Kitabı oku: «Das Kainszeichen», sayfa 5
Fatma wrang den Lappen aus, klatschte ihn auf den Boden und setzte den Schrubber darauf. Dann begann sie, das Linoleum zu reinigen. Sie machte sich nicht die Mühe, die Stühle und Bänke zu verschieben, sondern fegte grosszügig darum herum. Schliesslich zählte nicht das Resultat, sondern der gute Wille. Sie kam am blassen Jugendlichen vorbei und schubste ihn gutmütig mit dem Schrubber zur Seite. Er hob die Beine hoch und lächelte sie kurz an. Na, also. Sie zwinkerte ihm zu, machte unter seinen Füssen sauber und reinigte den ganzen Gang. Von all diesen Therapiesachen und Pillen hielt sie nicht viel. Diese unglücklichen jungen Leute musste man aufheitern, das war alles.
Natürlich gab es ab und zu seltsame Vögel oder sogar gefährliche Patienten wie diesen Paul Berthold. Bei solchen nützte alle Aufmunterung nichts, die waren und blieben verstockt. Berthold hatte wieder jemanden umgebracht, Fatma wusste das seit kurzem. Als sie das Büro des Direktors reinigte, hatte er einen Anruf bekommen, der ihn beunruhigte. Wie üblich betrachtete er Fatma nicht als menschliches Wesen, sondern als eine Art wandelnden Einrichtungsgegenstand seiner Klinik, und sprach in ihrer Gegenwart hemmungslos weiter. Fatma hörte alles. Sie war sowieso überzeugt, dass es in den «Seeblick»-Gebäuden kein Geheimnis gab, das sie nicht kannte. Sie wusste, wer in wen verliebt war, welchen versteckten Lastern die Angestellten und Insassen frönten, und sie hatte schon Diebstähle, Sachbeschädigungen und verbotene Zimmerparties entdeckt. Normalerweise schwieg sie und liess die anderen leben.
Dass dieser Berthold aber erneut getötet und die nette Psychiaterin ihm dabei geholfen haben sollte, überraschte sie doch. Doktor Tillmann war ganz erschüttert gewesen und hatte den Hörer so stark umklammert, dass seine Knöchel weiss hervorgetreten waren, als er erfahren hatte, dass Carla Manser für längere Zeit in Untersuchungshaft bleiben musste. Was das bedeutete, wusste Fatma. Ihr Cousin Mehmet hatte auch einige Monate gesessen. Das sei zwar nicht mit türkischen Gefängnissen zu vergleichen, hatte er ihr versichert, aber lustig sei es nicht.
Fatma war am Ende des Ganges angekommen. Der Boden glänzte feucht, der bekümmerte Jüngling sass noch immer mit hochgezogenen Beinen auf der Bank. Rasch war sie mit den Badezimmern fertig gewesen, hatte den Aufenthaltsraum gereinigt; nun kamen die Patientenzimmer dran. Um diese Zeit waren die meisten leer. Die Leute sassen beim Abendessen, viele von ihnen draussen. Einige hatten wohl noch Besprechungsstunden, andere waren in der Ergotherapie.
Fatma hasste die Ergotherapieräume. Da stand alles voller frisch getöpferter, undefinierbarer Figuren und Gestalten, die anscheinend Gefühle oder andere seelische Dinge darstellen sollten. Einmal hatte sie einen Tonklumpen, der in einer Ecke lag und bei Allah wie das Abfallprodukt eines Strassenköters aussah, entsorgt. Worauf die Patientin, die ihn hergestellt hatte, in sirenengleiches Geheul ausgebrochen war, weil das Gebilde ihre Mutter verkörpert hatte. Seither machte Fatma einen grossen Bogen um die selbstgebastelten, gemalten, modellierten und geleimten Objekte in den Kreativräumen. Sollten diese Bereiche vor sich hinstauben.
Noch drei Zimmer, dann war sie mit der Abteilung C fertig. Fatma stellte den Mercedes in eine Ecke, kramte die zerknitterte Zigarettenpackung aus ihrer Rocktasche hervor und ging zur Glastür. Sie verliess die Abteilung, stieg die Treppe in den Park hinunter und rauchte genüsslich eine Zigarette. Alle zwei Stunden machte sie eine kleine Pause, das war ein Ritual, das den Tag in überschaubare Häppchen einteilte. Die Grünflächen waren voller Leute. Sie nickte ein paar serbischen Kolleginnen zu, dann kehrte sie zurück.
