Kitabı oku: «Die Farben einer parallelen Welt», sayfa 2

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Juli 2016

OPJER

Opjer, der operative Ermittlungsbeamte, ist ein Phänomen der sowjetischen und leider auch der postsowjetischen Realität. Opjer ist das Wort, das jedem vertraut ist, der gerade seiner Freiheit beraubt ist oder es irgendwann einmal war.

Die mit diesem Wort bezeichnete Person kann ein lächelnder junger Typ sein oder ein kurz vor der Rente stehender Herr mit ergrautem Haar und einem müden Blick, er kann ein Schreihals sein, dessen Augen unruhig hin und her rasen, oder auch ein höflicher Intellektueller, der dich ruhig und konzentriert anschaut, er kann ein willensschwacher Faulenzer oder ein fanatischer Profi sein – so unterschiedlich die Erscheinungen, das Wesen war und bleibt gleich: Opjer.

Zu Zeiten des zaristischen Russlands wurden sie Gendarmen genannt, später einfach Mitarbeiter der Tscheka5, des UgRO6 und dergleichen Strukturen. Jetzt werden sie „operative Ermittler“, oder auch „Operative“ genannt. Ich frage mich, wie man sie in anderen Ländern nennt? Agents? Polizeiinspektoren? Detectives? Und ziehen sie eine genauso blutige Spur hinter sich her, wie „unser“ Opjer bereits seit rund hundert Jahren?

Die offiziellen Pflichten eines Operativen, in schönen Gesetzen festgehalten, sind folgende: Sammlung operativer Informationen, Kontrolle der operativen Situation, um Verbrechen aufzuklären und damit „die Rechte und die legitimen Interessen von Bürgern“ zu schützen. Gelächter im Publikum. Denn die reale Tätigkeit dieser Typen mit dem „kühlen Kopf und einem heißen Herzen“ (die Portraits des Urhebers dieser Metapher, des Sadisten Dserschinskij7, sind bis heute ein obligatorisches Kennzeichen eines jeden Arbeitszimmers, in dem ein Operativer sitzt) reicht natürlich sehr viel weiter, als diese trockenen, uninteressanten Formulierungen.

Meine erste Begegnung mit den Operativen fand am 4. September 2010 in den Büroräumen der Untersuchungshaftanstalt von Okrestina statt, gleich am Tag nach meiner Festnahme. Zwei Ermittlungsbeamte mit scharfem Blick und den Gewohnheiten von Herrschern über Leben und Schicksal, Sokolow und Jaroschik, versuchten mir stundenlang zu beweisen, dass es viel besser sei, ein Dreckskerl und Verräter zu werden, als viele Jahre im Gefängnis zu verbringen. Einen nach dem anderen spulten sie ihre psychologischen Standardtricks ab: Sie sagten mir, dass sie ohnehin bereits „alles wissen“ und es an mir läge, „die ganze Wahrheit“ zu sagen und so mein weiteres Schicksal zum Besseren zu wenden. Sie sagten, dass mich alle meine Freunde bereits verraten hätten, dass ich ausgenutzt werde, sie mir aber helfen wollen – ach ja, der Klassiker! Einer von ihnen gestand sogar, dass er tief in seinem Inneren meine anarchistischen Überzeugungen teile. Genau damit eröffnete später ein KGB-Offizier das Gespräch und offensichtlich ist es eine Standardformel, die sie anwenden, wenn sie politische Aktivisten bearbeiten. Die Gespräche beendeten sie aber in der Regel mit bildhaften Beschreibungen der Schrecken, die mich in Gefängnissen und Strafkolonien erwarten, wobei sie mir ein weiteres Mal anboten, Freunde zu verraten und so meine eigene Haut zu retten.

Aber was sind schon Vernehmungen von zehn bis fünfzehn Stunden im Vergleich zu den fünf Jahren, in denen die Operativen zu meinen ständigen Begleitern wurden?

Ob der operative Beamte seinen Dienst im Gefängnis tut, bei der Kriminalpolizei oder beim KGB ist im Grunde egal – sie gehören zur gleichen biologischen Spezies. Sie sind identisch und austauschbar. Doch hier erzähle ich euch von den Operativen in Gefängnissen und Straflagern, denn gerade durch den täglichen Kontakt mit ihnen kann man mit den Poren aufsaugen, es durchfühlen, durchleiden, verstehen und sich für sein ganzes restliches Leben daran erinnern, welche Rolle diese Kreaturen in unserer Welt spielen.

