Kitabı oku: «Octagon»

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Michael Weger

OCTAGON

Am Ufer der Seele

Roman


Michael Weger


Am Ufer der Seele

Roman

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1. Auflage 2015 | Originalausgabe

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Copyright © 2015 Michael Weger

Ebook ISBN 978-3-931560-74-4

EPDF ISBN 978-3-931560-75-1

ISBN Buch-Ausgabe 978-3-931560-61-4

Coverabbildung: © shutterstock | kesipun

Autorenfotos: © Isabella Weitz

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Bildmaterial/Zeichnungen im Innenteil: © Archiv Michael Weger

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Für Luc und Isa, wie alles

Ist das innere Octagon im Ausgleich, entspringt aus seiner Mitte ein Fluss, der das Leben trägt und nährt. (Sanskritinschrift, um 650 v. Chr.)

Wer das ganze All kennt, und kennt sich selbst nicht, der kennt das All nicht. (Thomasevangelium, Logion 67, um 150 n. Chr.)

PROLOG

Die alte Frau war auf dem Gipfel angekommen. Ihre dunkle Silhouette hob sich scharf vom Weiß der Schneelandschaft ab. Trotz des hohen Alters bestieg sie einmal jährlich die Nordflanke des Namenlosen Berges. Ihr war bewusst, dass sie dabei jedes Mal ihr Leben riskierte. Doch nahm sie das Wagnis auf sich. Teils um sich selbst und ihren Körper der Prüfung zu stellen, teils um während der langen Stunden des Aufstiegs mit dem Tod an ihrer Seite ein vertrautes Gespräch zu führen.

So viele Jahre waren vergangen, seitdem sie das erste Mal an das verwitterte Gipfelkreuz gelehnt die dünne Luft eingeatmet hatte. Ihre Augen funkelten aus dem wettergegerbten Gesicht, als sie nun mit Genugtuung den Blick über ihr Land schweifen ließ. Und mehr noch: Sie öffnete den Mund und entließ im kehligen Klang einer uralten Sprache Namen in die Fernen der vier Himmelsrichtungen.

Als würde sie Kinder zu sich rufen, eigene, fremde und vielleicht sogar ungeborene, stieß sie die Worte mit gesammeltem Atem und langen Vokalen in die Weiten hinaus.

Und irgendwo, fern, unter den Dächern der Welt, fanden sie zueinander, die Namen mit ihren Menschen, die sie trugen, und die Paare, die sich auf den Weg machen sollten zu ihr und zur ewigen Lehre am Ufer der Seele.


TEIL 1

1

Paul atmete erleichtert aus. Er fuhr sich durchs Haar und brachte dabei den blonden Schopf noch mehr in Unordnung. Als er den stürmischen Applaus bemerkte, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Er verneigte sich kurz und griff nach den Notizblättern.

Mit einem Blick auf die über hundert Zuhörer im Kemenatensaal des Schlosses trat er zum seitlichen Bühnenrand, übersah jedoch den kleinen Treppenvorsprung und stolperte direkt in die Arme von Lena Kessler.

Die engagierte Tagungsleiterin war gerade auf ihn zugekommen, um sich für den beeindruckenden Vortrag zu bedanken. Im letzten Moment konnte sie seinen Sturz noch abfangen. „Doktor Stenson, nicht so schüchtern“, flüsterte sie ihm lächelnd zu. „Das war ganz hervorragend. Kommen Sie doch noch mal mit auf die Bühne und genießen Sie Ihren Applaus.“

Paul starrte sekundenlang in ihr Gesicht und fragte sich, warum ihm diese klaren, dunklen Augen nicht bereits früher aufgefallen waren.

Schließlich folgte er ihrer Aufforderung und ließ sich zurück vor das Auditorium führen.

In den folgenden Minuten unter anhaltendem Applaus hielt er ihren Arm so fest, als wollte er nie mehr loslassen.

