Kitabı oku: «Das Kainszeichen», sayfa 4
Mike kam auf Nora zu. Sein Hinken war etwas stärker geworden, wie sie bemerkte.
«Tabani!», dröhnte er und schlug ihr breit lächelnd auf die Schulter, was noch tagelang zu sehen sein würde. «Ich habe zwar nur die Hälfte von dem verstanden, was du ins Handy genuschelt hast, aber ich hätte mir denken können, dass du kurz nach einem Mord bei mir aufkreuzt.» Er setzte sich zu ihr, stellte seinen Kaffee neben den ihren und schaute sie an. «Wärst du doch nur bei uns geblieben, du hättest die Informationen aus erster Hand.»
«Ach, ich komme auch so zu den nötigen Auskünften.»
Er versuchte, grimmig auszusehen. «Du weisst, dass ich dir nichts mitteilen kann.»
«Ich weiss.» Er würde es trotzdem tun. Sie kriegte ihn jedesmal dazu, ihr mehr zu sagen, als er durfte, warum auch immer. Vatergefühle. Wehmut aufgrund der früheren Zusammenarbeit, angeborene Hilfsbereitschaft oder aus anderen Gründen.
Er trank einen Schluck. Der Schlagrahm blieb an seinem Bart kleben. Er wischte sich den Schaum weg und sagte: «Furchtbares Gesöff. Wer will schon seinen Espresso mit Caramel, Strawberry oder anderem Schnickschnack drin?»
«Millionen von Menschen weltweit.»
Er lachte. «Unbegreiflich! Also, was kann ich für dich tun?»
Nora erzählte ihm von Carlas SMS, das sie heute morgen erhalten hatte. «Sie schreibt etwas von Mord, was ich mir bei einer Frau wie ihr nicht vorstellen kann. Es muss sich um eine Verwechslung handeln.»
Er zwirbelte nachdenklich seinen Schnurrbart. «Regina Flint von der Staatsanwaltschaft 4 hat den Fall übernommen.»
Nora war erstaunt. «Flint? Ich dachte, sie sei im Mutterschaftsurlaub.»
«Nicht mehr. Allerdings darf ich dir über den Manser-Fall keine Einzelheiten bekanntgeben, das verstehst du. Die Sache ist noch nicht mal dem Haftrichter vorgelegt worden.»
«Wer wurde getötet?»
«Tabani, du tust es schon wieder!»
«Komm schon, Onkel Mike», grinste sie und knuffte ihn in die Seite. «Morgen erfahr ich’s sowieso aus den Zeitungen.»
«Da hast du recht», gab er widerwillig zu. «Also. Der Tote ist Carla Mansers Ex-Mann. Am Tatort waren einer ihrer Patienten und sie selbst, beide höchst verdächtig. Mehr darf ich dir nicht sagen.»
«Was war die Tatwaffe?»
«Treib es nicht auf die Spitze!»
«Morgen… die Zeitungen … erinnere dich daran. Die Druckmaschinen sind schon am Laufen, in ein paar Stunden…»
«Ist ja gut, ist ja gut. Du gibst wohl nie auf. Es war ein Messer.»
«Habt ihr DNA-Spuren darauf gefunden?»
«Blut von allen dreien.»
«Das Ganze ist doch absurd, Salzmann. Lass mich mit Carla reden.»
«Unmöglich. Regina Flint müsste dir eine Besuchsbewilligung für die U-Haft erteilen. Was sie in der jetzigen Situation bestimmt nicht tut. Und wenn sie es täte, dürftest du mit der Verhafteten nicht über das Delikt sprechen.»
Nora berichtete, unter welchen Umständen sie die Psychiaterin kennengelernt hatte. «Carla hat mich um Hilfe gebeten. Früher war sie es, die für mich da war. Jetzt kann ich ihr etwas zurückgeben. Ermögliche mir einen Moment mit ihr.»
Mike schüttelte bedauernd den Kopf. «Es geht wirklich nicht.»
«Ein klitzekleines Gespräch? Unter Aufsicht? Und wir sprechen nur über das Wetter?»
«Tabani! Du bist eine unglaubliche Nervensäge!», stiess er theatralisch aus.
Sie grinste. «Das muss ich sein. Sonst erfahr ich nie was.»
Mike trank angewidert die Tasse leer. Dann schaute er auf die Uhr. «Ich sollte los. Tut mir leid, dass ich dir nicht helfen kann.»
«Du könntest schon», sagte sie, und als er gleich wieder losdonnern wollte, fügte sie hinzu: «Nein, ich meine etwas anderes. Sprich mit der Staatsanwältin. Frag sie, ob ich eine einmalige Besuchsbewilligung erhalte.»
