstellt sich der mächtige Zar Peter I. und gibt sich als einfacher Zimmermannsgeselle aus, was ihm mal besser, mal weniger gut gelingt.
Luise und Leopold steht ebenfalls ein Leben fernab royaler Höfe bevor. Sie sprechen beispielsweise darüber, in der Schweiz ein Kinderheim zu eröffnen; die Oper mit dem verbürgerlichten Zaren wäre also eine Inspirationsquelle gewesen.
Eine nützliche Bekanntschaft
Tags darauf – der Kalender zeigt den 15. Dezember 1902 – packen die vier ihre wenigen Sachen im Grandhotel Bellevue in Zürich zusammen und fahren mit der Eisenbahn nach Genf. Der Grund für die Reise an den Lac Léman dürfte Leopolds Absicht sein, seine Wilhelmine Adamovic möglichst schnell zu heiraten, was ihm in Genf einfacher erscheint. Deshalb ist er geflohen, deshalb hat er sich an den Kaiser höchstpersönlich gewandt, deshalb will er auf alle seine Privilegien und den Titel eines Erzherzogs verzichten.
In Genf kennt Leopold bereits Rechtsanwalt Adrien Lachenal, der äusserst beschlagen, eloquent und gut vernetzt ist; schliesslich war dieser zuvor Bundesrat und sogar Bundespräsident gewesen. Zudem arbeitete Lachenal als Staatsanwalt, Richter, Grossrat, Nationalrat und Ständerat mit liberalem Parteibuch. Aus dem Bundesrat ist er aus gesundheitlichen Gründen zurückgetreten, jetzt wirkt er als famoser Redner und effizienter Strafverteidiger – unter anderem für Leopold, später auch mehrfach für Luise. Genf gilt zu dieser Zeit als vergleichsweise liberal: Ehebruch wird im Kanton Genf seit 1875 nicht mehr geahndet, was Luise sehr entgegenkommt. Hier kann sie sich sicher fühlen.
Die vier Reisenden kommen im Genfer Hotel d’Angleterre unter, am Quai du Mont-Blanc 17; sie mieten vier Zimmer mit direktem Blick auf den Genfersee, die Berge dahinter und den schon damals speienden Jet d’eau. Das Hotel liegt ganz in der Nähe des «Beaurivage», in welchem Kaiserin Elisabeth 1898 übernachtet hatte. Auf dem Quai direkt davor wurde sie ermordet. Genf, die ganze Schweiz und erst recht das Habsburgerreich waren schockiert und trauerten um die geliebte Kaiserin.
Das tragische Attentat scheint die vier Getürmten überhaupt nicht zu kümmern. Sie führen in Genf ein sorgenfreies, gemächliches Vorweihnachtsleben mit Spaziergängen und Einkäufen in der Stadt. Das erinnert an Joseph Roths Roman «Die Kapuzinergruft»: Dort teilt die adelige Hauptfigur mit ihrer Entourage «den skeptischen Leichtsinn, den melancholischen Fürwitz, die sündhafte Fahrlässigkeit, die hochmütige Verlorenheit, alle Anzeichen des Untergangs, den wir damals noch nicht kommen sahen. Über den Gläsern, aus denen wir übermütig tranken, kreuzte der unsichtbare Tod schon seine knochigen Hände. Wir schimpften fröhlich, wir lästerten sogar bedenkenlos.»
Erlebte die «schlimmsten Tage» seines Lebens: Friedrich August III., Luises Ehemann.
So lebt auch unser Quartett «sündhaft fahrlässig» und «bedenkenlos» in den Tag hinein, während im Hintergrund die Drähte heiss laufen. Denn Luises Ehemann Friedrich August III. erlebt «die zwei schlimmsten Tage» seines Lebens, wie er in einem Brief schreibt: Bei einem Jagdunfall hat er den Unterschenkel gebrochen, weshalb er sich kaum fortbewegen kann. Und er hat keine Ahnung, wo sich seine geflohene Frau aufhält. Er weiss nur, dass sie einen Liebhaber hat und Salzburg mit unbekanntem Reiseziel verlassen hat; zudem liess sie ihn mit den fünf Kindern sitzen, das jüngste ist gerade mal ein Jahr alt, das älteste knapp zehn. Sein Vater, König Georg von Sachsen, der ihn schon immer vor Luise gewarnt hatte, welche in dessen Augen eine verweichlichte und unzuverlässige Habsburgerin sei, nervt ihn ausserdem. Trotz des Wissens um ihre Affäre mit dem Sprachlehrer hält Friedrich August zu seiner Frau und schreibt in einem Brief: «Ich hänge an ihr trotz allem, was passiert ist, mit jeder Faser meines Herzens. Sie ist leichtsinnig, sie ist unklug, sie nimmt es mit der Wahrheit nicht immer genau, aber sie ist nicht schlecht von Natur.»