Zu Zeiten des GULAGs belauschten die von einem Operativen angeworbenen Häftlinge die Gespräche der Mitgefangenen oder versuchten, deren Vertrauen zu gewinnen, um sie zum freimütigen Gespräch zu bewegen, was zu neuen Strafverfahren wegen „konterrevolutionärer Verschwörung“, „antisowjetischer Agitation“, „Vorbereitung zur Flucht“ usw. führte. Im Ergebnis bekam das Opfer dieser Opjer-Knechte eine zusätzliche Haftstrafe oder wurde hingerichtet. Und obwohl es so etwas heute nicht mehr gibt, bleiben die Methoden und das Wesen der Arbeit von Operativen die gleichen. Im Gefängnis ist der Operative Zar und Gott in einem. Er entscheidet darüber, wo und mit wem der Gefangene leben wird, ob die Päckchen seiner Angehörigen durchkommen, ob Besuchstermine stattfinden, ob der Gefangene immer wieder in den Strafisolator fährt, ob also der Gefangene ganz generell eine gute oder eine schlechte Zeit hinter Gittern haben wird. Der Operative einer Koloniebaracke zieht über die von ihm rekrutierten Häftlinge die Fäden der öffentlichen Meinung in der Zone, und es kostet ihn gar nichts, es so einzurichten, dass eine unliebsame Person in der Kaste der „Unberührbaren“ landet oder schlicht systematisch fertiggemacht wird. In gewisser Weise ist der Operative sogar wichtiger als der Chef der Strafkolonie, denn der Chef ist weit weg, und der Operative, der ist immer da, gleich in der Nähe. In der unausgesprochenen Hierarchie der Verwaltungsabteilungen einer Vollzugsanstalt – der Abteilung für Vollzugsregime, der operativen Abteilung, der medizinischen, der Spezialabteilung, der Abteilung zur Begleitung des Besserungsprozesses – steht die operative Abteilung ganz oben. Der Operative kann alles. „Willst du in Glück und Freude leben, musst du dem Opjer ein Zeichen geben“; „Denk selbst daran und sag’s dem Anderen, der Weg zum Opjer ist der Pfad, um bald nach Haus’ zu wandern“, – so spottet die Arrestantenfolklore.

Der Operative ist ein Henkersknecht für jeden, der aus seiner Sicht leiden muss und Garant aller möglichen Vorteile und Privilegien für seine Suki. In der Strafkolonie Nr. 15, in Mahiljou, steckte mich der Operative für fünf Tage in die Strafzelle, weil ich mit einem Beamten des GUBOPiK11 „unangemessen“ geredet haben soll. Als formalen Grund gab er an, dass ich beim Betreten seines Büros die Jacke meiner Gefangenenuniform nicht bis oben hin zugeknöpft hätte, obwohl alle immer so bei ihm eintraten.

In der Strafkolonie Nr. 17 (Schklou) durften die Häftlinge eine Zeit lang unbegrenzte Mengen an Obst und Gemüse von den Besuchsterminen mit ihren Angehörigen mitnehmen. Dann hat es die Wachabteilung verboten, einfach als Teil der üblichen und kontinuierlichen Verschärfung des Vollzugsregimes in der Zone. Doch der Operative verbreitete über seine Handlanger ein Gerücht unter den Gefangenen: „Der Vater von Dziadok hat sich beschwert, also haben wir es verboten.“ Eine gemeinere Art, jemand in Konflikt mit dem Kollektiv zu bringen, kann man sich kaum vorstellen.

In Mahiljou, im Gefängnis Nr. 4, beschwerte ich mich einmal bei dem Operativen mit dem hübschen Nachnamen Lihuta, dass der Zensor, der unter seiner direkten Aufsicht arbeitete, mir sechs Postkarten aus der Schweiz nicht ausgehändigt hatte. „Wieso?“, frage ich, „Da stand doch nichts Besonders drin, ganz gewöhnliche Glückwunschkarten!“ „Gut, wir werden das klären“, antwortete er.

In Verlauf der nächsten Woche beschlagnahmte der Zensor drei ganz gewöhnliche Briefe von meinem Vater und meiner Frau. Es war ein Markenzeichen des Gefängnisses von Mahiljou: ein leerer Umschlag mit einem angehefteten Blatt und der Notiz: „Der Brief wurde zensiert“. Es war ein Hinweis ganz im Stil des Operativen: Sei zufrieden mit den Briefen, die du bekommst, sonst kriegst du gar keine mehr.