«Regina Flint wird dir keine erteilen. Das weisst du.»
«Versuch’s.»
Er stand auf und quetschte sich am kleinen Tisch vorbei. «Ich schaue, was ich machen kann.»
Sie verabschiedeten sich. Mike ging die Treppe hinunter. Nach ein paar Stufen blieb er stehen und drehte sich um. Sein Blick hatte sich verändert. «Übrigens, Nora …»
Sie war erstaunt. Er nannte sie selten beim Vornamen. «Ja?»
Er senkte die Lautstärke, so gut er konnte, doch es hallte immer noch durch das ganze Café. «Ich habe nicht vergessen, was für ein Tag heute ist.»
Nora war gerührt. «Danke, Salzmann.»
«Glaub mir, ich denke oft an deinen Vater. Es ist mir ein Trost, dass du nach ihm kommst.»
«Du meinst, er war genauso eine unglaubliche Nervensäge?» Sie spürte, wie ihre Stimme brüchig wurde.
Mike lächelte milde. «Er war mein bester Freund. Und das wird er immer bleiben.»
Der Mann, der in Carlas Zelle trat, roch penetrant nach Zigarettenrauch. Er hatte etwas Windschiefes an sich. Sein Kinn war spitz, der Haaransatz so weit oben, dass seine Stirn unnatürlich hoch wirkte. Er hielt den Kopf schräg und streckte ihr seine knochige Hand hin. «Sigmar Spiess. Ich bin Ihr Pflichtverteidiger.»
Carla deutete auf die Matratze. «Bitte nehmen Sie Platz.»
Beide setzten sich. Spiess kramte umständlich einige Dokumente aus seiner abgewetzten Ledertasche und legte sie auf seine Knie. Seine Fingerspitzen waren gelb vor Nikotin. «Als Erstes», sagte er heiser, «sollten Sie dieses Haftentlassungsgesuch unterschreiben.»
«Jetzt schon?»
Er räusperte sich und reichte ihr ein Formular hinüber. «Je früher, desto besser.»
Sie las das Gesuch durch, setzte ihren Namen darunter und gab es ihm zurück. Dann sagte sie: «Hören Sie, Herr Spiess, bevor wir anfangen, möchte ich, dass Sie wissen, dass ich unschuldig bin.»
Er sah aus, als würde ihn dieser Satz verärgern. «Das tut nichts zur Sache.»
«Nichts? Aber … darum geht es doch!»
Er schüttelte den Kopf. «Nein, Frau Manser, darum geht es nicht. Fast alle meine Klienten versichern mir, sie hätten nicht gegen das Gesetz verstossen. Für mich spielt es keine Rolle, was Sie getan haben. Meine Aufgabe ist es, Sie –»
«Aber für mich spielt es eine Rolle! Ich möchte, dass klar wird, dass ich mit diesem … mit diesem Mord nichts zu tun habe!» Das Bild von Marks totem Körper tauchte vor ihr auf. Seine gebrochenen Augen. Der offene Mund. Die klaffende Wunde an seinem Hals.
Spiess fuhr unbeirrt weiter. «Meine Aufgabe ist es, Sie hier so rasch wie möglich herauszuholen. Oder zu erreichen, dass Ihre Strafe – sofern Sie eine erhalten, wovon ich momentan ausgehe – nicht allzu hoch ausfällt.»
«Wie meinen Sie das, Sie gehen davon aus?»
Der Anwalt hustete. Etwas schien mit seiner Stimme nicht in Ordnung zu sein. Erst da bemerkte Carla, dass nicht nur seine Finger nikotinverfärbt waren, seine ganze Haut hatte etwas Gelbliches. Er sah krank aus. Carla erinnerte sich an einen Fall während ihrer Ausbildung. Ein Mann Ende sechzig, der an Kehlkopfkrebs gelitten und ähnliche Symptome gehabt hatte.
Spiess’ Husten hielt an. Er versuchte, den Reiz zu unterdrücken, doch es gelang ihm erst, nachdem er einen Schluck Wasser aus einer mitgebrachten Flasche getrunken hatte. «Entschuldigen Sie bitte. Eine Pollenallergie.» Er stellte die Flasche zurück in die Aktentasche.
Carla sah ihn aufmerksam an. Das war keine Allergie. Das war etwas, an dem er sterben würde.
Der Anwalt nahm den Faden wieder auf. «Ich sage es Ihnen ohne Umschweife. Die wenigen Informationen, die ich bis jetzt über Ihren Fall erhalten habe, genügen mir, dass ich sagen kann: Ihre Situation ist ernst.»
