Kitabı oku: «Bonzentochter»

Yazı tipi:

Michaela Martin

Bonzentochter

Roman


Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Impressum:

© 2010 Verlag Kern

© Inhaltliche Rechte bei der Autorin

Autorin: Michaela Martin

Verlag u. Herstellung: www.Verlag-Kern.de Layout, Satz: www.winkler-layout.de © Titelbild: Anna Karpowicz-Westner „Vor dem Sturm“ , Öl auf Leinwand, 60x60cm, 2010 1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2012 ISBN 9783944224121

Inhalt

Cover

Titelseite

Impressum

Inhalt

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Epilog

Ich widme dieses Buch meinen Eltern,

die mich beide in gleichem Maße gefordert und gefördert haben in großer Dankbarkeit.

Prolog

Das Blatt mit den ausgeschnittenen und fein säuberlich aufgeklebten schwarzen Zeitungsbuchstaben fällt mir sofort in die Hand, als ich die Post durchsehe:

WIR HABEN IHRE TOCHTER ENTFÜHRT! SIE WIRD STERBEN, WENN SIE DIE POLIZEI EINSCHALTEN! WIR MELDEN UNS WIEDER!

Erst nachdem ich die aufgeklebten Worte mehrfach gelesen habe, begreife ich langsam ihren Inhalt. Was soll der Mist?, denke ich mir wütend. Welch makabere Art der Werbung! Ich wende das Papier, um herauszufinden, wer sich diese Art der Reklame hat einfallen lassen. Wer will mir denn mit so einem Unfug etwas verkaufen? Ich suche nach dem Absender, aber die Rückseite ist weiß. Werbung scheidet also aus. Aber was ist es dann? Ein schlechter Scherz? Wer hat solch dämliche Einfälle? Kein normaler Mensch käme auf die Idee, andere mit so einer Drohung zu verunsichern. Ich starre auf die schwarzen Buchstaben, unfähig, das Blatt wegzulegen. Ich muss einen klaren Kopf bewahren, deshalb erst einmal tief durchatmen. Doch meine Gedanken überstürzen sich.

Kapitel 1

Es ist ein heißer Freitag im Juli 1978 und exakt 17 Uhr.

Ich habe es geschafft. Der Schriftsatz in Sachen Völlinger gegen Bauinvest mit 85 Seiten liegt fein säuberlich getippt vor mir auf dem Schreibtisch. Jetzt muss ich nur noch einen Weg finden, ihn von meinem Schreibtisch auf den meines Chefs zu befördern.

Mein Chef heißt Ludwig Kains und geht gerade mal wieder seiner Lieblingsbeschäftigung nach: Er telefoniert und das kann dauern.

Mir tut das Kreuz weh vom langen Sitzen und ich habe Kopfschmerzen vor Hunger. Ein Marmeladenbrötchen zum Frühstück, mehr habe ich heute noch nicht gegessen. Meine Laune droht zu kippen, wenn ich in den nächsten Minuten nicht etwas zu essen bekomme. Seit 10 Uhr sitze ich an der Schreibmaschine und tippe wie eine Wahnsinnige ohne Pause, damit ich diesen Schriftsatz vor Feierabend noch fertigbekomme. An Tagen wie heute bin ich von meinem eigenen Ehrgeiz überrascht, denn schließlich bin ich nur die Aushilfe in diesem Büro. Im normalen Leben bin ich Jurastudentin im 9. Semester an der Uni in München.

Kains telefoniert schon seit über einer Stunde, ich vermute mit seiner neuen Flamme. Ich drücke ihm und uns die Daumen, dass es die Dame ernst mit ihm meint. Denn ihr verdanken wir einen seit Wochen gutgelaunten Chef. Jeder von uns weiß es inzwischen, Rechtsanwalt Kains ist massiv auf Brautschau. Er ist 33 Jahre alt und seine Kanzlei läuft inzwischen so gut, dass er Frau und Kinder ernähren könnte, wenn er denn die Chance dazu bekäme. Sagt er jedenfalls und zwar auffallend häufig, deshalb haben wir Damen vom Büro den Verdacht, dass er ernsthaft ans Heiraten denkt.

Sybille Schnell heißt die Auserwählte. Sie ist 24 Jahre alt und von Hauptberuf Tochter, so scheint es meinen Kolleginnen und mir zumindest, da wir erstaunlich schnell darüber informiert worden sind, dass die Eltern der Auserwählten eine gut florierende Firma in München mit Niederlassungen in ganz Deutschland haben. Der Vater von Fräulein Schnell scheint eine Nase für neue Technologien zu haben, er ist in der Computerbranche tätig und hat damit sehr viel Geld verdient.