Der Operative ist hinterhältig und heimtückisch. Als mein Genosse Ihar Alinewitsch von Ermittlungsbeamten des KGB verhört wurde, wollten ihm diese Anarchismus-Experten die Widersprüchlichkeit der anarchistischen Theorie beweisen: „Du machst doch Karate. Und Karate ist hierarchisch!“ Damit versuchten sie, die Moral des erschöpften Gefangenen zu erschüttern und seinen Glauben zu untergraben, im Recht zu sein. In ähnlicher Weise gingen die Operativen in den ersten Tagen nach meiner Verhaftung vor, als sie merkten, dass der „Frontalangriff“ nicht gefruchtet hatte: „Wir werden einfach auf Indymedia schreiben, dass du alle verraten hast!“ Der bereits erwähnte Opjer Lihuta führte ein Gespräch mit mir, als ich, wie ich dachte, noch 3,5 Monate bis zu meiner Freilassung hatte: „Und, welche Pläne hast du für die Zeit danach? Ach, wegfahren willst du, ja? Und wo willst du dann arbeiten? Ach, da ist ja alles so teuer.“ Mit einem freundlichen Lächeln wünschte er mir viel Glück. Wenig später erfuhr ich, dass es zum Zeitpunkt unseres Gesprächs bereits vier Tage her war, dass er Unterlagen ans Ermittlungskomitee8 geschickt hatte, mit dem Ziel, ein neues Strafverfahren nach Art. 411 gegen mich einzuleiten. Er wusste also bestens darüber Bescheid, dass meine Haft um ein weiteres Jahr verlängert würde und wollte mich in voller Absicht mit den Träumereien über meine baldige Freilassung foppen, damit mich dann die Nachricht der Haftverlängerung um so härter und schmerzhafter trifft – ein Beispiel dafür, wie eine Person sich durch eine einzige Handlung erschöpfend charakterisieren lässt.

Der Operative ist ein Lügner. Die Lüge ist sein Haupt- und Lieblingswerkzeug, um andere zu unterjochen und an „operative Informationen“ ranzukommen. „Sobald du uns dieses und jenes sagst, lassen wir dich gleich gehen. Du hast das Wort eines Offiziers!“, sagen die Operativen oft beim Verhör von Verdächtigen. Wie viele naive und leichtgläubige Menschen sind darauf reingefallen und haben sich selbst und manchmal, ohne es zu wollen, andere belastet! Und dann bekommt der Mensch seine fünf, zehn oder beliebig viele Jahre Haft, aber nicht, weil die Ermittlung überzeugende Beweise seiner Schuld zu Tage gefördert hätte, sondern weil er so gutgläubig war. Der Operative wird dir sein Wort geben, er wird dir schwören und alles versprechen, was du willst, er wird dich einen Freund nennen, er wird dir sagen, dass er deine Anschauungen teilt, wird mitfühlend sein, auf die Obrigkeit schimpfen, das alles nur, damit er von dir die Aussagen bekommt, die er braucht, ganz unabhängig davon, ob sie wahr sind oder nicht. Sobald er hat, was er will, lässt er dich zurück in die Zelle bringen. Jetzt bist du verbrauchtes Material und dein seelischer Schmerz aus dem missbrauchten Vertrauen interessiert niemanden, Hauptsache die Ermittler haben einen Fall zusammengeschustert. Wieviele Strafverfahren wurden dank solcher Täuschungen – aus dem Nichts! – fabriziert, wieviele „ungelöste Verbrechen“ landeten so vor Gericht! Und ganz offensichtlich fallen nicht die hartgesottenen Kriminellen darauf rein, sondern leichtgläubige und mehr oder weniger anständige Menschen, die bisher keinerlei Probleme mit dem Gesetz hatten und keine Ahnung, wie unglaublich zynisch „Gesetzeshüter“ lügen können.

Einem Operativen in der Strafkolonie Nr. 15 (Mahiljou), der ständig beteuerte, er habe „nichts damit zu tun“, dass man mich in der Zone unter Druck setzte, entgegnete ich direkt: „Das ist nicht wahr. Sie lügen mich ständig an.“ Worauf er lächelte und antwortete: „Lügen ist mein Beruf.“

So unmenschlich der Operative ist, kann er nicht anderes, als auch noch ein Rassist zu sein.