Sie machte sich ans Zimmer Nummer 8. Hier waren zwei Männer untergebracht. Ein junger, aus dessen Kopfhörer ununterbrochen laute Musik hämmerte, und ein älterer, der sich immer an seinem kahlen Schädel kratzte, dessen Kopfhaut sich rötlich abschuppte. Fatma brachte das Zimmer mit einigen geübten Handgriffen in Ordnung und öffnete mit ihrem Schlüssel das Fenster, um etwas Luft hineinzulassen.
Sie stockte, trat einen Schritt näher an den weissen Rahmen. Jemand hatte sich am Schloss zu schaffen gemacht. Die Patienten dieser Abteilung konnten zwar die Fenster nicht öffnen, aber vergittert waren diese nicht. Das hiess, wenn jemand einen Vierkantschlüssel besass wie sie, war es leicht, nach draussen zu gelangen, über das Sims zu klettern und die Regenrinne hinunterzurutschen. Fatma beugte sich vor. Einfach war das nicht, und es ging wohl auch kaum ohne Schrammen ab.
Sie inspizierte das Schloss nochmals. Dann sah sie die Kratzer. Nein, hier hatte niemand mit einem Schlüssel herumhantiert. Das waren Spuren eines scharfen Gegenstandes, einer Ahle oder etwas Ähnlichem. Jemand hatte das Fenster mit Gewalt geöffnet. Vielleicht war das schon länger her, Fatma konnte sich nicht erinnern, wann sie dieses Zimmer das letzte Mal gelüftet hatte. Sollte sie es der Stationsleiterin mitteilen? Verena Knecht hatte Fatma immer wieder darauf hingewiesen, sie solle ihr ungewöhnliche Vorkommnisse melden. Aber war das ungewöhnlich, ein paar Kratzspuren und Dellen? Vielleicht hatten sich die beiden Männer nur einen kleinen Ausflug in den nächtlichen Park erlaubt. Hatten sich mit Freundinnen getroffen, um ungestört zu sein. Fatma lächelte verständnisvoll vor sich hin. Verena Knecht war sowieso zu streng mit den Insassen, man musste ihre Disziplinierungswut nicht zusätzlich nähren.
Fatma staubte ab, rückte die Matratzen zurecht. Plötzlich zuckte sie zusammen. Reflexartig zog sie den Zeigefinger zurück. Sie hatte sich an einer scharfen Kante geschnitten. Es fühlte sich an wie Papier. Zwischen Leintuch und Lattenrost zog sie eine Zeitschrift hervor. Das war nun wirklich kein geeigneter Aufbewahrungsort. Sie legte das Magazin aufs Nachttischchen des hautkranken Patienten und erstarrte.
«Korkunç!», stiess sie aus. «Ağır! Das ist ja grauenhaft!»
Das Titelbild sagte alles. Fatma wusste, dass gewisse Männer auf schmutzige Bilder angewiesen waren, damit ihr «yarak» einsatzbereit war, aber so etwas hatte sie noch nie gesehen. Die nackte Frau, die da abgebildet war, war mit Ketten gefesselt und blutete aus unzähligen Wunden wie nach einer Misshandlung. Trotzdem verzog sie ihren knallroten Schmollmund zu einem verführerischen Lächeln, als würde sie den Betrachter auffordern, ihr noch mehr Schmerzen zuzufügen. Was für ein Mensch schaute sich solche Dinge an? Einem unerklärlichen Zwang nachgebend, blätterte sie das Magazin durch und stiess auf noch entsetzlichere Fotos, in denen immer wieder Messer eine Rolle spielten. Sie hatte keine Ahnung, ob das gestellte Bilder mit Schauspielblut aus Ketchup waren, oder ob diese Frauen tatsächlich fast zu Tode gequält worden waren.
Mit spitzen Fingern fasste sie die Zeitschrift an den Ecken. Sie wusste, dass es ihr nicht zustand, Patienteneffekten verschwinden zu lassen, aber solche Abscheulichkeiten widerten sie an. Das verletzte die Menschenwürde. Gut, hatte sie das Magazin entdeckt. Und nun weg damit, «Allaha ükür». Sie schleuderte es in den Abfallsack des Clean-Boys.