Carla liess das einen Moment auf sich wirken. «Egal, was Sie von mir denken, ich habe kein Verbrechen begangen. Können Sie sich auf die Suche nach Beweisen für meine Unschuld machen?»
Spiess verneinte. «Das ist heikel. Ermittlungen sind Sache der Polizei. Ich verteidige Sie.»
«Wie geht es jetzt weiter?»
«Die Staatsanwältin, die mit Ihrem Fall beauftragt ist, bespricht sich heute oder morgen mit dem Haftrichter. Dieser kann aus drei Gründen Untersuchungshaft beantragen: Fluchtgefahr, Wiederholungsgefahr oder Kollusionsgefahr.»
«Was ist das?»
«Kollusionsgefahr heisst, dass Sie sich mit Helfern, Mitwissern oder Mittätern absprechen könnten.»
Carla schnaubte spöttischer, als beabsichtigt. «Mit wem sollte das denn sein?»
«Das wissen nur Sie.»
«Ich sagte Ihnen doch, ich sei … Ach, was soll’s. Und dann?»
«Dann warten wir auf den Bescheid des Haftrichters.»
«Wenn der negativ ausfällt, bleibe ich hier?»
«Nein, dies ist nur ein provisorischer Aufenthaltsort. Wenn Sie in Untersuchungshaft kommen, werden Sie ins Bezirksgefängnis verlegt.»
«Für lange?» Vielleicht hatte sie Lutz, der Polizist, der sie hergefahren hatte, mit der Ankündigung einer ausgedehnten U-Haft nur einschüchtern wollen.
«Lang ist ein relativer Begriff. Aber lassen Sie uns den Teufel nicht an die Wand malen.» Doch Spiess sah aus, als würde er genau dies tun.
«Mehrere Wochen?»
«Das kann sein.»
Sie zögerte, dann sprach sie es aus. «Monate?»
«Auch das ist möglich. Es ist der Anfang. Sind die Ermittlungen abgeschlossen, wird Anklage erhoben. Bis zur Gerichtsverhandlung können einige Monate verstreichen. Entweder werden Sie freigesprochen oder verurteilt. Falls Mord oder vorsätzliche Tötung geltend gemacht wird, dürften es etliche Jahre Gefängnis sein.»
«Oh, Gott.» Carla schlug die Hände vors Gesicht. Sie verharrte einige Sekunden so, nahm den Rauchgeruch von Spiess wahr, hörte seinen rasselnden Atem. Dann riss sie sich zusammen. Es musste sich aufklären lassen! Das war doch ein Witz! Niemand konnte ernsthaft davon ausgehen, dass sie, eine renommierte Psychiaterin mit florierender Praxis, gemeinsam mit einem schwer gestörten Patienten ihren Ex-Mann umgebracht und dann die Polizei alarmiert hatte.
Sie setzte sich aufrecht hin. «Falls der Haftrichter also eine Untersuchungshaft anordnet, Sie nicht ermitteln dürfen und die Polizei zu lange braucht, um meine Unschuld nachzuweisen – kann ich jemand anders mit der Beweissuche beauftragen? Beispielsweise eine Privatdetektivin?»
Spiess hustete. Trank einen Schluck Wasser und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. «Rechtlich gesehen gilt eine Detektivin als Privatperson. Deshalb darf sie Sie in der Untersuchungshaft nicht besuchen. Kollusionsgefahr. Sie könnte mit Ihnen – salopp ausgedrückt – unter einer Decke stecken.» Er hielt einen Moment inne und schien nachzudenken. «Ausser …»
«Ja?»
«Ausser ich gebe ihr eine juristische Vollmacht.»
«Das wäre möglich?» Carla sah einen Hoffnungsschimmer.
Spiess zog Stift und Block hervor. «Theoretisch. Sie würde sozusagen stellvertretend für mich an Ihrer Verteidigung mitwirken. Die Kosten dafür müssten Sie allerdings selber tragen. Name und Adresse?»
«Wie bitte?»
«Die Detektivin. Wie kann ich sie erreichen?»
«Oh, natürlich», sagte Carla. «Nora Tabani. Seefeldstrasse in Zürich. Die Hausnummer fällt mir nicht ein.»
«Kein Problem.» Spiess schrieb es auf, dann wartete er mit gezücktem Stift. «Weitere Personen, die ich kontaktieren soll?»
Carla bat ihn, Klinikleiter Tillmann zu informieren, damit dieser ihre Patienten an eine Kollegin weiterleitete.
«Sonst noch jemand?»
