Kitabı oku: «Octagon», sayfa 4
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Den Anweisungen seiner Kolleginnen folgend, hatte sich Paul für das Mindestmaß an Bekleidung und Ausrüstung entschieden. Am letzten Tag des Februars war er mit einem kleinen Trolley und seinem neuen, randvoll gepackten Rucksack mit dem Zug nach München gefahren. Für den ersten Teil seiner über zwanzig Stunden dauernden Flugreise über Abu Dhabi und Mumbai nach Kathmandu hatte er einen Fensterplatz im Oberdeck des mächtigen Airbus A380 reserviert.
Der Komfort in dem geräumigen Langstreckenflieger würde ihn allerdings nur bis Abu Dhabi umgeben, denn für die Weiterreise waren kleinere Maschinen im Einsatz.
Nun saß er in einem der bequemen Sitze und bestaunte die Vielzahl der Funktionen des Multimediamonitors in der Rückenlehne der Reihe vor ihm. Eine Stewardess mit arabischen Zügen servierte den im Service inkludierten Champagner. Ihm war zwar nicht nach Feiern zumute, doch hoffte er, damit seine immense Aufregung etwas dämpfen zu können.
Schon in den vergangenen Wochen hatte er immer häufiger ein laues Gefühl im Bauch verspürt, sobald seine Gedanken zum näher rückenden Aufbruch und den weiteren Etappen seines bevorstehenden Abenteuers geschweift waren. Mitunter hatte sich auch noch eine euphorische Stimmung zur nervösen Aufregung gemischt und dieser Hormoncocktail reichte nun in seiner Intensität gut und gern an jene des Vortrages in Österreich heran.
Er vermied es, an Lena zu denken, bestellte ein weiteres Glas Champagner bei der arabischen Schönheit und freute sich über ihr strahlendes Lächeln.
Nachdem er das Glas geleert und sich ohne Erfolg auf Ablenkung durch die unzähligen Kanäle des Bordfernsehen gezappt hatte, starrte er etwas verloren aus dem ovalen Fenster.
Die Wolkendecke unter ihm war eine geschlossene Hügellandschaft aus rosa angehauchter Zuckerwatte. Die Sonne, eben im Begriff hinter dem Watteland zu verschwinden, zauberte im Untergehen auch noch orange Schlieren auf den azurblauen Himmel. Die klischeehafte Romantik der Szenerie drang allerdings nicht bis zu Paul durch. Zu sehr war er mit Zweifeln und Ängsten beschäftigt, die er in den vergangenen Wochen mit Erfolg unterdrückt hatte.
Als wäre ich auf der Flucht vor etwas. Oder jemandem. Ist das Furcht oder Hoffnung, die mich antreibt? Spielt mir meine Psyche einfach einen Streich, lässt mich glauben, aufregenden neuen Erkenntnissen auf der Spur zu sein und verdeckt dabei doch nur die Angst davor, in Gefühlen von Unzulänglichkeit und Minderwert zu vergehen? Oder ist es das alles tatsächlich wert? Soviel Risiko für einen so kleinen Funken Hoffnung und Wahrscheinlichkeit.
Die Sonne war mittlerweile untergegangen und tiefe, undurchdringliche Schwärze hatte sich wie ein Meer ausgebreitet, auf dem das gewaltige Schiff des Flugkörpers sanft schaukelnd dahinsegelte.
Nach einem weiteren Glas Champagner ging es ihm langsam besser.
Gut, dass ich Alkohol nicht vertrage, dachte er angenehm erleichtert, wandte sich dem Bordfernseher zu und ließ sich in die bunte, tanzende Welt eines Bollywoodmusicals hineinziehen.
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Beim Landeanflug auf Kathmandu stellte Paul zufrieden fest, wie schnell die vielen Stunden in den drei Maschinen, mit Aufenthalten zwischen den Anschlussflügen in Wartehallen und Duty-free-Arealen, letztlich vergangen waren. Die unzähligen Eindrücke von Menschen, Nationen, Farben und Gerüchen hatten die lange Reisezeit buchstäblich verfliegen lassen.