In diesem Moment glitt ein ausgeschnittener Zeitungsartikel zwischen zwei Seiten heraus und flatterte zu Boden. Fatma hob ihn auf. Er war uralt, das Papier vergilbt und rissig, die Schrift kaum mehr zu erkennen. Dennoch konnte sie den Titel lesen: «Die Greueltat des Kainszeichenmörders». Darunter war der Mord beschrieben, den Paul Berthold vor Jahren begangen hatte. In der Ecke war ein unscharfes Foto von ihm zu sehen. Ein schwarzer Balken verdeckte seine Augen, doch Fatma erkannte Berthold sofort. Sie schüttelte verständnislos den Kopf. Dann zerknüllte sie den Artikel und warf ihn der Zeitschrift hinterher. Er verschwand im Schlund des Mercedes.
«Hier arbeitest du also!» Sonja war beeindruckt. Sie rauschte durch Noras Büro, fuhr mit der Hand über die Schreibtischfläche, berührte den Laptop und betrachtete die Pinwand, an der die Fotos des vermissten Hündchens hingen sowie Umgebungspläne mit gelb markierten Strassen. Der Hauch eines orchideenhaften Parfüms wehte hinter ihr her. «Ich bin stolz auf dich. Wirklich.»
Sie schaute Nora mit einem Ausdruck an, der dieser etwas peinlich war. Gleich würde sie fragen, ob sie schon mal einen richtigen Fall gelöst hätte. Jan stand vor der Tür zu seinem Büro und grinste zu Nora herüber.
«Hattet ihr denn schon mal», raunte Sonja verschwörerisch, «einen richtigen Fall?»
Nora stöhnte innerlich auf.
«Ich meine, einen mit Mord und Totschlag?»
«Das ist kein Spiel, Sonja», gab Nora etwas gereizt zurück. «Das ist unsere Arbeit. Jan und ich versuchen, Verbrechen aufzuklären.»
«Entschuldige bitte. Ich dachte nur …» Sie unterbrach sich, drehte noch eine Runde, sagte dann: «Ich glaube, ich gehe jetzt wieder hoch und mache mich etwas frisch.»
«Ja, tu das.»
«Und danach essen wir zusammen zu Abend, und du zeigst mir das Nachtleben von Zürich!» Sie strahlte erst Nora an, dann Jan. «Ihr glaubt gar nicht, wie ich das alles vermisst habe!»
«Ich dachte, du hättest dich wohl gefühlt in Südfrankreich.»
«Das habe ich auch. Aber etwas fehlte, verstehst du? Das Landleben hat mich zu mir zurückgebracht, doch die Impulse von aussen sind genauso wichtig. Das weiss ich jetzt.» Sie hielt einen Moment inne, schien kurz weit weg zu sein, dann schüttelte sie den Kopf, als wolle sie den Gedanken loswerden. Aufgekratzt sagte sie: «Ich bin ja so gespannt, was du zu meinen Bildern sagst!»
«Ich habe ein Auto», wandte Jan ein. «Es ist zwar nicht sehr geräumig, aber wenn Ihre Gemälde nicht allzu gross sind, könnte ich Ihnen –»
«Bitte, wir sollten uns duzen! Ich bin Sonja, einfach Sonja.»
«Jan», sagte er und gab ihr die Hand. «Ich könnte Ihnen … also dir beim Transport deiner Werke helfen, wenn du möchtest. Und wenn du einen Ort brauchst, um sie bis zur Ausstellung zu lagern – mein Dachstock ist riesig.»
«Oh, das wäre ganz reizend von dir.» Sie warf einen Blick auf ihre Uhr und lächelte. «Darf ich euch ins ‹Mère Catherine› einladen? Sagen wir … in einer Stunde?»
Sie wartete die Antwort nicht ab, schwang ihr silbernes Handtäschchen herum und flatterte aus dem Büro. Der Orchideenduft blieb im Raum hängen.
«Sorry», meinte Nora zu Jan, als Sonja die Tür hinter sich zugeworfen hatte, «du musst selbstverständlich nicht mitkommen.»
«Wieso nicht? Sie ist doch nett.»
«Findest du?»
«Na klar. Ich wundere mich bloss. Du hast mir immer erzählt, sie sei schwermütig.»
«War sie auch.»
«Was ist passiert?»
Nora zuckte die Schultern. «Ich tippe auf ein potentes Pharmaprodukt.»