Carla spürte einen Stich im Herzen, als sie an ihre Tochter dachte. In Australien war es Nachmittag. Eveline hatte ihr vor ein paar Tagen ein langes Mail mit etlichen angehängten Fotos geschickt. Darauf war sie mit ihrer Gastfamilie und Freiwilligen aus aller Welt abgebildet. Zusammen mit Zwergkängurus und anderen Beuteltieren. Es hatte keinen Sinn, Eveline zu beunruhigen, solange noch nicht klar war, ob das Ganze eine längere Sache würde. Carla würde ihre Tochter über den Tod ihres Vaters informieren, sobald sie draussen war. «Nein. Niemand.»
Dann fiel ihr etwas ein. «Was geschieht mit meinem Auto? Das steht noch immer vor der Fabrik in Erlenbach.»
«Nicht mehr», gab Spiess zurück. «Es wurde von der Polizei zur Spurensicherung abtransportiert. Sie werden es wieder erhalten, wenn die Untersuchungen abgeschlossen sind.» Er packte seine Unterlagen ein und erhob sich. «Falls Sie in Untersuchungshaft kommen, werde ich der Privatdetektivin die Vollmacht übertragen und baldmöglichst mit Ihnen über das weitere Vorgehen sprechen. Ist das in Ordnung?»
Carla stand auf und schüttelte ihm die Hand. «Das ist es. Vielen Dank. Bestimmt ist meine Sorge unbegründet. Morgen bin ich wieder zu Hause.» Sie lächelte und hoffte, er würde zurücklächeln, ihr ein Zeichen der Zuversicht geben. Doch das tat er nicht. Er schaute sie nur an.
Ein Wärter liess den Pflichtverteidiger hinaus. Die Tür schloss sich hinter ihm. Carla blieb allein in der Zelle zurück. Sie setzte sich wieder auf die Pritsche und hörte noch lange das Husten auf dem Gang.
Die Lautsprecheransage, die durch die Halle des Hauptbahnhofs schallte, war kaum zu verstehen. Wer auch immer am Mikrophon sass, war viel zu nah dran. Die Stimme überschlug sich. So viel Nora mitbekam, hatte der Zug aus Frankreich eine Verspätung von fünfzig Minuten. Die Wartenden neben ihr schimpften und wetterten. Einer sagte, man könne froh sein, dass die Züge während des Streiks der französischen Bahnarbeiter überhaupt verkehrten. Nora setzte sich ins «Baretto», bestellte ein Mineralwasser und stürzte es hinunter. Leider war es lauwarm. Sie hätte viel für eine Abkühlung gegeben. Der Asphalt auf den windstillen Strassen war aufgeweicht, die öffentlichen Verkehrsmittel hatten sich in Brutkästen verwandelt, die Leute schleppten sich den Hausmauern entlang, die nur wenig Schatten boten. Kürzlich waren die ersten Hitzetoten gemeldet worden. Nora trank noch ein Wasser und blätterte lustlos in einer Illustrierten. Sogar das Lesen war bei diesen Temperaturen zu anstrengend.
Dann ging sie wieder zu den Geleisen. Nach einer weiteren halben Stunde und mehreren aus den Lautsprechern scheppernden Entschuldigungen traf der Zug ein. Ein Strom stöhnender Fahrgäste ergoss sich aus den Waggons ins Freie. Die feuchten Haare hingen den Reisenden in die Gesichter, die zerknitterten T-Shirts klebten auf ihrer Haut.
Nora entdeckte ihre Mutter in einer Touristengruppe. Ihr Gang war unverwechselbar, hatte etwas Jugendliches an sich. Sie zog zwei silberne Rollkoffer hinter sich her – auf einem lag ein Handtäschchen in der gleichen Farbe – und schaute sich suchend um. Nora winkte ihr. Sonja winkte zurück, aufgeregt und strahlend wie ein Kind.
In diesem Moment hätte Nora heulen können. Ohne Voranmeldung erfasste sie eine Traurigkeit, die sie lange nicht mehr wahrgenommen hatte. Alte Erinnerungen wurden wieder lebendig. Gemeinsame Picknicks mit Frisbeespiel im Grünen. Fernsehnachmittage mit Chips und Apfelsaft auf dem durchgesessenen Sofa, als die ganze Familie die Schweizer Skinationalmannschaft anfeuerte. Das Gespräch zwischen Mutter und Tochter, als sich Nora zum ersten Mal verliebt hatte. Sie hatte es geheimhalten wollen. Doch Sonja hatte es gemerkt, sie darauf angesprochen und von ihren eigenen Erfahrungen in diesem Alter berichtet. Es war einer der raren, vertrauten Momente zwischen ihnen gewesen.