Mit den vielen Worten des Lobes, die er während der Signierstunde zu hören bekam, löste sich langsam die Anspannung. Immer wieder blickte er auf die eindrucksvolle Schlange, die sich mittlerweile gebildet hatte. Er war stolz über jeden Teilnehmer, der ihm eines seiner druckfrischen Bücher vorlegte, und nahm sich ausgiebig Zeit für persönliche Widmungen. Zusehends fühlte er sich wieder wohl in seiner Haut.

Zuletzt trat Lena strahlend an ihn heran: „Ich freue mich sehr über Ihren Erfolg. Noch mehr würde ich mich freuen, wenn Sie auch mir eine kleine Zeile widmen.“ Lächelnd reichte sie ihm den Band und während Paul besonders ausführliche Dankesworte formulierte, setzte sie sich elegant auf eine Seite des Tisches. Sein Blick streifte über die grazile Silhouette ihrer Hüften und eine Hitzewelle jagte ihm durch den Körper. Die eben gewonnene Sicherheit geriet sofort wieder ins Wanken. Zugleich erlebte er erneut ein Gefühl tiefer Vertrautheit mit ihr.

„Sie sind nicht sehr geübt im Umgang mit Frauen, nicht wahr, Doktor Stenson?“, sprach sie ihn kokett auf seine Verunsicherung an und fuhr, ohne eine Antwort abzuwarten, fort: „Erstaunlich für einen so attraktiven Mann.“ Sie lächelte verführerisch. „Die Tagung ist zu Ende. Ich muss mich nur noch von einigen Referenten verabschieden. Wie wäre es, wenn wir den Abend zusammen verbringen?“

Paul brachte kein Wort über die Lippen und seine Antwort fiel, in Form von großen Augen und zögerlichem Nicken, wenn auch stumm, so doch allemal liebenswert aus.

Sie hatten sich zum Essen im Arkadencafé verabredet.

Nach umfangreichen Renovierungen in den Achtzigerjahren nahm das Café mit seinem stilvollen Ambiente aus historischer und moderner Architektur das halbe Erdgeschoss des Schlosses Goldegg ein. Das aus dem vierzehnten Jahrhundert stammende Anwesen im österreichischen Salzkammergut bot als Kultur- und Seminarzentrum den idealen Rahmen für Tagungen. Paul war ein paar Minuten zu früh im Café und wählte einen Tisch an einem der seitlichen Rundbogenfenster.

Lena hingegen erschien auf die Minute pünktlich und hatte ein enges, schwarzes Abendkleid angelegt.

Sie sah atemberaubend aus.

In Leinenhose mit dunkelblauem Hemd fühlte sich Paul ihr gegenüber gleich zu leger gekleidet, gestand sich diese Nachlässigkeit aber im Schwung seines erstarkten Selbstvertrauens durchaus zu.

Zum Essen bestellten sie zur Feier des Tages einen Brunello di Montalcino und schon nach dem ersten Glas spürten beide die wohlige Wirkung des schweren Weins.

Das Gespräch fand schnell jene Tiefe, nach der sich Paul in vielen Situationen mit Bekannten oder Freunden oft vergeblich sehnte. Und auch Lena schien die Unterhaltung zu genießen. Sie lachte und flirtete unverhohlen mit ihm, während sie immer wieder kurze Worte an die verbliebenen Tagungsteilnehmer richtete, die gekommen waren, um sich von ihr dankend zu verabschieden.

Auch Paul erhielt noch einiges an Anerkennung und bedankte sich seinerseits voll Freude.

Lena erzählte davon, dass ihr in diesem Monat noch die Abschlussprüfung des Medizinstudiums an der Universität Wien bevorstand. Sie hatte das Studium in Rekordzeit absolviert und geplant, sich im Anschluss alternativen Heilmethoden zuzuwenden. Die Organisation der Jahrestagung zu diesem Thema war ihr nur kurzfristig in den Schoß gefallen.

Ein befreundeter Arzt konnte die Aufgabe – der um Wochen zu frühen Geburt seiner Tochter wegen – nicht mehr wahrnehmen. So kurz vor der Prüfung würde die Zeit nun, mit dem vielen Lernstoff, den Lena noch zu bewältigen hätte, etwas knapp werden, doch war sie überzeugt, ihren Abschluss mit Bravour zu bestehen.