Was wir bereits wissen, ist, dass Rechtsanwalt Kains die klassische Rollenverteilung in der Ehe bevorzugt, das heißt, er ist fürs Geldverdienen zuständig und seine zukünftige Frau Gemahlin für die noch zu zeugenden Kinder und den Haushalt. Unsere weibliche Intuition sagt uns, dass Fräulein Schnell schon sehr schnell auf eine abgeschlossene Universitätsausbildung zugunsten einer zeitnahen Vermählung mit unserem Arbeitgeber verzichten wird. Wenn die Ehe schiefgehen sollte, wofür sämtliche Statistiken der Familiengerichte bundesweit sprechen, ist deshalb heute schon mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass das Scheitern auch dieser so hoffnungsvoll gestarteten Ehe einen Mann sehr viel Geld kosten wird, denn Fräulein Schnell wird mit einem abgebrochenen Studium kaum in der Lage sein, sich einmal selbst zu ernähren.

Da Sybille Schnell bei der Wahl ihrer Kleidung französische und italienische Designerware bevorzugt, wie mich meine mode- und frauenzeitschriftenkundige Kollegin Anita bereits aufklärte, ist davon auszugehen, dass der gewohnte Lebensstandard von Fräulein Schnell auch als Studentin sehr hoch und damit wohl auch sehr teuer ist.

Anita und ich gehen davon aus, dass Schnell Senior deshalb sehr daran interessiert ist, dass Tochter Sybille möglichst zügig in die Verantwortung unseres Chefs übergeht. Anders lässt sich nicht erklären, warum er praktisch täglich bei uns in der Kanzlei auftaucht. Eine Akte „Schnell Senior“ gibt es nicht bei uns, das wüssten wir. Nach 24 Jahren des Dauerkümmerns auf hohem Niveau hat auch ein innig liebender Vater das Recht, sich einen anderen Dummen zu suchen, der ihm die Rundumversorgung der verwöhnten Tochter abnimmt. Das versteht schließlich jeder, zumindest all diejenigen, die in der Pflicht zu regelmäßigen Unterhaltszahlungen stehen.

Anita und ich verabscheuen Männer, die sich von ihren zukünftigen Ehefrauen vor der Hochzeit, zu einem Zeitpunkt, während dessen wir Frauen erfahrungsgemäß hirnlos auf Wolke sieben schweben, Blanko-Verzichtserklärungen unterschreiben lassen. Frauenloyalität wird bei uns im Büro großgeschrieben. Aber in diesem speziellen Fall drücken wir unserem Chef die Daumen, dass es ihm gelingt, Vater Schnell wieder in die Verantwortung zu nehmen, falls auch diese hoffnungsvoll gestartete Ehe vor dem Scheidungsrichter landet.

Unsere Ängste um das finanzielle Wohlbefinden unseres Chefs haben einen Grund. Allzu präsent ist uns das Schicksal von Rechtsanwalt Heldrich, einem befreundeten Kollegen von Kains, der seine Kanzlei schloss, nachdem er bemerkte, dass jede seiner beiden Sekretärinnen am Ende eines Monats mehr Geld in der Tasche übrig hatte als er selbst.

Er schloss die Pforten seiner Kanzlei mit den Worten: „Ich habe keine Lust, mir zwölf Stunden am Tag das Hirn zu zermartern, damit meine Frau den Rest ihres Lebens auf meine Kosten von der Selbsterfahrungsgruppe zum Friseur, zur Kosmetik, zum Fitnesskurs und nicht zuletzt zum Kochkurs der Volkshochschule pilgert, anstatt einer geregelten Arbeit nachzugehen!“

Unseren Vorwurf, dass sein Verhalten verantwortungslos sei, weil seine Frau damit der Sozialhilfe anheimfallen werde, konterte er gelassen: „Jetzt kann meine Frau endlich die Karriere machen, die sie angeblich zugunsten der Familie vor 20 Jahren geopfert hat. Viel Spaß dabei!“

Warum die Ehe von Heldrich gescheitert ist, wissen wir nicht. Nachdem in Deutschlands Großstädten inzwischen fast schon jede zweite Ehe geschieden wird, liegt er im Trend. Sein konsequenter Ausstieg aus dem Berufsleben allerdings gibt Anlass zur Sorge. Sollte es Schule machen, dass Deutschlands geschiedene Männer lieber in die Arbeitslosigkeit wandern, als Unterhalt zu zahlen, dann hat das nicht nur für die Ehefrauen finanzielle Auswirkungen, sondern auch für das Personal. Wenn zukünftig auch nur jeder dritte selbstständige Anwalt oder Steuerberater seine Kanzlei nach seiner Scheidung schließt, dann tummelt sich demnächst ein Heer von arbeitslosen Sekretärinnen beim Arbeitsamt. Verständlich also, dass meine Kollegin und ich schon im eigenen Interesse hoffen, dass unser Chef durch einen guten Ehevertrag sicherstellt, das Vater Schnell im Falle einer Trennung für seine Tochter aufkommt.