Dann sah Nora ihren Vater vor sich. Sie roch das frische Holz der Baumhütte, die sie gemeinsam gebaut hatten, hörte das Klopfen des Spechts, der sie bald darauf malträtierte. Als Nora von zu Hause ausgezogen war, holte sie ihren Vater häufig über Mittag bei der Kripo ab, sie setzten sich an die Sihl und verdrückten Sandwichs mit scharfer Peperoncinisauce. Nach seinem Tod klammerte sich Sonja eine Weile an Nora. Dann flüchtete sie nach Südfrankreich, anders konnte man es nicht nennen. Jahre waren vergangen, in denen das Unaussprechliche zwischen ihnen hängengeblieben war, jede war mit ihrem eigenen Schmerz beschäftigt. Sonja hatte kein Interesse an Noras Leben gezeigt. Und Nora hatte fast vergessen, dass sie noch eine Mutter hatte.
Sie hätte nicht gedacht, dass das Wiedersehen mit Sonja sie so aufwühlen würde. Ihre Mutter eilte näher und zerrte ihre Koffer flink an all den Reisenden vorbei, als wollte sie möglichst schnell bei ihrer Tochter sein.
«Du bist gewachsen!», rief Sonja.
«Quatsch!», gab Nora lachend zurück und wich einem jungen Pärchen aus.
Ihre Mutter stand vor ihr. «Dann muss ich wohl geschrumpft sein.» Sonja stellte ihr Gepäck ab, stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte drei Küsschen in die Luft neben Noras Ohren. «Lass dich anschauen. Gut siehst du aus. Aber du kommst mir etwas dünn vor. Isst du auch genug?»
«Sonja! Ich bin erwachsen! Ich esse regelmässig, nahrhaft und gesund.»
Nun, das Letzte stimmte nicht ganz. Wenn Jan nicht ab und zu etwas Vitaminreiches aus der Büroküche zaubern würde, bestünden ihre Mahlzeiten aus Pommes frites, Kaffee und Schokolade. Sonja erzählte, dass sie ihre Ernährung komplett auf mediterran umgestellt habe und Fisch inzwischen liebe, vor allem «à la niçoise».
Nora nahm ihr einen Koffer ab, und sie gingen zusammen Richtung Tramstation. Sonja plauderte drauflos. Wie ungewohnt der Bahnhof aussehe. Wie Zürich sich verändert habe. Und dass in Frankreich alles ganz anders sei.
Nora betrachtete ihre Mutter von der Seite. Sie wirkte tatsächlich etwas kleiner als früher. Ihr Gesicht braungebrannt, fast ledrig, Dekolleté und Arme ebenfalls. In den rötlich getönten Haaren trug sie eine bunte Spange, um die Finger und Handgelenke Modeschmuck in schimmernden Farben. Das war neu. Früher hatte Sonja nicht auffallen wollen. Bevor sie die Schweiz verlassen hatte, war sie nur noch ein gräulicher Schatten ihrer selbst gewesen. Grau das Gesicht, grau die Kleidung, grau die Stimmung.
«Ist es nicht wunderbar, dass wir uns wiedersehen?», rief sie aus.
Nora nickte und hievte das Gepäck in das soeben eintreffende 4er-Tram. Sie setzten sich. Sonja war begeistert vom Wetter, von der Stadt und von den Menschen. Sie schaute aus dem Fenster, als sie den Limmatquai entlangfuhren, und kommentierte beschwingt alles, was sie sah.
Nora wusste nicht, wie ihr geschah; sie erkannte ihre Mutter fast nicht wieder und versuchte, sich darüber zu freuen, dass Sonja nicht mehr depressiv war. Doch ihr Verhalten wirkte etwas befremdlich auf Nora.
In diesem Moment dudelte die Schweizer Nationalhymne aus Noras Hosentasche. Sonja kicherte vergnügt, als sie den Klingelton hörte. Nora nahm den Anruf entgegen. Es war Mike.
«Ich dachte», sagte er, «ich bin dir die Neuigkeit schuldig, auch wenn du nicht erfreut sein wirst.»
«Worum geht’s denn, Salzmann?»
Sonja horchte auf, als sie den Namen hörte. Sie flüsterte aufgeregt: «Ist das Mike? Unser Mike Salzmann? Lass mich ein paar Worte mit ihm reden.» Sie griff nach dem Handy.
«Gleich, Sonja», gab Nora leise zurück und entzog ihr das Telefon.