Paul genoss das Gespräch und fühlte sich immer mehr zu ihr hingezogen. Dennoch schreckte ihn ihr ausgeprägter Ehrgeiz etwas ab.

2

Nach dem Essen standen die beiden an der Balustrade der Terrasse. Das Schloss war auf einen Felsvorsprung des Salzburger Sonnenplateaus gebaut und bot bezaubernde Ausblicke.

Sie hatten sich kleine Cocktails aus dem Café mitgenommen und genossen zum ersten Mal an diesem für beide gleichermaßen aufregenden Tag ein paar Momente der Stille.

Die österreichische Landschaft mit ihren Bergen, verzweigten Auen und Bächen lag ihnen zu Füßen. Während die Sonne langsam hinter den westlich gelegenen Gipfeln verschwand, spiegelten sich die Strahlen auf den sanften Wellen des Goldegger Sees.

Ein lauer Spätsommerwind spielte um Lenas dunkles Haar.

Paul war zufrieden. Ihre direkte Art hatte ihn den Abend über zwar immer wieder um Worte ringen lassen, doch fand er sich unter zunehmendem Einfluss des Alkohols immer besser damit zurecht. Nun genoss er ihre Nähe und vor allem das nachhallende Gefühl eines großen Erfolges.

Der Vortrag auf der renommierten Tagung war ihm schon in den vergangenen Wochen wie eine Meisterprüfung erschienen. Er hatte sich gründlich darauf vorbereitet und war doch von erheblichen Selbstzweifeln geplagt gewesen.

Vier Jahre lang war er bereits erfolgreich als Psychotherapeut in der Kölner Gemeinschaftspraxis seines Mentors Doktor Carl Seyfried tätig. Die reiche Erfahrung hätte sein Selbstvertrauen eigentlich ausreichend stärken sollen. Umso mehr fragte er sich, warum ihn der Auftritt vor der durchweg wohlwollenden Zuhörerschaft wieder dermaßen verunsichert hatte.

Nun stand er neben Lena auf der Terrasse und die Gerüche des Landes, das sich zur Nacht bettete, vermischten sich mit dem zarten Duft ihres Parfüms.

Vielleicht reicht unser Unterbewusstsein mitunter ja doch in die Zukunft und hat schon erahnt, dass noch einiges mehr im Spiel war, dachte er jetzt mit einem Lächeln.

Lena griff in ihre Tasche und legte einen schwarz schimmernden Stein vor ihn auf die Balustrade. Das rundliche, fast faustgroße Objekt wies einen schneckenartigen Einschluss in gold-gelber Farbe auf. Sie schwieg.

Paul blickte sie fragend an.

„Ich habe zwei davon. Einer war wohl für dich bestimmt“, sagte sie sanft und wandte sich ihm zu. „Mein Bruder hat sie von einer Weltreise mitgebracht. Das war vor drei Monaten. Seitdem trage ich die Steine bei mir. Er hat mir empfohlen, einen davon einem Menschen zu schenken, der meine Seele berührt. Gut für’s Karma, meinte er.“ Sie lächelte kurz, sah Paul in die Augen und fuhr mit ernster Miene fort: „Weißt du, ich bin in einer Beziehung.“

Paul war einmal mehr überrascht von ihrer direkten Art. „Mit einem verheirateten Mann. Und niemand darf etwas davon wissen“, ergänzte sie mit sarkastischem Unterton. „Doch dieser Mann berührt mich nicht. Nicht mehr. Es ist der Arzt, für den ich die Leitung der Tagung übernommen habe. Mehr muss ich wohl nicht sagen.“

Paul blickte auf die gekräuselten Wellen des Sees, die im letzten Sonnenlicht glitzerten.