Der abscheuliche Vertreter des GUBOPiK9 Litwinksij, der mit mir ein Gespräch in der Strafkolonie Nr. 15 (Mahiljou) führte, kritisierte zuerst die Skinheads und meinte sein „Großvater hat im Krieg gekämpft“, und fügte dann hinzu: „Ich mag auch keine Neger. Aber ich verprügele sie doch nicht!“. Der Operative Schamjenow aus der Strafkolonie Nr. 17 (Schklou) erzählte mir ausführlich von seinen Ansichten zum Terroranschlag von Anders Breivik: „Dieser Multikulturalismus, der ist schuld daran!“ und fügte stolz hinzu: „Und in Belarus, da kann ich auf die Straße gehen und sicher sein, dass kein Kanake mich anrührt!“ Gerüchten zufolge wurde dieser Beamte später zum KGB versetzt.

Der Operative ist ein Henker der menschlichen Seelen. In der Strafkolonie Nr. 15 klagte mir ein junger Kerl, dass der Operative ihn zur Zusammenarbeit zwingt und von ihm verlangt zu berichten, worüber die Häftlinge untereinander reden, wo jemand was Verbotenes versteckt und ähnliches. Andernfalls, so versprach der Opjer, würde er ihm das Leben zur Hölle machen. Und nicht umsonst versuchte er gerade diesen jungen Typen unter Druck zu setzen. Der brauchte dringend eine vorzeitige Entlassung, denn draußen in der Freiheit hatte er einen kleinen Sohn und seine Frau, tja, die saß in der Waladarka10 ein. Mit aller Kraft versuchte der junge Mann, jegliche Art von Regelverstoß zu vermeiden, arbeitete eifrig im Produktionsbereich der Kolonie und machte sich den ganzen Tag Sorgen um seine Familie. Zweifelsohne wusste der Operative all das und genau deshalb hatte er ihn ausgewählt. Ich konnte die moralischen Qualen dieses Häftlings aus nächster Nähe beobachten, sein Hin- und Herschwanken zwischen seiner Familie und seinem Gewissen, dem Wohlergehen seiner Verwandten und den möglichen Konsequenzen, eine Suka11 zu werden. Er versuchte, aus dieser Zwickmühle rauszukommen und erzählte dem Beamten einige unbedeutende und allgemein bekannte Dinge. Dieser Versuch missglückte jedoch. Ich wurde bald aus dieser Strafkolonie verlegt und habe nie herausgefunden, wie dieses kleine Drama ausgegangen ist. Ich hoffe nur, dass der Bursche letztlich verstanden hat, dass man kein halber Verräter sein kann.

Man sollte nicht diejenigen fürchten, die den Körper töten, aber der Seele nichts antun können, sondern diejenigen, die deine Seele töten – das versteht man mit der Zeit. Im System des Innenministeriums gibt es solche, die den Körper und solche, die die Seele töten. Sie alle, die Henker vom Erschießungskommando und die „Ermittlungsbeamten“, bekommen jeder ihren eigenen Lohn für ihre eigene Art von Mord.

Ja, der Operative lässt den Körper am Leben, einen Organismus, der Kraft seiner Instinkte und Grundbedürfnisse weiter existiert, doch um eine Persönlichkeit im vollen Sinne des Wortes handelt es sich dabei nicht mehr. Die Krux bei der Sache ist die: Wenn es im Charakter eines Menschen, der hinter Gitter geraten ist, auch nur die kleinste Fäulnis gibt, ein Körnchen von Gemeinheit und Unehrlichkeit, dann wird es unter den wachsamen Augen eines Operativen und mit seiner steten Fürsorge wachsen und all das Gute, das sonst im Menschen ist, aus ihm saugen. Dazu trägt auch die Atmosphäre bei, die in Gefängnissen und Lagern herrscht, jenes moralische Klima mit dem Imperativ: „Tritt nach unten und spuk auf deinen Nächsten.“ Und ohne Zweifel wird der Operative das Wachstum dieser Samen beschleunigen, wobei er für einen jeden einen ganz individuellen Dünger zubereiten wird, ganz auf den Charakter der Person abgestimmt: Für den einen wird es ein zusätzlicher Besuchstermin der eigenen Frau sein, für einen anderen ist es die Angst um die eigene Sicherheit, für den dritten die Sorge um die eigene Autorität, für jemanden die Aussicht auf Bewährung und für jemand anderen werden ein Päckchen Tee und eine Schachtel Zigaretten völlig ausreichen. Doch das Ergebnis ist immer das gleiche: Diese Person wird das Gefängnis innerlich verfault, frei von Prinzipien und ohne irgendeinen Glauben verlassen. In der Weltwahrnehmung dieser Person ist die Grenze zwischen Gut und Böse ausgelöscht. All das ist der Arbeit der „operativen Abteilung der Strafvollzugsanstalt“ zu verdanken.