Durch das Fenster erspähte er an den Köpfen der Mitreisenden vorbei einen ersten Eindruck der Metropole. In den frühen Morgenstunden dehnte sie sich noch schlafend unter dem Flieger aus. Der Frühling hatte mit dichten Nebelschwaden bereits Einzug gehalten und die Tausenden teils verfallenen Backsteinbauten in rotbraunen Farbtönen ergaben ein Bild pittoresk verbrauchter Schönheit.
Nach der üblichen Schrecksekunde beim Aufsetzen der Maschine und dem anschließenden Applaus der Fluggäste war Paul zwar erschöpft, doch gut gelaunt und froh darüber, diese erste Etappe seines Abenteuers heil überstanden zu haben.
In der überschaubaren und schlichten Ankunftshalle des Airport wurde er wie vereinbart etwas abseits vor dem Kundenschalter einer bekannten Leihwagenagentur von Arjun erwartet.
Mit dem üblichen Namensschild in Händen und einem freundlichen Lachen auf dem Gesicht winkte sein Reiseführer ihm lebensfroh inmitten einer schnatternden Menge aus hoffnungsvoll Wartenden und erleichtert Angekommenen zu. Diesem gefühlsbetonten und geschwätzigen Austausch von Neuigkeiten unter der Bevölkerung sollte Paul in den kommenden Tagen noch oft begegnen.
Als er sich zu ihm durchgekämpft hatte, verneigte sich Arjun mit gefalteten Händen auf Höhe des Kopfes, sprach den landesüblichen Gruß Namaste und legte ihm einen bezaubernden Kranz aus orange- und rosafarbenen Blüten um den Hals. Paul kannte diesen Brauch nur aus Filmen und Berichten über Hawaii. Er bedankte sich erstaunt lächelnd und erwiderte etwas linkisch zum ersten Mal das für ihn respektvolle und anmutende Begrüßungsritual.
Die beiden waren einander auf Anhieb sympathisch. Paul war beeindruckt von Arjuns höflicher und zuvorkommender Art und konnte sich mit ihm fließend auf Englisch unterhalten. Arjun seinerseits war angenehm überrascht, in den kommenden Wochen einen so herzlichen und rücksichtsvollen Mann begleiten zu dürfen.
In einem völlig veralteten Lada Taiga wurden die beiden von einem älteren Freund Arjuns, dessen indische Züge von tiefen Falten gekerbt waren, ins Zentrum der Stadt gefahren. Auf den holprigen Einfahrtsstraßen hatte bereits dichter Frühverkehr eingesetzt.
Durch das Fenster stachen Paul die unzähligen Straßenkinder ins Auge. In kleinen Gruppen säumten sie munter lachend die schmalen Gehsteige und umlagerten die vor Ampeln zum Stillstand gekommenen Fahrzeuge mit Putzlappen und Touristennippes.
„Sie leben da“, erklärte Arjun, „und sind glücklich. Es wird Sie gewiss erstaunen, Mister Paul, aber man hat versucht, sie in einem breit angelegten Unterstützungsprogramm, an dem ich mich auch als Subkoordinator beteiligen durfte, in neu errichteten Heimen unterzubringen. Doch sie kehrten immer auf die Straßen zurück, fanden sich in den stets selben Gruppen ihrer Viertel zusammen und waren nicht davon zu überzeugen, sich helfen zu lassen. Sie empfanden unsere Bemühungen im Gegenteil als Bestrafung und brachen einfach aus. Irgendwann hat die Stadtregierung das Programm schließlich wieder eingestellt.“
„Ich hätte nicht erwartet, so viel Armut zu erleben“, entgegnete Paul sichtlich betroffen.