„Du musst jetzt nicht antworten“, sprach sie weiter, „ich wollte einfach, dass du weißt, ich bin nicht frei und zugleich wollte ich dir den Stein schenken und dir erzählen, welche Bewandtnis es damit hat. Nach deinem Vortrag dachte ich, es könnte eine heiße Nacht werden. Aber mittlerweile bist du mir zu schade für eine Nacht.“

Paul verschlug es wieder die Sprache. Es mangelte ihm einfach an Übung im Umgang mit Frauen, die sich kein Blatt vor den Mund nahmen. Vor allem, wenn er sie gleichermaßen attraktiv wie faszinierend fand. Allzu oft stand ihm dann seine Schüchternheit im Weg.

„Was“, fragte er ausweichend, „hat es nun mit dem Stein auf sich?“

Lena empfand Pauls Unsicherheit längst als anziehend.

„Mein Bruder kam völlig verändert von dieser Reise zurück“, begann sie lächelnd zu erklären. „Es war, als wäre ein Feuer in ihm entfacht. Er war voller Selbstvertrauen und zugleich ruhig und ausgeglichen, wie ich es nie zuvor an ihm erlebt hatte. Er berichtete von einer Art Tempelschule, auf die er irgendwo in der Welt per Zufall gestoßen war. Dort würde man, sofern man einen der Steine vorweisen könnte, freundlich aufgenommen und durchliefe in acht Stationen eine Form von uraltem Übungszyklus. Weibliche und männliche Meister lehrten einen, die archetypischen Charakteranteile des eigenen Wesens zu ergründen. Schließlich würde man den Tempel als neuer Mensch verlassen. Er meinte, es wäre die aufregendste Selbsterfahrung, die er je erlebt hätte. Und er sprach davon, seine Mitte und seine Berufung gefunden zu haben.“ Lenas Blick streifte in Gedanken versunken über die dämmrige Landschaft.

„Mehr konnte ich ihm nicht entlocken“, fuhr sie fort. „Auf alle weiteren Fragen gab er nur zur Antwort: Das müsse jeder für sich selbst herausfinden. Allen Menschen, die diesen magischen Ort oft erst nach Monaten verließen, wäre es ausdrücklich aufgetragen, nichts als diese Steine aus dem umliegenden Landstrich mitzunehmen und sie an würdige Menschen weiterzugeben. Die fänden dann zur rechten Zeit von selbst ihren Weg dorthin. Alles andere müsse ein Geheimnis bleiben.“ Sie strich sich eine dunkle Strähne aus dem Gesicht. „Das war die Geschichte der Steine. Ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll. Aber da mich dein Vortrag heute so oft an die Erzählung meines Bruders erinnert hat, dachte ich, das kann kein Zufall sein. Wie auch immer, dieser hier ist für dich.“, sagte sie in einem abschließenden Tonfall mit ihrem schönsten Lächeln.

3

Lenas Geschenk fand seinen Platz als Briefbeschwerer auf Pauls Schreibtisch in der Kölner Praxis.

Der Abend mit ihr lag nun über zwei Monate zurück und es verging kaum ein Tag, an dem Paul nicht an die Stunden im Schloss zurückdachte.

Nach der Erzählung über die Tempelschule hatte Lena sehr bald ihre Unterlagen aus dem Tagungsbüro geholt und sich zum Aufbruch bereit gemacht. Es wäre zu früh, hatte sie nur noch erklärt, sich aus ihrer Beziehung zu lösen und auf einen anderen Mann einzulassen. Wenn die Zeit reif wäre, würde sie Paul schon finden oder das Schicksal würde sie wieder zusammenführen. Mit diesen Worten hatte sie sich verabschiedet, ihm noch einen Kuss auf die Lippen gehaucht und war in ihr nahe gelegenes Hotel gefahren. Die beiden hatten nicht einmal ihre Telefonnummern ausgetauscht.

Paul war noch eine Weile auf der Terrasse geblieben, dann auf sein Zimmer gegangen und schnell eingeschlafen. Die Anforderungen des Tages hatten ihn sehr erschöpft.

Als er am darauffolgenden Morgen erwacht war, hatte er sich beeilen müssen, um rechtzeitig in Salzburg anzukommen und den Retourflug nach Köln zu erreichen.