Nach zwei Tagen Ungewissheit findet die sächsische Geheimpolizei heraus, dass sich die entwichene Kronprinzessin nicht in Brüssel aufhält.
Sondern in Genf.
In der neutralen Schweiz.
Mit ihrer föderalen Gesetzgebung.
Im Hotel d’Angleterre.
Sofort reist eine neue Delegation aus Sachsen dorthin und quartiert sich ebenfalls im besagten Hotel ein. Die Leitung der Gruppe obliegt dem sächsischen Kriminalbeamten Arthur Schwarz, der auch schon in Brüssel nach Luise gesucht hat. In Genf entwickelt Kriminalist Schwarz einen Plan, wie er mit seinen Leuten die Kronprinzessin kidnappen und zurück nach Dresden bringen könnte.
Doch die Genfer Polizei ist wachsam, erfährt von der Absicht und bringt den Plan zum Scheitern; denn Genf duldet keine geheimen Aktionen ausländischer Polizei in der Stadt.
Daraufhin beschwert sich der Kanton Genf in Bern, sodass die Schweiz offiziell beim Königreich Sachsen vorstellig wird und sich wegen dieser Missachtung der Schweizer Souveränität beklagt: Auf Schweizer Boden jemanden zu entführen, stelle im Minimum einen «unfreundlichen Akt» dar, wie das in gewundenem Diplomatendeutsch heisst. Doch das sächsische Ministerium beeilt sich zu betonen, dass gar keine Entführung geplant gewesen sei. Beschwichtigend heisst es, ihre Kriminalkommissare hätten lediglich versucht, Luise zu einer freiwilligen Heimkehr zu bewegen. Danach hat es allerdings nicht ausgesehen.
Der sächsische Kriminalbeamte Arthur Schwarz muss also von einer gewaltsamen Entführung absehen; doch die scharfe Überwachung lässt er sich nicht nehmen. Dazu sitzt er tagelang im Empfangsbereich des Hotels und beobachtet von der Hotelhalle aus, wer wann mit wem ein- und ausgeht. Täglich sendet Schwarz seine Bulletins detailgenauer Beobachtungen dem Polizeipräsidenten von Dresden, Albin Hugo Le Maistre. Meistens unterschreibt der Überwacher seine Beobachtungen mit «Schwarz», manchmal aber auch mit «Niger» – welch fehlgeleitete Ironie! Um mehr Einzelheiten in Erfahrung zu bringen, fängt Schwarz die Post für die royalen Gäste ab, besticht Telefonistinnen und Zimmermädchen mit üppigen Trinkgeldern, um an weitere Informationen zu gelangen, führt genaue Erkundigungen auf der zweiten Etage des Hotels durch und zeichnet von Hand Pläne der Zimmer 7,8 und 9. Er hält auf den handgefertigten Grundrissen genau fest, welche Zimmer Durchgänge haben und vor allem, wo die Betten stehen: Jenes der Kronprinzessin steht direkt neben jenem von Giron, was er abermals als Beweis für den Ehebruch auslegt.
Hier halten sich Luise und Leopold auf: im Hotel d’Angleterre in Genf.
Arthur Schwarz schildert in einem seiner Bulletins die Arbeitsweise: Wenn er der Prinzessin «hier zufällig einmal begegnen muss, benehme ich mich natürlich höchst respektvoll, grüsse sie aber absolut nicht. Die anderen 3 Personen, die mich ja nunmehr alle von Ansehen kennen, ignoriere ich vollständig.» Erzherzog Leopold ärgert sich über die Anwesenheit des lästigen Kriminalbeamten aus Sachsen; deshalb erkundigt er sich bei Hotelier August Reichert, ob er gleich das ganze Hotel mieten könne, um Arthur Schwarz loszuwerden. Doch der Hotelier lehnt das Begehren mit Blick auf die anderen Gäste ab.
Weil die Entführung scheitert und Ehebruch in Genf für eine Verhaftung nicht ausreicht, beschreiten die Sachsen den rechtlichen Weg, um der Kronprinzessin habhaft zu werden. Sie bezichtigen Luise des Diebstahls und beantragen deshalb einen internationalen Haftbefehl. Die Kronprinzessin soll im Zustand geistiger Umnachtung alle sächsischen Kronjuwelen im Wert von 800 000 Mark gestohlen haben.
Doch diese Anschuldigung ist frei erfunden, denn Luise hat nur persönlichen Schmuck mit dabei, den sie geschenkt bekommen hat. Wir erinnern uns: Im Handkoffer hatte sie nur sehr begrenzt Platz. Sie führt viel weniger Werte mit sich, als sie in Dresden zurückgelassen hat. So wird die beantragte internationale Fahndung nach wenigen Tagen wieder aufgehoben, denn die Geisteskrankheit und die Anschuldigungen wegen des Diebstahls sind zu konstruiert und zu wenig glaubhaft. Doch schon agitieren und intrigieren die Sachsen weiter.