«Erstaunlich», sagte Jan.
Nora ging zum Pult, nahm die beiden Vollmachten und gab Jan eine davon. Nachdem Carlas Pflichtverteidiger aufgetaucht war, hatte Nora ihm klargemacht, dass ihr Partner ebenfalls ein juristisches Formular brauche, um Carla im Bezirksgefängnis besuchen zu können.
«Wie gehen wir vor?», fragte Jan.
«Ich werde Carla morgen früh treffen. Du könntest in dieser Zeit erste Ermittlungen zum Fall anstellen. Schau dir die neuesten Internetnachrichten an, finde mehr über diesen ‹Kainszeichenmörder› heraus, vom dem der Anwalt gesprochen hat. Vielleicht stösst du auf alte Gerichtsunterlagen, Artikel oder Polizeiaussagen.»
«Geht klar, Chef. Und was, wenn Carla Manser den Mord tatsächlich begangen hat?»
Nora zögerte keine Sekunde. «Ausgeschlossen.»
Er machte eine kleine Pause, bevor er seinen Gedanken aussprach: «Was, wenn sie ihren Patienten anstiftete, ihren Ex-Mann zu töten?»
Stationsleiterin Verena Knecht marschierte den Gang der Abteilung C entlang, schaute kurz in jedes Zimmer und kontrollierte, ob alles seine Richtigkeit hatte. Die Patienten lasen, dösten, schwatzten oder verbrachten den Abend im grösseren der beiden Aufenthaltsräume vor dem Fernseher. Einige spielten Karten. Der junge Neueingetroffene sass still in einer Ecke. Soweit alles in Ordnung.
Verena Knecht schaute auf die grosse Uhr über dem Eingang. Eigentlich müsste die Nachtwache schon da sein. Die Stationsleiterin ärgerte sich. Wenn sie eines nicht ertragen konnte, dann war das Unzuverlässigkeit mit all ihren Begleiterscheinungen von Unpünktlichkeit über Unordnung bis Faulheit.
Sie setzte sich ins Stationszimmer. Es war ein Glaskabäuschen, das als Büro diente; durch ein Schiebefenster fand die Medikamentenausgabe statt. Sie klopfte nervös mit dem Finger auf die Tischplatte. Doktor Tillmann wartete auf sie, und sie konnte nicht weg, weil die Nachtwache noch nicht eingetroffen war. Der Klinikleiter hatte sie zusammen mit Assistenzärztin Steffen und dem leitenden Arzt Gerold zu einer Sitzung ins Direktionszimmer bestellt. Es schien sich um etwas Wichtiges zu handeln, dass er das Gespräch auf diese Zeit ansetzte. Steffen und Gerold verliessen die Klinik normalerweise früher. Worum es auch immer ging, Verena fühlte sich geehrt, dass ihre Fachkompetenz gefragt war.
Sie hörte mit halbem Ohr, wie zwei Patientinnen sich stritten, eine die andere mit Schimpfworten bedachte und diese mit Beleidigungen unter der Gürtellinie konterte. Nun stürzte die erste vom Aufenthaltsraum auf den Gang, die andere eilte ihr hinterher, schrie ihr etwas nach. Dann begannen beide zu lachen. Mitten im Gestürm traf endlich die Nachtwache ein. Eine unverschämt gutaussehende Aushilfe, der die Männer hinterherhechelten; schlank, brünett, dauerlächelnd. Verena Knecht hatte sie vom ersten Moment an nicht ausstehen können. Sie konnte nichts dafür, das war schon immer so gewesen. Wenn eine aussah wie diese Melissa – und dann noch Melissa hiess! – war sie für die Stationsleiterin unten durch.
Die Nachtwache kam ins Stationszimmer, entschuldigte sich wortreich für die Verspätung und hängte ihre Tasche an den Haken. «Irgendwelche speziellen Vorkommnisse, Frau Knecht?»
«Nichts», sagte Verena eisig.
«Wie geht es dem Neuen?»
«Seine Medikation wurde angepasst. Er erhält nun eine höhere Dosis Haldol. Morgen hat er einen Termin bei Frau Doktor Steffen.»
Sie führten den Rapport fort und tauschten sich über die anderen Patienten aus. Dann legte Melissa die Krankenakten zur Seite. «Ihnen einen wunderschönen Abend, Frau Knecht.»