Wie so oft in den letzten Tagen saß er nun in einer Pause zwischen den Therapiestunden an seinem Schreibtisch. Das antike Möbel aus der Zeit der Jahrhundertwende war das Einstandsgeschenk seines Mentors gewesen. Paul hatte sich kurz nach seinem Abschluss dessen Team anschließen dürfen. Carl Seyfried hatte von Beginn an große Hoffnungen in ihn gesetzt und war vom Lehranalytiker bald zum väterlichen Freund geworden. Nach kurzer Zeit schon hatte sich Paul in der Praxis heimisch gefühlt.

Nun saß er da, betrachtete den schimmernden Stein und verlor sich einmal mehr in Gedanken an Lena.

Die Erinnerung an sie, die Vertrautheit, ihre liebevollen Augen und ihr direktes Wesen ließen ihm keine Ruhe. Auch der Tempel aus ihrer Erzählung hatte sich so lebendig in seinem Bewusstsein abgebildet, dass es ihm beinahe schien, als wäre er bereits dort gewesen.

Konnte das sein? Konnte es tatsächlich irgendwo auf der Welt einen geheimen Ort geben, an dem annähernd jene Form der Charakterbildung betrieben wurde, die er in seinem Buch in Grundzügen vorschlug?

Als wissenschaftlich geschultem Therapeuten stand Paul eine Reihe von Methoden und Techniken zur Verfügung, um die Seelennöte seiner Klienten zu mildern und sie bei der Lösungsfindung zu unterstützen. Doch allzu oft erlebte er seine Bemühungen als gescheitert oder zumindest als unzureichend.

Vor allem schwebte ihm eine in die Gesellschaft und das Ausbildungswesen integrierte Form der Persönlichkeitsbildung vor, die von Kindheit an den Menschen im Umgang mit sich selbst schulte. Es sollte erst gar nicht zu den komplexen Verstrickungen und Störungen der Psyche kommen müssen, die er jeden Tag bei seinen Klienten erlebte. Dabei maß er dem wahrhaftigen Ausdruck der Gefühle durch Sprache, Stimme und Körper die größte Bedeutung zu. Diese Schulung des Ausdrucks war in der Methodik der wissenschaftlichen Psychologie allerdings nicht oder nur in Ansätzen enthalten.

Dass er damit einen Nerv der gegenwärtigen Gesellschaft getroffen hatte, bewiesen auch die zahlreichen Reaktionen auf sein Buch. Der Erfolg seines Werkes war überwältigend und er hatte nach wenigen Monaten schon einige Tausend Exemplare verkaufen können.

Die Feldstudien, die er noch während seines Studiums begonnen und erst mit der Fertigstellung des Buches beendet hatte, ergaben einen belegbaren Zusammenhang zwischen der Erhaltung der Gesundheit und persönlicher Authentizität. Einfach gesagt lebte man umso länger und gesünder, je mehr man sich treu bleiben durfte. Für die meisten Menschen, die unter psychischen Nöten litten und sich isoliert fühlten, schien der Ursprung ihrer Seelenqual genau darin zu liegen: Sie konnten ihr wahres Selbst nicht ausdrücken, geschweige denn es im Lebensalltag verwirklichen.

Doch so sehr Zahlen und Recherchen diese Thesen auch bestätigten, halfen sie nicht dabei, das Problem zu lösen. War die Persönlichkeit erst einmal geprägt, stieß sie immer wieder an dieselben Grenzen. Bekannte Therapieformen schufen zwar ein großes Bewusstsein über die Ursachen der eigenen Störungen, doch letztendlich hoben sie diese nicht oder nur teilweise und oft viel zu langsam auf.