„Das Land hat sich noch nicht erholt von der Königsdiktatur vergangener Zeiten. Der Demokratisierungsprozess geht nur langsam vonstatten und das Kastenwesen ist nach wie vor unerbittlich darin, gesellschaftliche Hierarchien aufrechtzuerhalten. Den Armen und Mitgliedern der untersten Kasten stehen keine Bildung und so gut wie keine Aufstiegsmöglichkeiten zu.“ Er hielt kurz inne und blickte im Vorbeifahren gedankenverloren auf eine nicht weit von der Hauptstraße entfernte hinduistische Pagode. „Selbst meine eigene Frau, die aus einer niedereren Kaste stammt als ich, darf das Haus meines Vaters bis heute nicht betreten. Das ist traurig, doch es lässt sich nicht ändern.“ In fröhlicherem Ton fuhr er fort: „Aber lassen Sie uns jetzt über erfreulichere Themen reden. Ich habe Sie für die kommenden zwei Nächte in einem hübschen, kleinen Hotel direkt im Zentrum untergebracht. Für heute Abend darf ich mir erlauben, Sie in mein bescheidenes Heim zum Essen einzuladen. Meine Frau freut sich sehr darauf, die Bekanntschaft eines deutschen Psychologen und Buchautors zu machen. Sie liest viel, um die ihr teils vorenthaltene Schulbildung wettzumachen. Die Psyche der Menschen ist dabei so etwas wie ihr Steckenpferd. Außerdem“, kündete er mit schelmischen Augen verheißungsvoll an, „hat sie etwas über den Tempel, nach dem Sie mich gefragt hatten, in Erfahrung bringen können. Und ich habe dadurch vielleicht sogar eine Route für uns gefunden.“ Stolz und voll Freude trommelte er mit seinen Händen einen kleinen Wirbel auf das Armaturenbrett vor sich. Paul war mit einem Mal hellwach.
Nachdem Arjun jedoch keine Anstalten machte, mehr zu verraten, entschied er sich, bis zum Abend auszuhalten und den liebenswerten Nepalesen nicht mit weiteren Fragen zu bedrängen.
Das Zimmer in dem kleinen Hotel erwies sich für Pauls Begriffe viel mehr als heruntergekommen, denn als hübsch. Nach dem Durchqueren der letzten Innenstadtgassen mit ihren zahlreichen, verfallenen Häusern und Holzkonstrukten, die brüchige Balkone und Vordächer mehr schlecht als recht stützten, war ihm jedoch klar geworden, dass Arjun im vereinbarten Rahmen das Bestmögliche für ihn ausgewählt hatte. Die Zimmerpreise in den Touristenvierteln lagen im Vergleich zu den Vororten der Stadt unverschämt hoch. Immerhin boten sie den Mindeststandard an Hygiene sowie Badezimmer mit eigenen Toiletten und Duschen. Dennoch empfand Paul gleich beim Betreten des Raumes das düstere, durch löchrige Vorhänge fallende Licht, den abgetretenen Teppich und die mattroten, teils abgeschabten Tapeten als schlichtweg erdrückend. Er lehnte seinen Rucksack an eine Wand nahe dem Bett und zog die Vorhänge zurück. Der Ausblick auf einen Hinterhof aus braun verwaschenen Backsteinwänden trug ebenso wenig zu seiner Erheiterung bei. Er öffnete den Trolley, bewaffnete sich mit einem seiner Ersatzschuhe und machte sich auf die Suche nach den von Arjun beiläufig angekündigten Kakerlaken.
Zum Glück hielt das Zimmer, was an Hygiene versprochen war, und so konnte er nach einigen Minuten der Pirsch den Schuh beruhigt wieder an seinem Platz verstauen. Auch das frisch bezogene Bett mit Doppelpolstern erwies sich beim ersten Sitztest als überraschend komfortabel. Nachdem er sein Necessaire ins Bad getragen und die wenigen Bekleidungsstücke für die ersten Tage in der Stadt im schlichten Holzschrank verstaut hatte, positionierte er das Shaligrama behutsam auf dem Nachtkästchen. Er zog die Vorhänge wieder zu, legte sich aufs Bett und schlief, noch während er Zweifel daran hegte, ob er sich würde entspannen können, verblüffend schnell ein.
Als er erwachte, war das Zimmer in völlige Dunkelheit getaucht. Noch im Halbschlaf schreckte er verwirrt hoch und suchte orientierungslos nach einem Lichtschalter, den er schließlich neben dem Bett ertastete. Auch nach mehrmaligem Betätigen ließ sich das Licht jedoch nicht einschalten. Er tappte zum Fenster, öffnete abermals die Vorhänge und konnte so zumindest durch das spärlich einfallende Abendlicht die Tageszeit sowie die Umrisse der Möbel in seinem Zimmer erahnen. Plötzlich ging das Licht an und Paul erschrak ob der plötzlich einsetzenden Helligkeit, die eine große Deckenleuchte im Raum verströmte.
Es klopfte an der Zimmertür und er vernahm Arjuns Stimme, der seinen Namen rief.