«Guten Abend», sagte Verena steif und ging. Melissa bestand darauf, jeweils vierzehn Tage hintereinander die Nachtwache zu übernehmen, damit ihr Biorhythmus, wie sie es nannte, nicht zu sehr durcheinander geriet. Biorhythmus!, dachte Verena Knecht. Wo kämen wir hin, wenn alle an so was glaubten?
Eine geschlagene Viertelstunde zu spät und etwas keuchend trat sie ins Direktionszimmer. Ihre Erklärung, es sei nicht ihre Schuld, wischte Lorenz Tillmann mit einer grosszügigen Handbewegung weg. «Setzen Sie sich, Frau Knecht.»
Verena nahm Platz und begrüsste die deutsche Assistenzärztin Doktor Sabine Steffen, dann Doktor Christian Gerold, den leitenden Arzt der Abteilung C.
Die Jalousien waren heruntergezogen. Die Abendsonne blitzte durch die Schlitze und warf helle Streifen in den abgedunkelten Raum. Es roch leicht nach Schweiss, wie Verena angewidert feststellte. Bestimmt nicht von Doktor Tillmann, der war ein äusserst gepflegter Herr. Frauen rochen sowieso nicht stark, also kam nur Doktor Gerold in Frage. Tatsächlich hatte er dunkle Schweissflecken auf seinem Hemd und wischte sich gerade mit einem Taschentuch über die Stirn. Er sass locker auf dem Stuhl, hatte ein Bein übers andere geschlagen und schaute sie offen an. Doktor Sabine Steffen hingegen wirkte etwas verkrampft und hielt ihre Hände auf den Knien.
«Ich komme gleich zur Sache», begann Tillmann. «Ich habe Sie zu dieser Stunde herbestellt, weil etwas Aussergewöhnliches vorgefallen ist. Die Leitenden der Abteilungen A und B wurden bereits informiert.»
Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Es schien ihm schwer zu fallen, weiterzusprechen. Er räusperte sich, dann fuhr er fort: «Paul Berthold hat wieder einen Mord begangen.»
«Wie bitte?», stiess Sabine Steffen aus, und Gerold sagte gleichzeitig: «Jetzt schon?»
Verena warf ihm einen irritierten Blick zu. Was sollte das denn heissen? Sie wandte sich an den Klinikleiter. «Ich nehme an, er ist in Polizeigewahrsam.»
Tillmann nickte. «Leider nicht allein. Carla Manser wurde ebenfalls festgenommen.»
Gerold wollte etwas einwenden, doch Tillmann schnitt ihm das Wort ab. «Zweifelsohne handelt es sich um einen Irrtum, der sich in den nächsten Tagen klären wird. Für Mansers Patienten ist gesorgt, bis sie ihre Arbeit wieder aufnehmen kann. Weshalb ich Sie zu mir gebeten habe …» Er schaute von einem zum anderen, und Verena verspürte ein Kribbeln im Magen. «Ich brauche Ihre Hilfe.»
«Klar», sagte Doktor Gerold sofort. «Was können wir für Sie tun?»
«Sie», meinte Tillmann, «sind als Pressesprecher ganz besonders gefordert. Bis jetzt konnten Sie diese Aufgabe neben Ihrer medizinischen Tätigkeit mit wenig Aufwand wahrnehmen. Das könnte sich ändern. Die Medien werden sich auf uns stürzen. Es ist mir sehr wichtig» – er hob den Zeigefinger in die Höhe, und Verena nickte unwillkürlich – «dass unsere Klinik nicht in Verruf gerät. Einer der Bewohner der Aussenwohngruppe hat ein abscheuliches Verbrechen begangen. Aber dies sagt nichts über unser Betreuungskonzept aus. Die Klinik ‹Seeblick› ist eine der renommiertesten psychiatrischen Institutionen, und das wird auch so bleiben. Wenn jemand die Schuld trifft, dann mich.»
«Aber Herr Doktor!», warf Verena ein. «Sie konnten doch nicht wissen –»
«Ich habe den Patienten als ungefährlich eingeschätzt, Frau Knecht. Mit dieser Meinung stand ich zwar nicht allein da, es waren ja mehrere Fachleute an der Expertise beteiligt. Doch die forensischen Psychiater stützten sich bei ihrem Gutachten unter anderem auf meine Erwägungen.» Er wandte sich wieder an Gerold. «Schreiben Sie eine Pressemeldung und legen Sie sie mir morgen früh vor.»