«Ich habe den Bericht des Haftrichters erhalten», fuhr Mike fort. «Carla Manser wird heute ins Bezirksgefängnis verlegt. Untersuchungshaft bis auf weiteres.»
«Scheisse!», stiess Nora aus.
«Nora!», mahnte Sonja.
«Wer ist das?», fragte Mike.
«Meine Mutter.»
«Was? Sonja ist hier? Seit wann denn?»
«Seit gerade erst», sagte Nora.
«Grüss sie herzlich.»
«Das mach ich. Und was ist mit der Staatsanwältin? Konntest du mit Regina Flint sprechen wegen einer Besuchsbewilligung?»
«Keine Chance. Aber wir bleiben dran, Tabani. Wenn die Manser unschuldig ist, werden wir das in kurzer Zeit herausgefunden haben, und sie ist wieder auf freiem Fuss. Ein paar Tage wird sie es aushalten müssen.»
Nora seufzte. «Sofern es nur ein paar Tage sind. Du weisst, wie es in den Zellen aussieht. U-Haft ist kein Zuckerschlecken.»
«Das soll es auch nicht sein. So, ich muss weitermachen.»
«Okay. Vielen Dank und –»
«Nur schnell Hallo sagen», flötete Sonja.
«Mike, meine Mutter möchte noch –»
Sonja hatte das Handy an sich genommen und stiess erfreut aus: «Mike! Wie geht es dir, wie geht es deiner Frau und den Kindern? Was macht die Arbeit? Ist der Sommer nicht unwahrscheinlich heiss?»
Nora lehnte sich zurück und hörte mit halbem Ohr zu, wie die beiden so locker miteinander sprachen, als lägen nicht sechs Jahre Funkstille dazwischen. Sie dachte nach. Carla Manser in U-Haft. Und sie, Nora, ohne Möglichkeit, sie zu sehen. Das war nicht gut. Noch wusste sie viel zu wenig über die ganze Sache. Vielleicht brachte das Gratisblatt am Abend etwas. Oder einer der regionalen TV-Sender. Nora würde sich heute durchzappen und versuchen, genauere Informationen zu erhalten.
Sie kamen bei ihrer Haltestelle an. Nora schleppte die beiden Koffer aus dem Tram, zog sie zum Haus, während ihre Mutter hinter ihr hertrippelte und noch immer mit Mike schwatzte. Nora stieg die Treppen hoch, kam an ihrem Büro vorbei – Sonjas glucksendes Lachen hinter sich – und prallte mit einem hageren Mann zusammen, der nach Nikotin roch. Sie schaute ihn fragend an.
«Sigmar Spiess», sagte dieser und offenbarte eine Reihe gelber Zähne. In seiner Hand trug er eine Aktenmappe, die er ihr überreichte. «Ich bin der Pflichtverteidiger von Carla Manser. Ich habe hier eine juristische Vollmacht für Sie.»
Tak-tak-tak-tak klapperte der altersschwache Ventilator auf Lorenz Tillmanns Schreibtisch. Der Klinikleiter hatte viel zu tun. Er sass in seinem Besprechungszimmer im obersten Stock des Hauptgebäudes. Vom Park her drangen gedämpfte Geräusche zu ihm hoch, Gesprächsfetzen und ab und zu Gelächter. Sein Pult stand direkt vor dem Fenster, so dass er auf die Gartenanlage schauen konnte, wo etliche Patienten, Besucher und Pflegepersonen im Schatten der grossen Blutbuchen sassen. Alle Bänke waren besetzt. Unterhalb des Klinikgeländes sah man Bauernhöfe und Felder, in der Ferne lag der See, über den man von hier aus einen phantastischen Blick hatte. Die Glarner Alpen am Horizont waren von Dunst umgeben und nur undeutlich zu erkennen.
So unglaublich das in seinen Ohren auch klang, aber vor einer Stunde hatte Tillmann Bescheid bekommen, dass Carla Manser in U-Haft bleiben müsse. Er wusste noch nicht, wie er es seinen Ärzten und dem Pflegepersonal mitteilen würde. In erster Linie mussten es diejenigen erfahren, welche Carla Mansers Patienten übernahmen.