Erst da wurde ihm bewusst, dass er noch immer seine Reisebekleidung trug. Er fuhr sich verstört durch die Haare, bemühte sich, den Schlaf aus den Augen zu reiben, und ging zur Tür. Arjun stand lachend davor, deutete auf seine Armbanduhr und sagte gelassen: „Wir waren vor einer halben Stunde an der Rezeption verabredet.“
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„Das muss Sie nicht verwundern“, erklärte Arjun bei der Fahrt im verbeulten Fiat zu seiner Wohnung in einen der Zwischenbezirke. „Das Licht fällt regelmäßig aus. Wie auch überhaupt alles, was am Stromnetz hängt. Wir können in Nepal einfach nicht genug Strom produzieren. Also hat die Regierung beschlossen, statt die Energie nur wenigen Menschen durchgehend zur Verfügung zu stellen, sie allen zukommen zu lassen, dafür aber nur die halbe Zeit. Es ist also ratsam, sich mit einer guten Taschenlampe auszustatten. Wenn Sie wollen, können wir noch in der Agentur vorbeifahren, dort sind einige für die Touren gelagert.“
„Danke“, erwiderte Paul lächelnd und musste an den Abend bei Carl denken, „aber ich bin eigentlich ganz gut ausgerüstet. Man hat mich vor meiner Abreise nicht nur mit unzähligen Ratschlägen, sondern auch mit unentbehrlichen Utensilien versorgt.“ Er grinste. „Darunter befinden sich auch eine ultramoderne Stirnlampe und mindestens hundert Batterien.“ „Das ist perfekt“, entgegnete Arjun entspannt, „die werden Sie bestimmt auch brauchen. Denn spätestens über viertausend Meter gibt es so gut wie gar keinen Strom mehr.“
Manisha, Arjuns junge Frau, empfing die beiden an der Wohnungstür. In einen orangeroten Sari gekleidet, der den dunklen Teint ihrer Haut bezaubernd umrahmte, kam sie der Umarmung ihres Mannes entgegen. Die Natürlichkeit ihrer Bewegungen unterstrich ihr herzliches Wesen. Auf der Stirn trug sie einen Bindi, den mit Pulverfarbe aufgemalten Segenspunkt, der das dritte Auge symbolisiert und als Zeichen der verheirateten Hindufrau gilt.
Als sie so neben ihrem Mann stand, empfand Paul die beiden als perfektes Paar. Mit einem Lächeln verbeugte sie sich im üblichen Ritual vor Paul und geleitete ihn höflich in den schlicht eingerichteten, überschaubaren Wohnraum, der zugleich als Esszimmer diente.
Sie hatte ein köstliches Abendessen aus Lammfleisch und Gemüse zubereitet, das mit Koriander, Nelken, Ingwer und zerlassener Yakbutter gewürzt war. Dal Bhat, das nepalesische Nationalgericht aus Linsen und Reis, durfte an Pauls erstem Abend natürlich auch nicht fehlen.
Aus reicher Erfahrung mit seinen Klienten servierte Arjun vorsichtshalber einen Whisky als Aperitif.
„Ich weiß schon, wie empfindlich mitteleuropäische Mägen sind und wir wollen doch den Beginn unserer Tour nicht unnötig verzögern“, bemerkte er schmunzelnd.
Nach dem Essen, bei dem sich das Gespräch vorwiegend um allgemeine Fragen zu Pauls Anreise sowie um das Leben in Köln und Nepal drehte, erkundigte sich Manisha schließlich vorsichtig nach seinem Plan, die Tempelschule zu suchen. Paul, der auf einen solchen Anstoß gehofft hatte, erklärte seine Absichten, erwähnte auch den Shaligram Shila und erzählte von Lenas Bruder und dessen Erlebnis.