«In Ordnung.»
«Geben Sie nur jene Informationen an die Medien weiter, die absolut notwendig sind. Ich werde Ihnen heute abend alle Einzelheiten mailen, die mir bekannt sind. Nun zu Ihnen, Frau Doktor Steffen. Sie stehen in enger Beziehung zu den Angehörigen der Patienten. Falls diese sich besorgt oder beunruhigt zeigen oder womöglich unsere Einrichtung nicht mehr für sicher halten, teilen Sie mir dies bitte umgehend mit. Dann werde ich sie im Gespräch überzeugen, dass ihre Verwandten und Ehepartner hier gut aufgehoben sind.»
«Natürlich.» Sabine Steffen nickte ernst.
Tillmann wandte sich an Verena. Er schaute sie trotz der schwierigen Situation freundlich an, wie sie dankbar registrierte. «Ich weiss, dass ich mich auf Sie verlassen kann, Frau Knecht.»
«Gewiss, Herr Doktor!», sagte sie mit Nachdruck.
«Sie haben am meisten Kontakt zu den Patienten. Viele von ihnen sind hochgradig erregbar und steigern sich in Ängste hinein, wie Sie täglich miterleben. Je weniger sie erfahren, desto besser. Sorgen Sie dafür, dass keine Gerüchte entstehen.»
«Ganz wird es sich nicht vermeiden lassen, Herr Doktor», warf Verena ein. «Die Patienten lesen Zeitung und schauen Nachrichten. Wenn die Boulevardblätter erstmal etwas breitschlagen…»
«Dann seien Sie der ruhende Pol, als den ich Sie kenne.»
Verena spürte, wie das Blut in ihre Wangen schoss. Sie senkte den Blick und sagte: «Das werde ich, Herr Doktor.»
Tillmann erhob sich, die anderen taten es ihm gleich. Er schüttelte allen die Hand und entliess sie aus seinem Büro. Sabine Steffen und Christian Gerold nahmen den Lift zum Ausgang, Verena Knecht ging nochmals zurück zur Abteilung C.
Als sie dort eintraf, fühlte sie sich bestätigt. Sie hatte es doch gewusst! Die Nachtwache sass zwischen den Patienten im Aufenthaltsraum und schaute gebannt auf den Fernseher. Auf dem Beistelltischchen stand eine Schale Salzstangen, in die mehrere Hände griffen. Es lief eine Quizshow. Ein Dutzend Männer und Frauen riefen auf die Frage nach dem höchsten Berg der Schweiz wild durcheinander: «Jungfraujoch!», «Eiger!» und «Mont Blanc!» Melissa rief am lautesten: «Matterhorn!»
Verena blieb mit verschränkten Armen in der Tür stehen. Es dauerte eine Weile, bis die Nachtwache sie bemerkte. Wenigstens zuckte sie schuldbewusst zusammen und stand sogleich auf. «Es ist alles ruhig», berichtete sie unnötigerweise. «Deshalb habe ich –»
«Sie wissen, was ich davon halte.»
«Seien Sie doch nicht immer so strikt. Vielen tut es gut, auf gleicher Höhe mit uns zu verkehren.»
«Das ist genau Ihr Denkfehler», sagte Verena. «Ich nenne dies Anbiederung. Sie haben hier eine Autoritätsfunktion. Verhalten Sie sich dementsprechend.»
Melissa gab sich geschlagen und machte sich auf den Kontrollgang durch die Zimmer.
«Übrigens», sagte Verena, «der höchste Schweizer Berg ist die Dufourspitze.» Doch Melissa schien sie nicht mehr zu hören.
Verena erhaschte einen Blick auf Jay-Jay, die aufsässigste Patientin der Abeilung, und sah, wie sie ihre Lippen gehässig verzog und «Ratched!» ausstiess. Verena drehte sich weg. Den Namen «Ratched», nach der diktatorischen Oberschwester des Films «Einer flog über das Kuckucksnest», hatten ihr schon einige angehängt. Es kümmerte sie nicht mehr. Sie hatte den Film nicht gesehen, anscheinend zeigte er die Missstände in einer psychiatrischen Klinik auf. Aber was hiess denn schon Missstände? Wer konnte ernsthaft etwas gegen ein gesundes Mass an Disziplin einzuwenden haben?