Manchmal frage ich mich, wie sind die Operativen denn in ihrem ganz normalen Alltagsleben? Die werden doch nicht alle ihre Ehefrauen und Kinder schlagen, ihre Freunde belügen … Vermutlich sind auch sie fähig, ihre Angehörigen zu lieben, sich um sie zu sorgen, gut zu ihren Ehefrauen und Müttern zu sein, von Herzen zu lachen, Freundschaften zu pflegen, ganz normale menschliche Empfindungen zu haben. Bei Festen und Feiern haben sie vermutlich ganz einfach Spaß. Sie umarmen ihre Freunde und Kollegen, singen mit einem Gläschen in der Hand ihre Lieblingslieder: „Und wenn der nächste Tag viel härter wird, als der schon gestern war, dann sagen die Operativen: Ja! Wir schaffen das, na klar!“

Natürlich werdet ihr es schaffen. Munter und im Gleichschritt. In die Hölle.

März 2015

DAS REGIME

Es gibt Phänomene, die grausam sind. Es gibt Phänomene, die sinnlos sind. Aber alles wirkt noch grausamer, wenn es sinnlos ist. Genau dazu zählt das Gefängnisregime – ein Moloch, dem das psychische und physische Wohlbefinden der Gefangenen, ihr Seelenfrieden und ihre Selbstachtung geopfert werden.

Eine Person, die zum ersten Mal im Gefängnis landet, befindet sich zunächst in einem Zustand von Verwirrung und enormer Verwunderung. Mit dem Verstand einer normalen und freien Persönlichkeit kann der neue Gefangene das, was die Kerkermeister von ihm mit Verweis auf rätselhafte „Vorschriften“ verlangen, nicht nachvollziehen.

Alles beginnt mit dem Filzen. Noch im Polizeigewahrsam wundert sich der Gefangene, wenn ihm beim Filzen vor der Unterbringung in der Zelle, der Gürtel und die Schnürsenkel abgenommen werden. Er fragt: „Warum kann ich die nicht behalten?“. „Nicht gestattet“, knurrt der Bulle zur Antwort. Erst später klären ihn erfahrene Zellengenossen darüber auf, dass er sich die Hosen deshalb andauernd wird hochziehen müssen und in den Turnschuhen so rumlaufen wird, als ob sie lustige lose Schlappen wären, weil er sich mit dem Gürtel und den Schnürsenkeln erhängen könnte.

Doch das Interessanteste erwartet ihn im Untersuchungsgefängnis, wenn seine Angehörigen versuchen, Pakete für ihn abzugeben. Zigaretten? Müssen der Packung entnommen und in einen transparenten Beutel gelegt werden. Tee? Auch nur in einem transparenten Beutel. Süßigkeiten? Jede einzelne muss frei von jeglicher Verpackung sein. Und stellt euch dann vor, wieviel Aufwand es bedeutet, damit ein dreißig Kilo schweres Paket eingereicht und übergeben werden kann. Sprudelwasser? Verboten! Quark, Milch, Käse, Butter – verboten! Honig? Verboten! Warum? „Nicht gestattet!“ Irgendetwas in einer Glasflasche? Gott bewahre! „Die werden sich doch gegenseitig abstechen!“ Konserven – verboten, „die werden Stichwaffen basteln“.

Und falls die Angehörigen anfangen sollten, sich bei den verschiedensten Chefbeamten zu beschweren, dann wird man ihnen eine lange Liste verschiedener Erlasse und Anordnungen vorzeigen, die Vollzugsordnung und die Hygienevorschriften der Gesundheitsämter vorlegen, aus denen sie erfahren, dass Milchprodukte aus Sorge vor einer Epidemie verboten sind, Zigaretten umverpackt werden müssen, „falls Sie da etwas versteckt haben“, und aus demselben Grund muss jedes Bonbonpapier entfernt werden, aus demselben Grund wird jeder Apfel und jede Orange, jedes Obst und Gemüse, das ihr dem Gefangenen zukommen lasst, mit einer Ahle durchstochen und es spielt keine Rolle, ob es dann nur noch ein paar Tage übersteht – jede Vakuumverpackung wird durchstochen, jedes Stück Schokolade wird zerbröckelt bis fast nur noch Krümmel übrig bleiben.