Oder, wie Carl ihm einmal in einer abendlichen Nachbesprechung in vertrauter Atmosphäre gestanden hatte: „Weißt du, ich bin meine eigenen Neurosen bis heute nicht ganz los. Nach Hunderten Stunden der Eigentherapie während der Ausbildung vor gut dreißig Jahren und noch mal so vielen Stunden der Supervision während meiner beruflichen Laufbahn plagen mich immer noch Selbstzweifel und Versagensängste. Der Unterschied ist: Mittlerweile weiß ich immerhin, warum ich sie habe.“

Paul nahm den Stein in die Hand und war abermals erstaunt, wie viel Wärme und Ruhe von ihm ausgingen. Die glatte Oberfläche des schweren Materials fühlte sich sanft und wohltuend an.

Über eine interne Sprechanlage meldete sich die Sprechstundenhilfe der Gemeinschaftspraxis und unterbrach seine Überlegungen. Sie teilte Paul mit, dass sein nächster Klient aus familiären Gründen eben abgesagt hätte. Paul bedankte sich bei ihr und trug eine kurze Notiz in die Akte des Mannes ein. Er würde ihn in der kommenden Sitzung darauf ansprechen. So kurzfristige Absagen verbargen manchmal tiefere Ursachen. Da dies seine letzte Therapiestunde für heute gewesen wäre, stand ihm nun unerwartet ein freier Spätnachmittag zur Verfügung. Er beschloss, einen kleinen Herbstspaziergang in die Innenstadt zu unternehmen.

Sein Weg führte ihn einmal mehr in die Hohe Straße.

Der gleichmäßige und unpersönliche Menschentrubel in der berühmten Kölner Einkaufsstraße hatte eine durchaus beruhigende Wirkung auf Paul. Im Vorbeischlendern konnte er die Menschen beobachten und sich ihre Geschichten ausmalen. Schon in der Kindheit, als er seine Mutter, die vor einigen Jahren verstorben war, beim Einkauf begleiten durfte, gehörte dieses Kopfkino zu seinen liebsten Beschäftigungen. Nebenbei ermahnte er sich, den nächsten Anruf bei seinem Vater nicht wieder auf die lange Bank zu schieben. Der ehemalige Rechtsanwalt verlebte seinen Ruhestand mittlerweile auf den Kanarischen Inseln.

Wie von selbst steuerte Paul das Café Jansen an, das in den letzten Wochen zum lieb gewonnenen Aufenthaltsort für seine Ruhephasen geworden war.

Im typischen Wiener Flair des Cafés fühlte er sich Lena näher. Er entschied sich an diesem Nachmittag jedoch für einen Platz im straßenseitigen Gastgarten, um der für ihn amüsanten Beobachtung der Passanten weiterhin nachzugehen und die letzten Sonnenstunden vor dem nahenden Winter zu genießen. Schon nach wenigen Minuten verfiel er in einen Tagtraum.

Lena kommt mit offenen Haaren und einem hellen weit fallenden Sommerkleid direkt auf ihn zu. Sie lächelt ihn an, als würde sie zum alltäglich vereinbarten Treffen erscheinen. Mit einer anmutigen Kopfbewegung wirft sie ihre Haare über die Schultern, stellt ihre Tasche auf einen der Sessel und drückt Paul einen Kuss auf die Lippen. Alles ist vertraut und wie lange gewohnt, ohne jedoch an Reiz und Verbundenheit verloren zu haben.

Paul lächelte verträumt vor sich hin. In den ersten Tagen seiner Rückkehr ins Kölner Alltagsleben war er mit Therapiestunden und der Beantwortung von Anfragen rund um seine Publikation eingedeckt gewesen. Es blieb kaum Zeit, die Stimme aus seinem Unterbewusstsein wahrzunehmen, die zwar leise, doch beständig nach Lena rief.

Erst als sich der Terminstress etwas gelegt hatte, fand er sich täglich in Gedanken mit ihr beschäftigt.

Er hätte übers Netz ihre Kontaktdaten herausfinden können. Doch das wäre ihm wie ein Eindringen in ihre Privatsphäre erschienen.

Zudem empfand er es ebenso wie sie: Wenn die Zeit reif wäre und das Schicksal es vorgesehen hätte, würden sie einander gewiss wieder begegnen.

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Hacim:
330 s. 18 illüstrasyon
ISBN:
9783931560744
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