Er ging die Liste durch. Berthold fiel schon mal weg. Über ihn würde er sich später Gedanken machen. Blieben noch sechzehn weitere Entlassene, die zum Teil in der Aussenwohngruppe der Klinik oder bereits wieder zu Hause lebten und noch regelmässig bei Manser in Therapie waren. Zum Glück kannte Tillmann alle. Er wusste von den beiden Frauen, die sexuelle Übergriffe erlebt hatten und nur zu einer weiblichen Person in die Beratung wollten. Er würde sie an eine andere Psychiaterin weiterleiten. Einer der manischen Klienten hatte das Gefühl, einzig Carla Manser verstünde ihn; er war schon seit Jahren bei ihr in Behandlung. Für ihn würde es schwierig werden, eine neue Bezugsperson zu finden. Vielleicht wäre es besser, ihm zu erklären, dass seine Therapeutin bald wieder käme, er jedoch eine Weile ohne Begleitung auskommen müsse. Sein Zustand war stabil, er könnte es schaffen.
Tillmann trank einen grossen Schluck Wasser. Er richtete den Tischventilator so aus, dass ihm der Luftstrom ins Gesicht blies. Leider brachte das Aufwirbeln der stickigen Luft nicht viel. Zudem ging ihm das Rattern des Gerätes auf die Nerven. Ein neues wäre wirklich kein Luxus. Er würde sich in den nächsten Tagen darum kümmern. Aber wenn schon keine Kühlung, dann wenigstens ein Hauch von Wind.
Tillmann notierte sich die Namen und entschied, wen er wohin überwies. In solch einer Situation mussten seine Leute Überstunden machen, da musste er auf jeden zählen können. Er entlöhnte seine Angestellten gut, behandelte sie fair, dafür verlangte er hin und wieder auch besonderen Einsatz von ihnen. Von Dauer würde Carla Mansers Ausfall hoffentlich nicht sein. Sonst gäbe es über kurz oder lang Engpässe in der Nachbetreuung, und er müsste sich nach einem längerfristigen Ersatz umschauen. Das war nicht leicht. Manser war gut. Tillmann hatte in seiner Laufbahn mit Dutzenden von Psychiatern zusammengearbeitet, so eine wie sie war eine Rarität. Kompetent, ernsthaft in ihrem Bemühen und trotzdem mit einem Humor ausgestattet, der bei psychisch Kranken positiv ankam. Sie strahlte eine Leichtigkeit aus – ein Gegengewicht zur Schwermut vieler Patienten – aber niemals Respektlosigkeit.
Er schrieb weitere Namen auf, strich sie wieder durch, setzte sie an die richtige Stelle. Dann erledigte er einige Telefonanrufe. Bis am späteren Nachmittag hatte er alle sechzehn Patientinnen und Patienten bei Berufskollegen untergebracht. Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
Die Sonne brannte durch die Fensterfront, obschon er vorhin die Storen heruntergekurbelt und schräg gestellt hatte. Von draussen drang Gläserklirren und Besteckklimpern herein. Bei diesem Wetter nahmen viele ihr Abendessen auf Tabletts in den Park und speisten unter freiem Himmel. Durch die Lamellenschlitze sah er ein Grüppchen Pflegerinnen im Gras sitzen und plaudern.
Tillmann war auch nach all den Jahren noch überzeugt von seinem Konzept. Freiheit so viel wie möglich, Einschränkungen nur wenn nötig. Ausser in der forensischen Abteilung. Da galt die Null-Toleranz-Regel. Die Klinik «Seeblick» war eine der wenigen im Land, die in einem Nebengebäude über einen eigenen geschlossenen Trakt für psychotische Gewaltverbrecher verfügte. Die Aufsichtspersonen hatten eine psychologische Zusatzausbildung absolviert und waren geschult im Umgang mit Renitenten. Die Mauern waren mit Stacheldraht versehen, die Türen doppelt gesichert. Ausgang und Urlaub gab es für die Insassen nicht, Besuch nur mit Bewilligung und unter Überwachung. Angehörige wurden abgetastet und untersucht, als würden sie jemanden in einem Gefängnis treffen, was ja auf eine Art der Fall war. Abgesehen von einer unterirdischen Tür, von der nur wenige wussten, waren die beiden Gebäude nicht miteinander verbunden.
Berthold war in der forensischen Abteilung gewesen, bis er sein Zimmer in der Aussenwohngruppe bezogen hatte, die aus vier Häusern bestand. Sie wurden scherzhaft Villen genannt, eine Bezeichnung, die sich inzwischen auch beim Ärztepersonal eingebürgert hatte. Tillmann betrachtete die vier Gebäude, die am Ende des Parks lagen. Die Patienten, die dort lebten, knüpften oft Beziehungen, die lange hielten. Häufig hatten sie Ähnliches erlebt und bereiteten sich gemeinsam wieder auf den Alltag «draussen» vor. Dass Menschen wie Berthold von dieser Möglichkeit Gebrauch machen durften, kam selten vor. Erst einmal, seit Tillmann die Leitung der Klinik übernommen hatte, war die Verwahrung eines ehemaligen Sexualstraftäters aufgehoben und dieser in die Villa Eins verlegt worden. Es war schwierig gewesen. Verständlicherweise wollte keine der Frauen ein Zimmer neben ihm haben, so dass das Haus, in dem er lebte, nur von Männern bewohnt war, was eigentlich nicht dem Konzept entsprach.