Verena Knecht ging noch einmal zum Stationszimmer. Sie schloss die Glastür hinter sich. Sie sah die Akten der Neueintritte durch, kontrollierte, ob Melissa die Medikamente für die Nacht richtig bereitgelegt hatte und musste enttäuscht feststellen, dass dies der Fall war. Plötzlich fühlte sie sich sehr müde. Doch nach Hause gehen wollte sie nicht. Niemand wartete dort auf sie. Eine Katze hätte sie gern gehabt, aber auf Katzenhaare reagierte sie allergisch. Sie war kinderlos und hatte mit Männern nur unbefriedigende Erfahrungen gemacht. Statt den Abend in ihrer spartanisch eingerichteten Zweizimmerwohnung zu verbringen, konnte sie hier nach dem Rechten sehen.
Sie öffnete die Schublade mit ihren persönlichen Dingen, vergewisserte sich, dass niemand sie beobachtete, dann nahm sie das Foto hervor. Lorenz Tillmann lächelte sie an.
In dunklem Anzug und Krawatte und mit einem Glas Champagner in der Hand. Die Konturen waren nicht ganz scharf, da Verena den Ausschnitt aus dem Gruppenfoto des Weihnachtsessens vergrössert hatte, auf dem er nur im Hintergrund zu sehen war. Doch seine Augen mit den vielen kleinen Lachfältchen konnte sie deutlich erkennen.
Verena Knecht küsste das Bild.
Amir mochte Verena Knecht nicht. Niemand mochte sie. Die neue Nachtwache Melissa war nett, man durfte sie sogar duzen. Aber diese Furie von einer Stationsschwester konnte ihm gestohlen bleiben. In einer Erziehungsanstalt wäre sie am richtigen Ort gewesen. Dort, wo aggressive Jugendliche in die Schranken gewiesen werden mussten. Aber die Leute hier waren erwachsen. Und sensible Wesen, die mit Respekt behandelt werden wollten. Jedenfalls er, Amir.
Er sass auf der Couch im grossen Aufenthaltsraum, wo im Fernseher die Quizshow auf den Höhepunkt zusteuerte. Bunte Konfetti segelten auf den Sieger hernieder. Ein drahtiger Typ mit Hornbrille hatte gewonnen, er entsprach voll und ganz dem Klischee des intellektuellen Besserwissers.
Zu acht sassen sie auf den Sofas. Einige dösten, andere verfolgten das Geschehen mit Desinteresse. Ein Patient vergrub seine Finger gedankenverloren in seinen flauschigen, hellblauen Pantoffeln.
Jay-Jay, die sich wie immer neben Amir gesetzt hatte, nahm die Fernbedienung und zappte auf einen anderen Sender. Es war ein Horrorfilm. Niemand protestierte. Jay-Jays Autorität wurde hier nicht in Frage gestellt, obwohl sie spindeldürr und einen Kopf kleiner war als Amir. Sie hatte helle Haut und blau gefärbte Haare, deren Strähnen mit Gel modelliert waren und in alle Richtungen abstanden.
Der Fernsehfilm ging dem Showdown entgegen. Eine Gruppe Zombies näherte sich mit roboterhaften Bewegungen und ausdruckslosen Augen einer dümmlichen Frau, die verzweifelt schrie. Die Kleider der Untoten waren zerrissen, ihre Gesichtshaut hing in Fetzen von den Knochen. Sie griffen nach dem Opfer. Ein paar Patienten grinsten vor sich hin. Die alte Dame neben Amir starrte gebannt auf den Bildschirm, wo die Zombies die Dümmliche gerade zu einer der ihren machten.
Amirs Vater hätte Jay-Jay als Abschaum bezeichnet, als Teufelsweib. Doch Amir liebte sie von ganzem Herzen. Natürlich nur platonisch, etwas anderes hätte sie nicht geduldet. Sie hielt nichts von Männern. Männer zerstörten die Welt, behauptete sie, taten Kindern und Frauen Gewalt an und seien intelligenzmässig minderbemittelt. Nur er sei eine Ausnahme. Amir war genau der gleichen Meinung. Er hatte seinen Vater gefürchtet und seinen Onkel, der im gleichen Haus gelebt hatte, ebenfalls. Auch mit seinen drei älteren Brüdern verband ihn keine Zuneigung. Irgendwie waren da Dinge passiert, die er lieber nicht wissen wollte. Doch seine Mutter vergötterte er. Sie nannte ihn Prinz und schrieb ihm jede Woche einen langen Brief.