Von Büroorganisation hat Kains ganz eindeutig keine Ahnung. Auf seinem Schreibtisch herrscht das kreative Chaos, obwohl wir ihm täglich die Akten bestens aufbereitet vorlegen. An uns Bürodamen liegt es eindeutig nicht, dass er immer auf der Suche nach der passenden Akte ist.

Als Jurist ist er genial. Ich habe von ihm mehr gelernt als von allen Professoren an der Uni zusammen. Er hat die Gabe, selbst sehr komplizierte Fälle so strukturiert darzustellen, dass jeder sie verstehen kann, die Mandanten, die Mitarbeiter und vor allem auch die gegnerischen Anwälte und die Richter.

„Wenn alle verstehen, worum es geht, dann tut man sich einfach leichter, gemeinsam eine Lösung des Problems zu finden“ lautet sein Credo und es scheint viel Wahres dran zu sein, denn der Erfolg gibt ihm Recht.

Tatsache ist, dass ich erst seitdem ich bei Kains arbeite, fest davon überzeugt bin, dass ich mit Jura das richtige Studium gewählt habe. Nach zwei Semestern Professorenkauderwelsch hatte ich eine ernsthafte Krise. Ich war nahe daran, mein Studium hinzuwerfen. Die Professoren hatten mich so weit, dass ich davon überzeugt war, zu dumm für die Juristerei zu sein.

Mein Vater ist gelernter Schlosser, meine Mutter hat nach dem Krieg Schneiderin gelernt. Wenn es mir gelingt, das Studium erfolgreich zu beenden, bin ich der erste Akademiker überhaupt in unserer Familie. Das erfüllt meine Eltern zwar mit Stolz, aber mein Vater hegt auch ein gewisses Misstrauen, ob sich seine Investitionen in mein Studium einmal amortisieren werden. Er ist ein glühender Verfechter der Hausfrauenehe. Deshalb geht er davon aus, dass seine drei Töchter einmal für Kinder, Küche und Kirche, die drei klassischen „K“ eben, zuständig sein werden, wie sich das für eine normale Frau der Mittelschicht in den siebziger Jahren in Deutschland gehört.

Als ich meine Eltern davon in Kenntnis setzte, dass ich nach dem Abitur beabsichtige zu studieren, fragte mich mein Vater leicht irritiert: „Was hast du eigentlich davon, wenn du Akademikerin bist und später mit all deinen akademischen Würden ausschließlich in Alete rumrührst?“

Ich gehe einmal wohlwollend davon aus, dass er diesen Spruch nicht böse meinte. Er sprach nur das offen aus, was die meisten Männer in den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts über die Rolle der Frau in unserer Gesellschaft dachten.

Mein Vater hat in den 20 Jahren seiner Ehe, umgeben von vier Frauen, schon häufiger feststellen müssen, dass er in familiären und gesellschaftspolitischen Dingen eine Minderheitsmeinung vertritt. Er hat inzwischen gelernt, dass er gut beraten ist, sich Mehrheitsmeinungen im Hause zu beugen. Das heißt natürlich nicht, dass er seine Meinung korrigiert. Es zeigt nur, dass er darauf verzichtet, sie zu Hause durchzusetzen, weil er nach einem 12-Stunden-Arbeitstag zu Hause seine Ruhe will. Es ist ihm schlicht auch nicht so wichtig, ob seine Töchter studieren oder eine nichtakademische Ausbildung haben. Hauptsache sie sind glücklich und er hat seine Ruhe.

Meine Mutter ist eine gute Verbündete ihrer Töchter. Sie ist der festen Überzeugung: „Eine Frau kann gar nicht genug lernen, wenn sie ein eigenverantwortliches, selbstständiges Leben führen will, egal in welcher Rolle“.

Ihr Credo ist: „Wissen ist Macht“.