„In meiner Frauengruppe – wir kümmern uns um die Ausgestoßenen, die Ärmsten der Armen aus den untersten Kasten“, begann Manisha in erstaunlich gutem Englisch, das sie via Fernkurs erlernt hatte, „gibt es eine Krankenschwester, deren Mutter angeblich vor vielen Jahren als eine der Meisterinnen in der Schule unterrichtet hat. Diese Frau soll für über ein Jahrhundert die einzige nepalesische Lehrerin gewesen sein, der jemals diese Ehre zuteil wurde. Wie Schwester Ramchandra mir berichten konnte, werden der Ort und das heilige Wissen der Schule noch immer behütet. Einer alten Prophezeiung nach bricht die Zeit für das Bekanntwerden der Lehren in der menschlichen Gesellschaft erst in diesem Jahrzehnt an.“ Sie stockte und fragte schüchtern: „Ich weiß nicht, erkläre ich das verständlich?“
„Durchaus, ja, erzählen Sie nur weiter bitte“, ermunterte sie Paul aufgeregt und berührt von ihrem scheuen, doch so ehrlichen Wesen.
„So viel mehr weiß ich leider gar nicht. Auch Ramchandras Mutter war zur Geheimhaltung verpflichtet und hat bis zu dem Zeitpunkt, da sie sich für immer in die Berge zurückzog, niemals den Standort des Tempels preisgegeben. Ramchandra hat ihre Mutter seit über einem Jahrzehnt nicht mehr gesehen und konnte mir nur die wenigen Anhaltspunkte geben, die ihr selbst in Erinnerung geblieben waren. Ihre Mutter hatte sie nämlich in der Kindheit das eine oder andere Mal zum Tempel mitgenommen. Das liegt jetzt allerdings schon beinahe dreißig Jahre zurück. Arjun hat sich dann aber mit Ramchandra getroffen.“ Sie blickte ihren Mann auffordernd an, das Gespräch zu übernehmen.
„Und ich habe aus ihren Schilderungen“, nahm dieser den Faden bereitwillig auf, „eine mögliche Route Richtung Annapurna bestimmen können, der wir – sofern Sie, lieber Paul, weiterhin darauf bestehen – folgen werden.“
Paul war euphorisch. Manishas Bericht erbrachte den ersten, stichhaltigen Beweis für die Existenz des Tempels.
„Jetzt bin ich natürlich umso entschlossener, ihn zu finden“, entgegnete er und blickte die beiden hoffnungsvoll an.
„Dann soll es so sein“, schloss Arjun lächelnd, „übermorgen brechen wir auf.“
Nach einem weiteren gut dreiviertelstündigen Stromausfall, währenddem seine Gastgeber zahlreiche Kerzen im Zimmer entzündet hatten, begann Manisha mit ersten vorsichtigen Fragen zu Pauls Arbeit und freute sich, wie bereitwillig und gern er Auskunft darüber gab. Sie fasste sich ein Herz und fragte schließlich nach allem, wovon sie sich insgeheim vorgenommen hatte, es in Erfahrung zu bringen. Paul freute sich über ihr Interesse und so drehte sich das folgende Gespräch – in dem Manisha auch zusehends mehr von ihrer Familie und ihrem Engagement in der Fraueninitiative preisgab – hauptsächlich um Pauls psychologische Studien. Auch die universitäre Ausbildung in Deutschland wurde angesprochen. Manisha blickte ihn an dieser Stelle mit großen Augen an. Sie hatte zwar bereits davon gehört, dass sie allen Frauen und Männern, gleich welcher sozialen Schicht, frei zugänglich war, doch hatte sie das bislang nicht glauben können.
Ob die Möglichkeit bestünde, vielleicht auch sein Werk irgendwann lesen zu dürfen, konnte Paul allerdings nicht beantworten. Seine Verlegerin hatte sich zu diesem Punkt bislang eher zurückhaltend geäußert. Vielleicht würde sie der Erfolg des Buches ja davon überzeugen, doch eine Übersetzung ins Englische in die Wege zu leiten.
Paul versprach jedenfalls fest, sollte es tatsächlich dazu kommen, Manisha ein Exemplar mit persönlicher Widmung zu schicken.
Eine Stunde vor Mitternacht unterbrach Arjun liebevoll den Redefluss seiner Frau, da die Zeit gekommen war, Paul noch auf das Dach des Wohnhauses zu entführen.