Leider hatte Amir versagt. Auf der ganzen Linie. Er hatte die teure Schule in Marrakesch nicht geschafft, so dass sein Vater einen Privatlehrer für ihn anstellte. Er hatte nicht den Mumm gehabt, in Vaters Exportgeschäft einzusteigen, das immense Vermögen der Familie war ihm gleichgültig gewesen. Später hatte ihn sein Vater in die Schweiz geschickt. Bei einer Zürcher Bank lautete ein millionenschweres Konto auf Amirs Namen, die Eigentumswohnung im Kreis 7 war mit allen Schikanen ausgestattet. Doch all das sagte ihm nichts. Er genügte den Anforderungen dieser Zeit einfach nicht. Er war für eine andere Welt gemacht.
Als er daran dachte, rann ihm eine Träne aus dem Augenwinkel. Das passierte ihm oft in letzter Zeit. Wahrscheinlich waren die Medikamente daran schuld. Sie machten ihn nicht dumpf und gefühllos, wie man immer wieder hörte, sondern drückten seine Emotionen hoch. Er wischte die Träne weg.
Jay-Jay sah ihn an, dann schnellte ihr Blick in die Runde. «Hat dir jemand etwas angetan, mein Prinz?»
Er schüttelte den Kopf.
Ihre warmen, braunen Augen waren besorgt auf ihn gerichtet. «Kommt es wieder von innen?»
«Es sind die immer gleichen, alten Geschichten.»
Sie legte den Arm um ihn und zog seinen Kopf zärtlich an ihren flachen Busen. Er spürte ihre Rippen und fühlte sich geborgen und aufgehoben.
«Wenn du willst, finde ich diejenigen, die dir das angetan haben, und bring sie um.»
«Das ist nicht nötig, Jay-Jay, aber danke.»
Sie schien nicht ganz überzeugt. «Du weisst, ich kann das.»
Er wusste es. Sie hatte sich von Anfang an um ihn gekümmert, wie es eine Löwenmutter um ihre Jungen tat. Als er ihr von seinen Gedächtnislücken erzählt hatte, vermutete sie gleich, dass jemand an seinem Hirn herumgewerkelt hatte. Wahrscheinlich genmanipulierte Klon-Agenten, wie sie ihm erklärte. Regelmässig fragte sie ihn zur Kontrolle, was er kürzlich gegessen, gelesen oder gemacht habe, und nie konnte er ihr Antwort geben. Das Einzige, was ihm einigermassen präsent war, waren ein paar Fragmente seiner Zürcher Wohnung, einige Personen dieser Klinik und seine Mutter. Und natürlich Jay-Jay. Sie verschwand nicht. Doch daneben fehlten ganze Brocken.
«Was gab es zum Mittagessen?», fragte Jay-Jay.
«Ich weiss es nicht.»
«Versuch, dich zu erinnern», sagte sie sanft.
«Es tut mir leid. Da ist einfach nichts.» Er fühlte sich erbärmlich. Etwas in ihm entschwand von Tag zu Tag mehr.
Vorsichtig löste sie seinen Kopf von ihrer Brust und schaute ihn an. «Ich gehe der Sache auf den Grund, das kannst du mir glauben, mein Prinz. Wer immer versucht, deine Erinnerungen zu stehlen, kriegt es mit mir zu tun.»
Die Filmmusik drang bedrohlich und laut durch den Raum. Die Dümmliche, die vorhin noch gekreischt hatte, war inzwischen selber ein Zombie und machte Jagd auf ihre Nachbarin. Das Blut spritzte. Der Patient mit den hellblauen Pantoffeln setzte sich ganz nah an den Bildschirm und lächelte entrückt.
Amir lehnte sich wieder an Jay-Jay. Sie murmelte etwas von den extraterrestrischen Agenten, die ihre Menschenversuche noch bereuen würden und sich ihre Gehirnimplantate sonstwohin stecken könnten. Ganz verstand Amir es nicht, sein Deutsch war noch etwas mangelhaft. Aber dem Sinn nach begriff er, dass er in Jay-Jay eine Gefährtin fürs Leben gefunden hatte, die für ihn töten würde.
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