Meine Mutter ist Jahrgang 1930. Sie war gerade neun Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg begann. Ihre Heimatstadt Köln gehört zu den Städten in Deutschland, die am stärksten zerstört wurden. Als der Krieg 1945 zu Ende war, war sie 15 und hatte die Schule bereits verlassen. Ihr Vater schickte sie in ein Kölner Kaufhaus zur Schneiderlehre mit den Worten: „Da lernst du was Gescheites, denn Kleidung brauchen die Menschen immer!“ Während ihrer Schulzeit saß sie öfter im Bunker als auf der Schulbank. Ein Leben lang litt sie unter ihrer schlechten Schulausbildung. „Was kann ich schon? Ein bisschen rechnen und für einen Brief an die Verwandtschaft reicht es gerade auch noch, aber damit hört es schon auf.“

Ihren Beruf hat sie gehasst, deshalb ist es ihr heute umso wichtiger, dass ihre drei Töchter einmal die Möglichkeit haben, einen Beruf auszuüben, den sie lieben und der sie auch noch gut ernährt.

Während unsere Mutter eine Befürworterin einer möglichst umfassenden Schulausbildung ist, vertritt unser Vater die gegenteilige Meinung: „Das Leben lehrt die Menschen die wirklich wichtigen Dinge, nicht die Schule.“

Diese spielt bei ihm eine eher untergeordnete Rolle. Er leidet auch nicht darunter, nur einen Volksschulabschluss zu besitzen. Er ist heute ein erfolgreicher Unternehmer, auch ohne eine höhere Schulausbildung.

Vor dem Hintergrund dieser beiden unterschiedlichen Erziehungsmodelle ist es zu verstehen, dass mein Vater seine Investition in meine Ausbildung übersichtlich gestalten möchte. Als ich mich im September 1972 von ihm verabschiedete, um zum Studieren nach München zu ziehen, stellte er klar: „Ich hoffe, du weißt, was du tust. Denk daran, ich bezahle nur eine Ausbildung. Solltest du auf die Idee kommen, das Studium abzubrechen, musst du selber sehen, wie du weiterkommst.“

Ich weiß zwar nicht, ob er seine Drohung wahr gemacht hätte, aber zuzutrauen wäre es ihm. Dank der motivierenden Arbeit bei Rechtsanwalt Kains muss ich allerdings die Finanzierungsbereitschaft meines Vaters für ein neues Studium und damit auch die Belastbarkeit des Familienfriedens nicht testen.

Also verdanke ich es Kains, dass ich die Krise überwunden habe und kurz vor dem Examen stehe. Die Juristerei macht mir inzwischen sogar richtig viel Spaß. Nun besteht nur noch die Gefahr, dass ich mehr Zeit in der Kanzlei verbringe als in der Uni.

Aber jetzt ist endgültig Schluss für heute, schließlich ist es Freitag und schon 17 Uhr.

Ich habe weder Zeit noch Lust zu warten, bis mein verliebter Arbeitgeber sein Gespräch mit seiner Herzallerliebsten endlich beendet. Das kann bekanntlich dauern. Dieses Mal bin ich nicht bereit, Rücksicht zu nehmen. Aber den Schriftsatz muss ich noch loswerden, damit er weiß, dass ich pünktlich mit allem fertig geworden bin. Ich bin wild entschlossen, innerhalb der nächsten fünf Minuten das Büro zu verlassen. Da hilft nur eines: Unter Missachtung aller Anstandsregeln gehe ich, ohne zu klopfen, in sein Büro und lege den Schriftsatz vor ihn auf den Schreibtisch, allerdings ringe ich mir ein entschuldigendes Lächeln ab.

Offensichtlich ist Kains viel zu verliebt, um an diesem Tag überhaupt jemandem böse zu sein. Ganz im Gegenteil: Als er feststellt, dass der Schriftsatz in Sachen Völlinger fertig getippt vor ihm liegt, sieht er mich strahlend an und hebt seinen linken Daumen nach oben, was ich eindeutig als Zeichen der Anerkennung deute. In der rechten Hand hält er den Telefonhörer, aus dem eine weibliche Stimme schallt.

Kains strahlt glücklich. Selbstbewusst bilde ich mir ein, dass dieses Lächeln auf mein Konto geht und in diesem Moment nicht Fräulein Schnell die Ursache für sein Wohlbefinden ist. Wenn der Chef glücklich ist, dann sind es die Angestellten bekanntlich auch. Deshalb lächele ich fröhlich zurück, bevor ich fluchtartig das Büro verlasse. Auf mich wartet ein wunderbares Wochenende. Ich habe mir fest vorgenommen, drei Tage lang nur zu faulenzen.