Aber was ist schon die Untersuchungshaft! In der Strafkolonie, wo der Arrestant nach der Urteilsverkündung ankommt, erwarten ihn neue Offenbarungen und neue Gründe, verwirrt und verwundert zu sein. Bei Ankunft – das obligatorische Filzen. Alles „Überflüssige“ wird abgenommen und so lange eingelagert, bis die Person aus der Haft entlassen wird. Für jeden Gefangenen ist das ein sehr dramatischer Moment: All das, was in einem Jahr oder mehr mühevoll zusammengetragen wurde, all das, was die Zellengenossen in der Untersuchungshaft ihm mit auf den Weg gegeben haben, all das fliegt in den Lagerraum oder landet auf dem Müll. Wenn es nur Lebensmittel wären, dann wäre es noch halb so schlimm. Viel schlimmer ist es, wenn es dabei um Kleidung oder Schuhe geht, die von Angehörigen gekauft wurden. In der U-Haft, in Haftanstalten für temporäre Ordnungshaft und in einigen Strafkolonien sind nur Schuhe ohne Metalleinlagen erlaubt, weil die wiederum zu Stichwaffen umgeschliffen werden könnten. Um herauszufinden, ob es diese Metalleinlagen gibt, verbiegen die Knastwärter die Schuhe oder Turnschuhe gnadenlos, reißen die Sohle ab, durchleuchten sie mit einem Metalldetektor. Wenn es deine einzigen Schuhe sind, bekommst du Ersatz, die sogenannten Karantinki, und wenn deine Angehörigen Schuhe für dich kaufen und versuchen, sie dir zukommen zu lassen, werden die schlicht zurückgegeben, das Geld ist jedenfalls verschwendet.

Die Vollzugsordnung für Haftanstalten ist sehr raffiniert aufgebaut. Anstatt die Dinge aufzulisten, deren Besitz einem Gefangenen verboten ist, werden jene Dinge aufgelistet, die er besitzen darf. Entsprechend ist alles andere verboten. Und bei Besitz von Dingen, die nicht gelistet sind, kann man im Strafisolator landen.

Zu sagen, die aufgelisteten, erlaubten Gegenstände wären für ein normales, würdiges Leben nicht ausreichend, insbesondere für Gefangene mit langen Haftstrafen, ist eine gnadenlose Untertreibung. Eine Kleinigkeit als Beispiel: Jeder Gefangene, der sich auf dem Lagergelände bewegt, ist verpflichtet eine Gefangenenuniform zu tragen. Doch die Uniform muss von Zeit zu Zeit gewaschen werden. Und wenn du sie gewaschen hast, muss sie trocknen. Und was kannst du dann anziehen, wenn du in die Kantine, zur Arbeit oder einfach nur zu einem Spaziergang im kleinen Hof der Baracke gehst? Dann bleibt nur noch ein Trainingsanzug. Doch hier wird es paradox: Wenn du einen Trainingsanzug anziehst, ist das ein „Verstoß gegen die Uniformordnung“. Dafür kannst du ein Verstoßprotokoll kassieren und in den Strafisolator wandern. Und es interessiert niemanden, dass deine Uniform gerade gewaschen ist und nass auf der Leine hängt. Aber sie nicht zu waschen, das geht auch nicht. Wirst du in einer dreckigen Uniform gesehen, kann es auch ein Verstoßprotokoll geben, denn die Vollzugsordnung besagt, dass „ein Gefangener ein sauberes und akkurates Erscheinungsbild haben“ muss. Und so tun die Häftlinge alles, was sie können, um sich sauber zu halten und nicht im Strafisolator zu landen: Die einen verstecken sich auf dem Weg in die Kantine in der Kolonne der Gefangenen, damit die Aufseher sie nicht erwischen, andere bitten ihre Mithäftlinge und leihen bei ihnen die Uniform aus. Übrigens: Der Besitz von zwei Uniformen ist ebenfalls verboten und sollte das zweite Exemplar beim Filzen gefunden werden, wird es konfisziert und ein Verstoßprotokoll verschafft neue Perspektiven, in der Strafzelle zu landen. Dieses Problem, was man denn anziehen soll, wenn man seine Uniform gewaschen hat, ist schon Jahre alt, aber niemand, von den Chefs der Kolonieabteilungen bis zur Leitung der Abteilung für Strafvollzug, schert sich um die Unannehmlichkeiten des Lebens irgendwelcher Häftlinge. Es ist einfacher, jedes Jahr zehn, zwanzig oder dreißig Gefangene in den Strafisolator zu stecken, als einen oder zwei Sätze in der Vollzugsordnung zu ändern.