„Kommen Sie nur, mein Freund“, kündigte er verheißungsvoll an, während sie die Treppen zum obersten Geschoss hochstiegen. „Heute ist die erste, klare Frühlingsnacht in unserem Tal und die Chancen stehen nicht schlecht, ein seltenes Schauspiel zu erleben.“
Am Flachdach des fünfstöckigen Wohnhauses angekommen konnte Paul seinen Augen kaum trauen. Über Hunderten von Dächern schwebten zart beleuchtete Flugdrachen und boten ein tänzelndes, buntes Lichterspiel, das die darunter funkelnd erleuchtete Metropole spiegelte. Nach einer Weile, in der Arjun seine Frau umarmt hielt und die drei schweigend die Szenerie betrachteten, erklärte er: „Dieser Brauch gehört eigentlich zu einem unserer großen Feste, dem Dashain, das üblicherweise im Oktober stattfindet. Dabei wird fünfzehn Tage lang der Sieg des Guten über das Böse gefeiert. Vor wenigen Jahren hat jemand damit begonnen, die Drachen auch in der ersten, warmen Frühlingsnacht steigen zu lassen, und andere haben es ihm gleichgetan. Es gibt uns das Gefühl, über den Dächern unseres beengten Alltags ein kleines Stück mehr an Freiheit zu erhaschen.
Und es ist nie ganz sicher, welche Nacht es tatsächlich sein wird. Sie haben großes Glück, mein Freund“, er sah Paul mit schmalen Augen lächelnd, verschmitzt an, „und ich denke, die Zeichen deuten darauf hin, dass unser Abenteuer unter einem guten Stern steht.“
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Als Paul eine Stunde später sein Zimmer betrat, brachen jedoch unversehens wieder Zweifel und Furcht über ihn herein.
So sehr ihn der Abend berührt hatte und es ihm schien, als wäre er bei alten Freunden zu Besuch gewesen, erschreckten ihn jetzt, umgeben von der kargen, farblosen Einrichtung, die vielen fremden Geräusche, Gerüche und das Fehlen jeglicher Vertrautheit.
Diese Kultur war in ausnahmslos jedem Detail so ganz anders als alles, was er zuvor erlebt hatte. Seine Sinne waren überflutet von Tausenden kleinen Eindrücken, die sich nicht einordnen ließen. Was übrig blieb, war ein Gefühl der Ohnmacht und Einsamkeit.
Am liebsten hätte er seine Sachen gepackt, ein Taxi gerufen, sich zum Flughafen aufgemacht und die nächste Maschine Richtung Heimat genommen.
Er setzte sich vornübergebeugt auf die Bettkante und stürzte sein Gesicht in die Hände. An der Grenze zur Verzweiflung erstarrte er förmlich.
Zwischen den Fingern fiel sein Blick auf den Shila, dessen goldener Einschluss gerade von einem Lichtstrahl, der durch eines der Vorhanglöcher ins Zimmer drang, hell erleuchtet schimmerte.
Er hob erstaunt den Kopf und verharrte so einige Augenblicke in die Betrachtung des Steines versunken.
Erst wenn objektiv sinnvolle Entscheidungen durch Synchronizitäten bestätigt werden, erweist sich ein Lebensweg als der richtige.
Der kleine Lichtstrahl reichte aus, um Paul tief zu berühren. Er dachte an Manishas Bericht und erinnerte sich an das Bild, das er vor sich sah, als sie von der alten nepalesischen Meisterin erzählte.
Bei dem Gedanken an die, in seiner Vorstellung, erleuchtete Gestalt hellte sich seine Stimmung plötzlich auf. Als würde der Lichtstrahl, der auf den Shila traf, bis in sein Herz reichen, ging mit einem Mal eine Leichtigkeit von seiner Mitte aus, die er sich nicht erklären konnte.
Eine Träne lief über seine Wange. Er wischte sich über die Augen, erhob sich und stand für eine Weile völlig aufrecht da. Der leichte Zustand breitete sich in seinem ganzen Körper aus.
Er fühlte nichts Bestimmtes und war doch zugleich von einer liebevollen Klarheit durchflutet, die ihm jede Furcht nahm und ihn sanft, wie von Flügeln umarmt, aus sich selbst heraus behütet trug. Etwas Ähnliches hatte er nie zuvor erlebt. Er hielt einfach still und genoss den Zustand.
Auch später noch, nachdem er sein Gewand abgestreift, die Zähne mit Mineralwasser geputzt und den Mund mit Whisky gespült hatte, hielt die Ruhe in seinem Inneren an.
Er kroch unter die Bettdecke und schlief bald darauf frei von Zweifeln friedlich ein.