Die freien Tage habe ich mir redlich verdient, denn die vergangene Woche war verdammt hart. Anita, die hauptamtliche Sekretärin hat sich eine Woche Urlaub genommen. Sie ist eine wahre Meisterin der Urlaubsplanung. Ihr stehen 30 Tage Urlaub im Jahr zu, aber sie schafft es in manchen Jahren locker aus den sechs Wochen acht Wochen zu machen, indem sie jeden Feiertag optimal für ihre Urlaubsplanung nutzt.

Obwohl wir anderen Sekretärinnen unter Anitas Urlaubsplanung leiden, gönnen wir ihr die Freizeit. Sie ist eine wirklich tolle Kollegin. Sofern sie an ihrem Arbeitsplatz ist, ist sie sehr fleißig, hilfsbereit und loyal. Anita ist der Profi unter uns im Büro. Sie managt nicht nur ihre Kolleginnen und die Mandanten der Kanzlei, sondern hat auch ihren Chef fest im Griff. Sie tippt wie eine Weltmeisterin und bereitet nebenbei einfache Fälle so vor, dass Kains sie nur noch unterzeichnen muss. Dabei bleibt sie auch im schlimmsten Stress immer hilfsbereit und freundlich. Sie ist die Seele des Büros, alle lieben sie, alle verzeihen ihr die etwas eigensinnige Urlaubsplanung.

Kains wäre ohne Anita am Anfang seiner Karriere ein armer Hund gewesen, denn von den Abläufen eines Kanzleibetriebs hatte er keine Ahnung. Unser Chef gibt ehrlich zu, dass schon so simple Sachen wie die korrekte Anlage einer Akte, Wiedervorlagesysteme und Formulare für ihn absolutes Neuland waren.

Anita arbeitet nur 30 Stunden in der Woche, was viel zu wenig ist, um die ganze Arbeit zu schaffen. Deshalb beschäftigt Kains noch zwei Aushilfen, die Anita entlasten. Eine davon bin ich, Ramona heißt die andere. Ramona arbeitet montags und mittwochs und ich arbeite dienstags und donnerstags. Das finde ich sehr angenehm, weil ich so auch einmal in den Genuss eines verlängerten Wochenendes komme.

Wenn Anita allerdings Urlaub nimmt, arbeite ich voll, meist 40 Stunden und mehr in der Woche. Ramona hilft, wo sie kann. Leider hat sie selten mehr Zeit als drei Tage in der Woche. Sie studiert Zahnmedizin, was zeitaufwendiger zu sein scheint als Jura. Hinzu kommt natürlich, dass Ramona und ich keine Profis sind und deshalb für die Erledigung der meisten Angelegenheiten deutlich länger brauchen als unsere pfiffige Kollegin Anita. Außerdem müssen wir Kains auch viel häufiger um Rat fragen. Das ist für uns alle lästig. Auf dem Weg zur U-Bahn bin ich wie erlöst. Die Verantwortung für das Büro hat in der letzten Woche doch sehr an meinen Nerven gezerrt. Ich freue mich, ja es macht mich sogar ein bisschen stolz, dass ich alles so gut geschafft habe. Anita kann wirklich nicht meckern. Es ist nichts liegengeblieben. Am Montag findet sie ein aufgeräumtes Büro vor, genau so, wie sie es verlassen hat.

Ich habe Glück: Meine Bahn, die U6, fährt gerade in den Bahnhof ein. Ein paar Sitzplätze sind noch frei, ich habe die Wahl. Eine fünfjährige, leidvolle Beziehung zur Münchner U-Bahn hat mich gelehrt, mir die Fahrgäste erst einmal genau anzusehen, bevor ich mich neben sie setze. Es ist Sommer und heute ist es sehr heiß, mindestens 30 Grad im Schatten, in der U-Bahn gefühlte 35. Die Bahn hat keine Klimaanlage, die Menschen schwitzen alle still vor sich hin. Meine überempfindliche Nase zwingt mich zu einer sorgfältigen Auswahl meines Sitznachbarn, wenn ich die nächsten 30 Minuten ohne innere Qualen überleben will. Meine Laune kann in Sekundenschnelle auf den absoluten Tiefpunkt sinken, wenn meine Nase den Geruch von Schweiß, Zigaretten oder Knoblauch ertragen muss. Bin ich dann erst einmal schlecht gelaunt, kann nichts und niemand meine Stimmung mehr heben. Für den Rest des Tages leide ich dann unter einer undefinierbaren Abneigung gegen alle Menschen, unter der auch meine Familie zu leiden hat. Dieses Risiko will ich heute auf keinen Fall eingehen.