Das Epos rund um die Bekleidung von Gefangenen endet damit aber nicht. Ein paar Jahre vor meiner Entlassung hat die Leitung buchstäblich in allen Lagern ganze „Kampagnen“ gestartet, gegen Jacken mit Reißverschlüssen, gegen Pullover, gegen Trainingsjacken, die unter der Gefangenenuniform getragen werden. Der Kampf gegen die Reißverschlüsse wurde geführt, um die Kleidung der Häftlinge zu vereinheitlichen. Eine Weile trugen viele im Lager schwarze Jacken mit Reißverschluss, die sie von ihren Angehörigen bekamen, bis ein Beamter von der Abteilung für Strafvollzug zu einer Inspektion kam und fragte: „Warum sind denn bei euch die Gefangenen nicht korrekt uniformiert?“ Denn „korrekt uniformiert“ bedeutet, eine klobige Steppjacke zu tragen, die kein bisschen wärmt, der die Knöpfe abfallen und die aus verrotteter Watte besteht. Und dann ging der Wahnsinn los, erst in der einen Kolonie, dann in allen anderen: Die normalen Zivilistenjacken wurden eingezogen, stattdessen Wattejacken ausgegeben, und wer dagegen zu protestieren versuchte, wurde in den Strafisolator gesteckt.

Der Kampf mit den Hauptfeinden des „Besserungsprozesses“, mit Pullovern und Trainingsjacken, sah folgendermaßen aus: Es ist Herbst oder Frühling, draußen ist es kalt. Eine Gruppe von Gefangenen tritt zur Arbeit im Produktionsbereich des Lagers an und wartet am Kontrollpunkt auf das Filzen. Jeder wird einzeln durchsucht und gezwungen, die Gefangenenuniform aufzuknöpfen. Findet sich darunter eine Trainingsjacke oder ein Pullover – ab in die Baracke, ausziehen. Beschwerst du dich, dann ab in die Strafzelle. Und es spielt keine Rolle, ob draußen gerade nur zehn Grad herrschen und du unter deiner Baumwolljacke nur ein leichtes T-Shirt trägst. Und es spielt keine Rolle, dass nach einer solchen Inspektion die Häftlinge den ganzen Tag im Produktionsbereich des Lagers vor Kälte zittern werden und die Hälfte des Trupps mit Erkältung oder Grippe zur Krankenstation rennen wird. Dafür wird jede Delegation der Kontrollaufsicht, die das Lager besucht, befriedigt sein: „Die Uniformordnung wird eingehalten!“.

Solche Kampagnen werden in jedem Lager häufig, chaotisch und unvorhersehbar initiiert. Wenn es im Kopf von Daroschka, dem (damaligen) Leiter der Abteilung für Strafvollzug, klick macht, geht ein Rundschreiben in die Lager raus, und die Lagerchefs werden sich bereit zeigen, ihren Diensteifer zu demonstrieren. Heute sind die Reißverschlüsse an den Jacken ein Problem, morgen ist es eine nicht genehmigte Art von Schuhen, übermorgen sind Metalllöffel das Problem, und sofort muss jeder unbedingt einen aus Aluminium haben! Darauf folgt dann eine Kampagne gegen die „Brotmitnahme aus der Kantine“, und Disziplinarstrafen werden verhängt, weil jemand seine persönliche Ration, sein eigenes Stück Brot aus der Kantine mit in die Baracke genommen hat. Und so geht es immer weiter … Die Häftlinge erkennen solche Kampagnen an den langen Schlangen am Kontrollpunkt, wo genervtes Flüstern durch die Reihen geht: „Schon wieder? … Verdammt noch mal, was denn diesmal …? Prüfen die jetzt die Etiketten der Unterhosen oder was? Diese Wichser …“.