Dann kam Berthold. Tillmann hatte damals die Fotos seines Opfers gesehen. Hingemetzelt war der richtige Ausdruck. Noch nie zuvor war Tillmann mit einer derart abscheulichen Tat konfrontiert gewesen. Doch in der psychiatrischen Gefangenschaft hatte sich Berthold vorbildlich verhalten. Sein Therapeut, den er wöchentlich aufsuchte, lobte seine Fortschritte, so dass ihm schliesslich der Übertritt in die Aussenwohngruppe gestattet wurde. Tillmann selbst hatte etliche Gespräche mit ihm geführt und war zur Überzeugung gelangt, Berthold sei keine Gefahr mehr für die Öffentlichkeit.
Tillmann hörte dem rhythmischen Tak-tak-tak-tak des Ventilators zu, bis ihm das Knattern endgültig auf den Geist ging. Er stellte das Gerät ab, dann griff er nach dem Telefonhörer und wählte eine interne Nummer.
Fatma Yürkülmaz schob den Mercedes vor sich her. Zum Glück führte die Route geradeaus. Eine schotterige Steigung hätte sie bei dieser Hitze umgebracht. Sie ging den Weg, den sie Tag für Tag ging, gemächlich und in Allahs Schutz. Sie hielt hier für ein Schwätzchen inne und dort für ein Plauderminütchen, und weder ungeduldige Blicke ihrer Vorgesetzten noch irgendein Pensum, das sie erreichen musste, setzten sie unter Druck.
Natürlich gab es hier keine schotterigen Steigungen. Das war früher gewesen, in Dyarbakir. Hier war der Boden eben und aus spinatgrünem Linoleum. Und das Gefährt, das sie herummanövrierte, war auch kein Mercedes, sondern ein Putzwagen namens «Clean-Boy», beladen mit Lappen, Tüchern, Reinigungsmitteln und einem Handstaubsauger. Ihr tägliches Arbeitsgerät in der Klinik «Seeblick». Doch sie stellte sich gern vor, der Clean-Boy sei ein Luxuswagen, der bis oben mit Delikatessen vollgestopft war, so dass die Schutzbleche über die Reifen kratzten. Und sie, Fatma, sei unterwegs, um ihre grosse Kinderschar mit «baklava», «akide ekeri» und anderen Süssigkeiten zu verwöhnen, die sie vom Markt mitgebracht hatte. Ihr Ali würde im Haus auf sie warten und sie mit offenen Armen empfangen. Er würde nach seinem herben Tabak riechen, sie von oben bis unten begutachten, befriedigt nicken und ihr schmatzend einen Kuss auf jedes Auge drücken, wie er es immer getan hatte.
Fatma stiess einen schweren Seufzer aus. Ali war schon lange tot, und Kinder hatten sie nie gehabt. Eine Schande für ein hübsches anatolisches Mädchen. Nun ja, so hübsch war sie inzwischen nicht mehr, das liess sich nicht leugnen. Mit Mitte fünfzig waren ihre Haare zwar immer noch schwarz, und nach wie vor konnte sie ihre Hüften bewegen wie eine Bauchtänzerin, doch der Speck wabbelte mit. Aber Ali hätte es gefallen. Er hatte mollige Frauen immer gemocht und sie früher liebevoll «yakııklı» genannt, meine Stattliche.
Fatma stellte den Clean-Boy vor den Eingang der geschlossenen Abteilung C und fischte nach ihrem Schlüsselbund. Sie öffnete die Glastür, zog den Putzwagen hinter sich her und schloss wieder ab. Zuerst war der Gang an der Reihe, danach kamen die Zimmer dran. Auf der Bank neben der Yucca-Palme sass der bleiche Jüngling, der vor einigen Tagen eingeliefert worden war. Er erinnerte sie an ihren Ältesten, sofern sie denn Söhne gehabt hätte. Aber nur äusserlich, wegen seiner dunklen, tiefliegenden Augen. Ihr Hazim, so hätte sie ihren Jungen genannt, wäre lebensfroh und temperamentvoll gewesen, dieser hier war immer traurig. So viel sie wusste, hatte er sich umbringen wollen. Seine Handgelenke waren verbunden, er sass trübselig da und starrte Löcher in die Wand.