Mit dem Blick einer routinierten U-Bahn-Fahrerin suche ich mir einen gepflegten Mann um die 40 Jahre aus. Im schlimmsten Fall dringt in den nächsten Minuten ein Hauch von Aftershave in meine Nase, aber damit kann ich leben. Auch von gegenüber droht keine Gefahr. Dort sitzen zwei Damen um die siebzig, herausgeputzt in gepflegten bayerischen Loden, offensichtlich auf dem Weg zum nächsten Damenkränzchen. Gegen Lavendel und Kölnisch Wasser habe ich nichts.

Ich setze mich und nehme einen vorsichtigen Atemzug. Ich hatte recht, der junge Mann schwitzt nicht und riecht auch nicht nach Knoblauch oder kaltem Zigarettenrauch, nicht einmal eine Welle von Aftershave erreicht meine gequälte Nase. Ich habe also allen Grund zu entspannen und mich auf das kommende Wochenende zu freuen.Starten werde ich mit einer Badewannenorgie. Ich werde mir ein lauwarmes Schaumbad gönnen, ein Glas Weißwein und die Zeitung werden die einzigen Zeugen meiner Entspannung sein. Kein Freund und auch keine kleine Schwester werden mich heute um mein Vergnügen bringen. Beide haben angekündigt, dass sie nicht vor acht Uhr abends zu Hause sein werden. Die kleine Schwester ist beim Sport, mein Freund arbeitet länger und will danach in der Stadt einkaufen gehen. Er ist nicht nur für unsere Versorgung mit Nahrungsmitteln zuständig, sondern auch der Koch der Familie. Er kocht sehr gerne und meistens auch gut. Jedenfalls besser, als ich es kann, deshalb hat er von Beginn unserer Beziehung an diese ehrenvolle Aufgabe übernommen. Freiwillig, wohlgemerkt.

Die U-Bahn setzt sich in Gang und schon ein paar Sekunden später fahren wir in die Tunnelröhre ein. Es gibt nichts mehr zu sehen außer der langweiligen, hässlichen Tunnelwand. Die Fahrgäste sind gezwungen, ihren eigenen Gedanken nachzugehen. Meine Gedanken kreisen noch immer um den Prozess Völlinger gegen die Firma Bauinvest. Die dreißigminütige Heimfahrt von der Kanzlei quer durch die Stadt nach Hause in den Münchner Norden tut mir meist gut. Ich kann dabei sehr gut abschalten. Bis ich zu Hause ankomme, ist der Kopf frei für die Familie, das bekommt allen gut. Heute gelingt mir das allerdings nicht wirklich.

Der Fall Völlinger beschäftigt die Kanzlei schon seit Monaten und liegt mir fast genauso lange auf der Seele. Einmal abgesehen davon, dass alle Schriftsätze in dieser Sache geradezu unverschämt lang sind, wie die 85 Seiten von heute wieder einmal bewiesen haben, ist der Fall auch noch tragisch, denn es geht im wahrsten Sinne des Wortes um das wirtschaftliche Überleben einer jungen Familie. Wir vertreten die Gegenseite, den Bauinvestor, was die Sache nicht leichter für mich macht. Seit Wochen drückt mich immer wieder das schlechte Gewissen, wenn dieser Fall auf den Tisch kommt, obwohl ich an dem Unglück der Familie natürlich völlig unschuldig bin. Meinem Arbeitgeber geht es wohl ähnlich, denn er drückt sich um die Schriftsätze so lang er kann. Gestern aber musste er ran, denn heute läuft die Frist ab. Wenn er also nicht Gefahr laufen will, den Prozess zu verlieren, muss er den Schriftsatz heute noch in den Nachtbriefkasten werfen. Ich hoffe, er vergisst es nicht.

Der Fall ist schnell erzählt: Die junge Familie Völlinger hat von unserer Mandantin, der Firma Bauinvest, eine Eigentumswohnung in einem schönen Münchener Altbau gekauft: 4 Zimmer, Küche, Bad, in Sendling, direkt am Harras, gar nicht weit von unserer Kanzlei.

Sechs Monate nach Bezug der Wohnung ist die Familie fluchtartig ausgezogen. Es herrscht Schimmelalarm. Schimmel, soviel weiß inzwischen jedes Kind, ist gesundheitsgefährdend. Schimmel an Neu- oder Altbauten kann zwei Ursachen haben und darin liegt das Problem. Völlingers werfen unserer Mandantin vor, bei der Sanierung des Gebäudes geschlampt zu haben, weil sie an der falschen Stelle gespart haben. Statt eines hochwertigen diffusionsoffenen Dämmmaterials soll preisgünstiges Styropor zur Dämmung der Außenwände verwendet worden sein.