In der Strafkolonie Nr. 17 in Schklou war und ist vielleicht bis heute, wenn er nicht befördert wurde, ein sehr diensteifriger Typ stellvertretender Lagerchef: Pawel Mikalaewitsch Ehuleuski, Spitzname „Mercedes“. Bei einer solchen Kampagne, gegen Hosen mit falschem Schnitt, stand er mit einem Cuttermesser am Kontrollpunkt und schlitzte den Gefangenen direkt vor Ort die Hosenbeine auf. Einem der Häftlinge schnitt er das Bein blutig. Der Betroffene war jedoch keiner von der weichgeklopften Sorte, er setzte sich für seine Rechte ein und seine Angehörigen reichten Beschwerden bei verschiedenen Instanzen ein. Am Ende führte das alles jedoch zu nichts, Mercedes kam ungeschoren davon.

Die Tendenz zu einer Verschärfung des Regimes dringt in jede Ritze des Alltagslebens eines Gefangenen. Jeder Häftling hat neben seiner Pritsche einen Nachtschrank. Und denkt ihr, man kann da alle offiziell genehmigten Sachen aufbewahren? Falsch gedacht. Vor ein paar Jahren wurde in jedem Schlafraum eine Liste mit Dingen ausgehängt, die ein Gefangener in seinem Nachtschrank aufbewahren darf. Die Liste war sehr kurz: ein Stift, ein Notizbuch, zwei Bücher, ein Umschlag (einer oder zwei, genau kann ich mich nicht mehr erinnern), eine Schachtel Zigaretten und eine Packung Tee. Das war’s! Lebensmittel sind in dieser Liste nicht enthalten. Ihr fragt euch vielleicht: Aber wohin mit all den anderen Dingen? Dafür gibt es laut den weisen Erlassen der Bullen aus der Abteilung für Strafvollzug in jeder Gefangenenabteilung einen „Lagerraum für persönliche Gegenstände“, oder, in der Häftlingssprache: Kesharka, Bobownja, Kaptjorka. Die Aufsicht über diesen Raum hat der Kaptjor, ein Häftling, der auch die Schlüssel dafür hat. Die Macht und die Privilegien eines Kaptjors sind offensichtlich. Mit ihm befreundet zu sein, bedeutet Vitamin B in bester Qualität zur Verfügung zu haben. Aber wo liegt denn das Problem, wenn die Sachen dort eingelagert sind? „Was könnte einfacher sein“, werdet ihr sagen, „kannst jederzeit rein, nimmst, was du brauchst, und so wird auch niemand die Schlafräume vermüllen“. Stimmt alles, doch dieser Raum … öffnet sich zwei Mal am Tag, für zwanzig bis dreißig Minuten. Und dabei bist du natürlich nicht der Einzige von hundert Gefangenen deiner Baracke, der da rein will, um sich etwas zu holen: ein neues Paar Socken, ein Stückchen Speck, ein Buch oder eine Schachtel Zigaretten. Dazu informiert ein Aushang an der Tür: „Der Lagerraum für persönliche Gegenstände ist nur einzeln zu betreten“. Endlich erwischt man den Moment, wenn der Kaptjor die Tür öffnet, steht lange genug in der Schlange und ist endlich in den ersehnten Raum vorgedrungen, um aus der Tasche einen Schokoriegel für einen Teeabend mit einem Lagerkumpel zu holen oder ein Buch, um Zeit in Abgeschiedenheit zu verbringen. Schnappst dir die Sachen, machst die Tasche zu und bist wieder raus? Na klar. In jeder Tasche liegt eine Inventurliste eurer persönlichen Gegenstände, die ihr selbst an dem Tag erstellt habt, als ihr in eurer Baracke angekommen seid. In dieser Liste ist alles aufgeführt, von der Kugelschreibermine bis zur Unterwäsche, vom Karamellbonbon oder einer Zeitschrift bis zu irgendeinem schlichten Stück Hausrat, der sich im Lager angesammelt hat. Hast du etwas genommen, dann streiche es aus der Liste, wenn du etwas reinlegst, dann vermerke es. Hauptsache, man vergisst es nicht, denn alle paar Monate findet eine „Regime-Maßnahme“ statt, genauer: „Inspektion der äußeren Erscheinung mit Vorlage von Sachgegenständen“. Die gesamte Baracke stellt sich auf, ein jeder mit seinen Taschen, und der Chef der Abteilung prüft, ob bei irgendjemand die Inventurliste nicht mit dem Inhalt der Taschen übereinstimmt. Und falls etwas nicht stimmt, wird ein Verstoßprotokoll verfasst. Ein Beispiel, das seinerzeit Lehrbuchqualität erreichte: Mikalai Statkewitsch landete im Strafisolator, weil die Anzahl der Taschentücher in der Inventurliste nicht mit der Anzahl in seiner Tasche übereinstimmte.