Unsere Mandantin weist alle Schuld von sich und geht zur Gegenoffensive über. Sie behauptet, dass sich der Schimmel deshalb gebildet hat, weil die junge Familie Geld sparen wollte und deshalb kaum geheizt hat und selten lüftete. Bauinvest beruft sich darauf, dass nachweislich in 95 von 100 Fällen die Bewohner selbst schuld an der Schimmelbildung sind. Sie trägt weiter vor, dass es doch sehr verwunderlich ist, dass sich bisher außer der Familie Völlinger kein anderer Bewohner des Hauses über Schimmel beschwert hat. Tatsache ist, dass alle Familienmitglieder krank sind. Sie leiden seit Wochen an einem lästigen Reizhusten. Die kleinen Kinder im Alter von vier und sechs Jahren bekommen schon bei der kleinsten Anstrengung keine Luft. Der Kinderarzt hat eine Art Asthma im Anfangsstadium diagnostiziert, wahrscheinlich verursacht durch Umweltschäden. Die Untersuchungen laufen noch.

Herr und Frau Völlinger leiden an Hautreizungen, die sie verzweifeln lassen. Bis heute hat kein Arzt ein Mittel gegen den ständigen Juckreiz gefunden. Völlingers haben sich inzwischen an jeder Stelle ihres Körpers blutig gekratzt. Der arme Herr Völlinger sieht mit seiner blutig gekratzten Nase und den geschwollenen Augen inzwischen aus, als hätte er sich mit Max Schmeling einen Boxkampf geliefert. Die ganze Familie tut mir aufrichtig leid. Vor allem, da Völlingers inzwischen pleite sind. Das Schicksal der jungen Familie stand sogar schon in der Presse im Lokalteil der Abendzeitung.

Damit kam etwas Schwung in die ganze Angelegenheit.

Einen Tag nach dem Erscheinen des Artikels hat der Vorstand der Firma Bauinvest persönlich bei Kains angerufen. Er wollte wissen, ob man die Sache nicht beschleunigen könnte, schon wegen der schlechten Presse. Kains, dem die Angelegenheit auch schwer im Magen liegt, regte einen außergerichtlichen Vergleich an, was allerdings mit Kosten verbunden gewesen wäre.

Davon wollte der Vorstand nichts wissen: „Dann sollen sie doch klagen. Wenn sie ihr Geld zum Fenster rauswerfen wollen, dann ist das ihre Sache. Der Prozess kommt die teuer zu stehen, die werden sich noch wundern!“

Der zaghafte Versuch von Kains, den Vorstand zum Einlenken zu bewegen, indem er auf die imageschädigende Wirkung des Zeitungsartikels hinwies, wischte dieser mit den Worten weg: „Ach was, nichts ist so alt wie Presse von gestern. Es bleibt dabei, wir zahlen nicht, sollen sie doch klagen!“

Recht haben und Recht bekommen ist offensichtlich zweierlei, so viel kann man bei diesem Prozess lernen. Diese Erkenntnis ist schmerzlich, aber wahr.

Inzwischen hat die U-Bahn den Tunnel verlassen, ab Studentenstadt Freimann fährt sie wieder oberirdisch. Noch zwei Haltestellen und ich bin zu Hause, Kieferngarten ist meine Hausstation. Es wird also Zeit, dass ich meine trüben Gedanken beiseiteschiebe und mich den wirklich schönen Dingen des Lebens zuwende, dem geruhsamen Wochenende, welches unmittelbar vor der Türe steht. Der Wetterbericht hat fantastisches Wetter vorausgesagt. Während ich meine Tasche und Jacke zusammenpacke, denke ich: Heute kann kommen, was will, mich erschüttert nichts mehr. Schaumbad, ich komme!

Ich betrachte mein Spiegelbild in der Fensterscheibe der U-Bahn. Als ich mir gestern Abend die Zähne geputzt habe, habe ich mit Schrecken festgestellt, dass sich unzählige kleine Mundfalten über meiner Oberlippe gebildet haben. Außerdem macht sich zwischen meinen Augenbrauen eine tiefe Furche breit, beides verleiht meinem Gesicht einen griesgrämigen, abweisenden Ausdruck. Man wird im Alter nicht schöner, so viel steht fest. Dass der Verfall bei mir schon mit 25 Jahren anfängt, beunruhigt mich sehr. Ich habe Angst, dass ich mit 30 Jahren aussehe wie Mutter Theresa nach ihrem jahrzehntelangen unermüdlichen Einsatz für die Armen in Indien. Um diesem Schicksal zu entgehen, muss ich dem sichtbaren Verfall unverzüglich entgegenwirken, das habe ich gestern Abend noch entschieden. Den Anfang macht heute eine Gesichtspackung, die nach einer zehnminütigen Einwirkzeit eine deutlich sichtbare Glättung der beanspruchten Haut bewirken soll. Ich hoffe, die Packung hält, was die Werbung verspricht.

Die letzten zwölf Monate sind nicht spurlos an mir vorbeigegangen. Ich habe viele Überstunden im Büro gemacht. Ich arbeite gerne, denn erstens macht mir mein Job Spaß und zweitens können wir das Geld nach dem Umzug aus dem Appartement in der Studentenstadt in eine größere Zweizimmerwohnung in Kieferngarten gut gebrauchen. Der Umzug hat Geld gekostet und die Miete ist auch viel teurer. Es ist eine für Münchner Verhältnisse zwar sehr faire Miete, aber trotzdem für zwei Studenten und eine Schülerin, die auf BAföG oder Unterhaltszahlungen vom Vater angewiesen sind, sehr teuer.

So kurz vor dem Examen fordert die Uni ihren Tribut. Wenn ich nicht Gefahr laufen will, durch das erste Examen zu rauschen, muss ich mein Lernpensum drastisch steigern und samstags zu den Klausurenkursen gehen, was mehr als lästig ist. Immer wenn ich auf dem Weg zur Uni bin und den vielen gutgelaunten Menschen auf der Leopoldstraße begegne, tue ich mir selbst aufrichtig leid. Ich bedauere mich, weil ich die nächsten fünf Stunden in einem muffigen Hörsaal sitzen muss und mein Hirn mit der Lösung eines Falles quäle, der in der Regel nur einen sehr niedrigen Unterhaltungswert hat. Die Lösung muss sauber unter den einschlägigen Gesetzestext subsumiert, soll heißen, begründet werden, und zwar brillant formuliert auf etwa zehn Seiten. Leider hat sich inzwischen herausgestellt, dass meine Handschrift mein größter Feind ist. Zwei Klausuren wurden mit „nicht ausreichend“ bewertet, weil die Prüfer meine Schrift nicht lesen konnten und die Arbeit deshalb erst überhaupt nicht korrigiert haben. In diesen Momenten hasse ich mein Studium. Aber es hilft ja alles nichts, da muss ich die nächsten Monate noch durch. Nach dem Examen wird alles besser. Keine Vorlesungen, keine Klausuren.

Seit über einem Jahr wohnt Sylvie, meine zehn Jahre jüngere Schwester, bei uns in München. Mein Freund Klaus und ich haben zwei Jahre lang in einem schönen Ehepaar-Appartement in der Studentenstadt Freimann gewohnt, obwohl wir nicht verheiratet sind. Es war ein glatter Glücksfall, dass diese Wohnung gerade frei stand, als Klaus und ich auf der Suche nach einer Bleibe waren. Statt zwei getrennten Appartements bot uns die nette Frau von der Studentenstadtverwaltung diese schöne kleine Zweizimmerwohnung an. Natürlich haben wir sofort zugegriffen und waren sicher, dass wir in der Wohnung bis zum Ende unseres Studiums bleiben würden. Man darf drei Jahre in der Studentenstadt wohnen. Damit möglichst viele Studenten in den Genuss einer günstigen Wohnung kommen, ist die Wohnzeit begrenzt. Ich finde das durchaus gerecht und deshalb richtig. Ich habe das Leben in der Studentenstadt geliebt. Die Wohnung hatte zwei Zimmer, plus kleines Duschbad. Groß genug für zwei Personen, leider zu klein für drei, besonders wenn eine Person erst 14 Jahre alt ist und spätestens ab 22 Uhr schlafen sollte. Die Lage der Studentenstadt ist fantastisch. Direkt am Englischen Garten gelegen, der Aumeister, einer der traditionsreichsten Münchner Biergärten, nur einen Steinwurf entfernt, keine fünf Minuten mit der U-Bahn zur Uni. Wir hatten viel Spaß in der Studentenstadt. Es war immer etwas los. Es gab mehrere Discos und eine nette Bar im obersten Stock des Hanns-Seidel-Hauses, mit einem traumhaften Blick über ganz München.

₺260,95

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Litres'teki yayın tarihi:
23 aralık 2023
Hacim:
291 s. 2 illüstrasyon
ISBN:
9783944224121
Yayıncı:
Telif hakkı:
Автор
İndirme biçimi:
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre