Kitabı oku: «Dyslexie, Dyskalkulie», sayfa 2
Im Schatten des Erfolgs
Luca wirkt zurückhaltend, er ist jedoch nicht schüchtern. Ein Draufgänger ist der junge Mann nicht, die dunklen Augen blicken ernst in die Welt, aber er scheint zu wissen, was für ihn richtig und wichtig ist, wie er seinen Weg gehen will. Seit zwei Jahren besucht der 20-jährige in Lausanne eine technische Berufsschule für Polymechaniker. Hin und wieder stolpere er noch über ein Wort, mehrheitlich gehöre seine Legasthenie der Vergangenheit an, erklärt er. Wir sitzen im väterlichen Büro mit Blick auf den Genfersee, der in der Ferne schimmert und glitzert. Der Aussicht widmet der junge Waadtländer wenig Aufmerksamkeit, sie ist eher nach innen gerichtet oder auf das Mobiltelefon. «Die Legasthenie hat Lucas Kindheit schwierig gemacht, freudlos zuweilen», bestätigen Vater und Sohn. Sie hätte weit unbeschwerter sein können, weil es an entsprechender Unterstützung oder einem hilfsbereiten familiären Hintergrund nicht fehlte. Der Vater hat sich oft Zeit genommen, mit dem Sohn zu üben, die Hausaufgaben gewissenhaft zu machen, sozusagen nochmals zusätzlicher Schulunterricht zu Hause. Die Mutter arbeitet als Sportlehrerin, und auch sie hat ihm beim Schulstoff geholfen. Anders als Eltern, die keine Zeit oder Möglichkeit haben, den Kindern mit Schulproblemen die entsprechende Hilfe zu gewähren, so wie es der Vater aus seiner Berufspraxis kennt. Etwas unerwartet waren wohl Lucas schulische Schwierigkeiten für die ganze Familie. Man wurde ins kalte Wasser geworfen, vererbt sei das wohl gar nicht, niemand habe je unter Legasthenie gelitten. Und auch die kleine Schwester, die als Eiskunstsportlerin glänzt, ist davon nicht betroffen.
Was Luca mitbrachte, nämlich seine Intelligenz, sagt sein Vater, die hätte ihm ein lockeres Lernen ermöglichen sollen. Trotzdem war der Sohn in der Primarschule nicht glücklich, so viel mögen alle beide zugeben. Luca mochte zwar seine Lehrerin in der ersten Klasse, weil sie viel Verständnis für ihn und seine Leseschwierigkeiten gehabt hatte. «Sicherlich, weil sie selbst einen behinderten Sohn zu Hause hatte», ergänzt Luca. Offensichtlich sieht Luca im Rückblick ihr Einfühlungsvermögen darin begründet, dass sie Erfahrung hatte mit Behinderungen und es sich auch bei ihm, bei seinem Unvermögen, gut und fehlerfrei zu schreiben und zu lesen, um eine solche handelte. Zwar war und ist im Zusammenhang mit seiner Dyslexie von einer Behinderung in Lucas Elternhaus keine Rede. Jedoch ohne nachhaltige Blessuren scheint seine Schulzeit nicht vorübergegangen zu sein, sonst hätte er wohl diesen Zusammenhang gar nicht hergestellt.
Luca wirkt ein bisschen verhalten, auch wenn heute keine Zweifel an seinen Fähigkeiten bestehen. Natürlich gehören Fremdsprachen, wie etwa Deutsch und Englisch, nicht zu seinen Lieblingsaktivitäten. Und Auskunft zu geben über etwas, was für ihn weit zurückliegt, scheint ihm nicht sonderlich zu gefallen.
Vater und Sohn erinnern sich an früher und dass es zuweilen der Beziehung nicht förderlich war, wenn zu Hause nochmals schulmässig alles das repetiert werden musste, was untertags nicht funktionierte. Das hat den Eltern keinen Spass gemacht, dem ungestümen Schüler natürlich auch nicht. Es galt, Ventile zu finden für Frustrationen und Sich-nicht-verstanden-Fühlen. Man fühle sich dabei sehr einsam, sowohl als betroffenes Kind als auch als Eltern, erinnern sich beide. Es sei manchmal wirklich eine Art Teufelskreis, erklärt der Vater, man möchte dem Kind helfen, aber es bewegt sich im Kreis. Vielleicht muss man manchmal mit einem legasthenen Familienmitglied die Sache auf sich beruhen lassen und dem jungen Menschen Zeit lassen, seine wahren Interessen und Fähigkeiten selbst zu entdecken?
Momentan ist Lucas Wochenprogramm sehr voll, er ist in ganz verschiedenen Gebieten engagiert. «Er scheint beliebt zu sein und ist immer irgendwo unterwegs», erklärt sein Vater. Er betont, dass man eigentlich unterdessen das Thema Legasthenie nicht mehr gross beachte. Illusionen habe er keine, grinst Luca, eine akademische Karriere ziehe er nicht in Betracht, und er träumt auch nicht davon, Astronaut zu werden. Ingenieur vielleicht? Dass es mit einem Studium an der Fachhochschule noch klappen kann, dafür ist sicher eine ihm eigene Beharrlichkeit verantwortlich. Luca erklärt, dass er erst mal im Militär weitermachen werde, aber sicher nicht so weit wie sein Vater, der Oberst geworden sei, sondern höchstens bis zum Hauptmann. Jetzt lächelt er, Sport ist ihm wichtig, er schwimmt jede Woche zwei bis drei Mal. Betrachtet er sich selbst als zu wenig ehrgeizig in einer Familie, in der es alle weit brachten? Nein, er geht seine berufliche Zukunft in seinem eigenen Tempo an, Schritt für Schritt, und pflegt seine Hobbys.
Luca ist seit acht Jahren in einem Improvisationstheater engagiert. Ausgerechnet Theater, bei dem es so sehr auf die Sprache ankommt und die Schnelligkeit. Doch da fühlt sich Luca wohl, und er widmet sich dem Theater mit viel Herzblut. Er fühle sich nicht mehr gehindert, habe gelernt, mit Sprache umzugehen, erklärt er, das Theater bedeute ihm viel. Offensichtlich braucht er diese Herausforderung, einem Hobby nachzugehen, das zur Passion geworden ist und das mit Sprache zu tun hat. Nach dem Gespräch schlendert Luca, Kappe auf den dunklen Haaren, sichtlich erleichtert seinem Feierabend entgegen, wo ihn niemand fragt, was es mit seiner Legasthenie auf sich hat, wo er seine Kreativität und die körperliche Kraft ausleben kann: im Schwimmbad und auf der Bühne.
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Recht auf Bildung und Entfaltung der Persönlichkeit
Prof. Dr. Judith Hollenweger, Pädagogische Hochschule Zürich
1.1 Sicherung von Bildungschancen
Bereits seit mehr als zwanzig Jahren ist das Recht auf Bildung für alle Kinder und Jugendliche in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen verankert. Die in der Schweiz noch nicht ratifizierte Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen fordert, dass die Vertragsstaaten ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen gewährleisten mit dem Ziel, «Menschen mit Behinderungen ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung bringen zu lassen»1 (Artikel 24, Abschnitt 1). Die Bildungssysteme mit ihren Gelegenheitsstrukturen und Regelsystemen eröffnen den Schülerinnen und Schülern Bildungschancen – können diese aber auch verschliessen.2
Bildungssysteme haben aber auch dafür zu sorgen, dass die nächste Generation auf die Teilhabe an allen gesellschaftlichen Subsystemen vorbereitet ist. Hier von besonderer Bedeutung ist die Aufgabe der Qualifikation respektive die Entwicklung von berufsrelevanten Fähigkeiten (Subsystem Wirtschaft). Bildungssysteme qualifizieren und befähigen junge Erwachsene immer auch abgestimmt auf die Anforderungsprofile des Beschäftigungssystems. Dieses verlangt heute immer mehr nach gut qualifizierten Fachleuten, die sich in unserer Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft leicht orientieren können.3 Ins Zentrum rücken Schlüsselkompetenzen,4 welche weniger auf eine spezifische berufliche Tätigkeit vorbereiten, sondern sichern sollen, dass die Schulabgängerinnen und -abgänger fähig sind, sich in einer flexibilisierten Berufswelt zurechtzufinden und ihr Leben lang weiterzulernen. Gemäss dem DeSeCo-Projekt der OECD können solche Schlüsselkompetenzen in drei Kategorien gefasst werden: (1) Fähigkeit, verschiedene Medien, Hilfsmittel und Werkzeuge sowie die Sprache wirksam einzusetzen, (2) Fähigkeit, mit Menschen aus verschiedenen Kulturen in einer vernetzten Welt umzugehen und in sozial heterogenen Gruppen zu interagieren, sowie (3) Fähigkeit, Verantwortung für die eigene Lebensgestaltung zu übernehmen und eigenes Leben in grösseren Kontext zu situieren und eigenständig zu handeln.5
Bildungssysteme dienen jedoch auch der Reproduktion respektive der Weiterentwicklung der gesellschaftlichen Sozialstruktur, die sich auch in den verschiedenen beruflichen Positionen mit unterschiedlichem Anforderungsniveau widerspiegelt. Anders ausgedrückt: Bildungssysteme verteilen die Bildungs- und Berufschancen ungleich an die nächste Generation. Die Schule begrenzt diese mittels Prüfungen und Zulassungsbedingungen und nimmt so aktiv Einfluss auf die schulischen und beruflichen Laufbahnen. Fend (2008, S. 50 ff.) spricht hier von der Allokationsfunktion des Bildungswesens und fordert eine offene und leistungsgerechte Praxis. Zugang zu höheren Ausbildungsgängen soll somit aufgrund der Leistungen respektive der Leistungsfähigkeit erfolgen und nicht zum Beispiel aufgrund der sozialen Herkunft. Dass diese Forderung noch nicht in die Praxis umgesetzt ist, zeigen etwa Studien aus Deutschland. Dort müssen Kinder aus bildungsfernen Familien vergleichsweise höhere Kompetenzen und eine höhere Motivation aufweisen als Kinder aus bildungsnahen Familien, um eine Gymnasialempfehlung zu erhalten.6 Heutige Bildungssysteme müssen zudem für Durchlässigkeit und Anschlussfähigkeit sorgen, sodass frühe Bildungsentscheide revidiert werden können. Auf Sekundarstufe II (Kopenhagen-Prozess) und Tertiärstufe (Bologna-Prozess) werden in Europa gegenwärtig grosse Anstrengungen unternommen, um die Durchlässigkeit und Vergleichbarkeit von Abschlüssen und/oder Qualifikationen zu verbessern.7 Ebenfalls bemühen sich viele europäische Länder darum, informell erworbene Kompetenzen bei der weiteren Qualifikation zu erfassen und anzuerkennen. Das deutsche Jugendinstitut hat hierzu zusammen mit weiteren Partnern einen Interviewleitfaden entwickelt.8 Die Flexibilisierung der Berufsbildung birgt gemäss Biermann (2005) neben Chancen auch einige Risiken.
Wie Fend (2008) ausführt, hat das Bildungswesen sowohl eine gesellschaftlich-kulturelle Reproduktions- und Innovationsaufgabe als auch die Funktion, individuelle Handlungsfähigkeit herzustellen, «die sich in Qualifikationserwerb, Lebensplanung, sozialer Orientierung und Identitätsbildung entfaltet» (ebd., S. 23). Für die Sicherung der Bildungschancen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Dyslexie oder Dyskalkulie in allgemeinbildenden oder berufsbildenden Ausbildungsgängen auf der Sekundarstufe II und der Tertiärstufe stellen sich primär Fragen zu adäquaten Qualifizierungsmöglichkeiten und zu gerechten Zulassungsmechanismen. Welche Gelegenheitsstrukturen (Angebote, Unterstützungsmöglichkeiten) sind erforderlich, damit notwendige Kompetenzen und erforderliche Fähigkeiten erworben werden können? Welche Regelsysteme (Zulassungen, Berechtigungen) braucht es, um den Zugang zu höheren Ausbildungsgängen zu erhalten und diese erfolgreich abzuschliessen? Zur Sicherung der Bildungschancen der betroffenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind sowohl besondere Überlegungen zur Förderung und Unterstützung als auch zur Vermeidung von Diskriminierungen und Benachteiligungen notwendig. Im Folgenden soll kurz geschildert werden, welche Entwicklungen gegenwärtig in diesen Bereichen im europäischen Raum und in der Schweiz zu beobachten sind.
1.2 Unterstützungssysteme auf Sekundarstufe II und Tertiärstufe
Die schulische Sonderpädagogik ist fast ausschliesslich auf die Volksschule ausgerichtet und hat sich bisher kaum mit der postobligatorischen Bildung auseinandergesetzt. Bereits auf Sekundarstufe I werden seitens des Bildungssystems nur noch wenige Stütz- und Fördermassnahmen angeboten. So erhielten etwa im Kanton Zürich im Schuljahr 2008/2009 auf der Unterstufe von 100 Lernenden 1,4 Kinder eine Legasthenie- und ein Kind eine Dyskalkulietherapie, während im gleichen Schuljahr nur 0,3 respektive 0,1 Lernende der Sekundarstufe I diese Massnahmen besuchten.9 Die Sekundarstufe I ist in der Schweiz nach Leistungsniveaus gegliedert, und generell wird davon ausgegangen, dass man damit den unterschiedlichen Lernbedürfnissen der Schülerinnen und Schüler gerecht werden kann. Kinder und Jugendliche mit schweren Behinderungen werden auch heute noch mehrheitlich in Sonderschulen unterrichtet, trotz internationalem Druck zur Umsetzung integrativer respektive inklusiver Schulangebote. Wegen dieser starken Ausrichtung auf die Volksschulzeit besteht heute in den Mittelschulen des Kantons Zürich nach der Vollendung der obligatorischen Schulzeit kein vergleichbarer Rechtsanspruch mehr auf staatliche Beiträge für Stütz- und Fördermassnahmen. Auch die neue interkantonale Vereinbarung im Bereich der Sonderpädagogik orientiert sich an der obligatorischen Schulzeit, obwohl die Berechtigten zwischen 0 und 20 Jahre alt sein können. In den kommenden Jahren wird sich zeigen, wie die Kantone diese neuen Vorgaben umsetzen werden. Berufsfachschulen hingegen können bereits heute aufgrund des Berufsbildungsgesetzes (Art. 21 Abs. b und c) besondere Angebote zur Verfügung stellen, etwa mittels Stützkurse. Insbesondere im Berufsbildungsbereich wurden in den letzten Jahren viele Initiativen gestartet, um die Situation von Jugendlichen mit Behinderungen oder Lernschwierigkeiten zu verbessern. Allerdings muss festgestellt werden, dass dabei spezifische Massnahmen (z.B. Nachteilsausgleich, Hilfsmittelangebote) bei Dyslexie und Dyskalkulie nicht genügend berücksichtigt wurden.
Auf der Tertiärstufe lässt sich heute eine sehr heterogene Praxis beobachten; einige Hochschulen führen bereits seit vielen Jahren Beratungsstellen für Studierende mit Behinderungen – zum Beispiel die Universität Zürich –, andere verfügen über keine institutionell verankerte Praxis und sind kaum sensibilisiert. Aufgrund der Ergebnisse einer Studie zur Situation von Menschen mit Behinderungen an Schweizer Hochschulen10 besteht weiterhin grosser Handlungsbedarf bezüglich der fehlenden Dienstleistungen und Hilfsmittel sowie bei der Vermeidung von Benachteiligungen. Heute lässt sich beobachten, dass Hochschulen vermehrt Fragen zum Umgang mit Behinderungen unter dem Stichwort «Diversity Management» diskutieren.11 Gemeint ist damit die Entwicklung einer umfassenden Strategie, welche auf die gesamte Diversität an Hochschulen – ob bezüglich Geschlecht, Herkunft, Sprache, Kultur oder Behinderung – ausgerichtet ist.
Neben den Ausbildungsstätten und den für sie verantwortlichen Stellen bei Bund und Kantonen spielt die Invalidenversicherung eine wichtige Rolle bei der Bereitstellung von Unterstützungsangeboten und Hilfsmitteln. Gemäss der Verordnung über die Invalidenversicherung (IV) haben Jugendliche und junge Erwachsene mit Eintritt in die erstmalige berufliche Ausbildung Anspruch auf Unterstützungsleistungen der IV – vorausgesetzt, sie werden gemäss den Vorgaben der IV als «invalid» und somit anspruchsberechtigt erachtet. Als erstmalige berufliche Ausbildung gelten neben Berufslehren auch der Besuch einer Mittel-, Fach- oder Hochschule. Entschädigt werden Mehrkosten, die durch die Invalidität entstehen. Dazu gehören: Aufwendungen für die Vermittlung der erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten, die Kosten für persönliche Werkzeuge und Berufskleider sowie die Transportkosten. Die Invalidenversicherung geht davon aus, dass solche Einzelmassnahmen adäquat sind; Fragen zu Bildungschancen, lebenslangem Lernen oder Recht auf Bildung können unter der Perspektive von Versicherungsleistungen nicht bearbeitet werden.
Von grosser Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Art und Weise, wie eine Bedarfsabklärung durchgeführt wird. Nur wenn Behinderung als das Ergebnis der Interaktion zwischen bestimmten Charakteristiken der Umwelt und der Person verstanden wird, fliessen Überlegungen zu Anpassungen der Umwelt in die Bedarfsfeststellung ein. Wie im nächsten Kapitel dargelegt werden soll, ist ein adäquates Verständnis von «Behinderung» eine wichtige Voraussetzung, um diese Analyse vornehmen zu können. Der Bedarf für Massnahmen oder Anpassungen kann sowohl beim Auszubildenden als auch bei den Ausbildenden – respektive den Schulen – liegen. Liegt der Bedarf bei der auszubildenden Person, ist es zudem wichtig, zwischen einem eigentlichen Förderbedarf und einem Bedarf an Beratung oder Assistenz zu unterscheiden. Gerade im Jugendalter kann das Vermitteln von Copingstrategien oder Beratungsangeboten sinnvoller sein als das Absolvieren von Förderprogrammen.
1.3 Zuweisungs- und Selektionssysteme auf Sekundarstufe II und Tertiärstufe
Mit dem Abschluss der Volksschule treffen Entscheidungen zur weiteren Ausbildung mit Fragen zur Berufswahl zusammen. Die Allokationsfunktion des Bildungssystems konkretisiert sich beim Übergang von der Sekundarstufe I zur Sekundarstufe II und hinterlässt Spuren für das ganze Leben. Mit der Berufswahl und dem Suchen einer Lehrstelle oder dem Übertritt in eine Mittelschule werden wichtige Weichen gestellt für die spätere Berufsausübung. Da die berufliche Stellung heute zentral ist für die Lebensführung, ist sie gleichzeitig auch ein wichtiges Instrument für die Lebensplanung.12 Es ist wenig darüber bekannt, welche Faktoren genau bewirken, dass junge Menschen mit Behinderungen häufiger bei diesen Übergängen scheitern. Die verfügbaren Daten im europäischen Vergleich13 weisen auf tiefere Abschlussquoten auf der Sekundarstufe II und eine Überrepräsentation in berufsbildenden Angeboten mit tiefen Qualifikationsansprüchen aus. Auf der Grundlage verfügbarer Daten ist es aber nicht möglich, generalisierte Aussagen zur Bedeutung bestimmter Störungsbilder, wie etwa Dyslexie oder Dyskalkulie, auf die schulische und berufliche Laufbahn zu machen.
In der Schweiz wächst erst langsam das Bewusstsein, dass das Regelsystem des Bildungswesens Jugendliche und junge Erwachsene aufgrund ihrer Behinderung systematisch benachteiligen könnte. Bisher hat sich der Diskurs eher auf Fragen der sozialen Selektivität des Bildungssystems konzentriert.14 Die Sonderpädagogik konzentriert sich vorwiegend auf Fragen zur besonderen Unterstützung und Förderung und beschäftigt sich gemäss eher gesellschaftskritischen Autoren15 zu wenig mit Diskriminierungsprozessen der Schule. Da Förderentscheide immer Folgen einer Identifikation aufgrund eines Defizits sind und Betroffene gesonderten Massnahmen zuführen, können auch diese benachteiligend wirken. Es gibt Hinweise darauf, dass eine Identifizierung als «behindert» dazu führt, dass Lehrpersonen tiefere Leistungserwartungen haben,16 was sich insbesondere bei Laufbahnentscheiden negativ auswirken kann. Förderentscheide zugunsten einer Sonderschulung sind gleichzeitig Laufbahnentscheide, die oft den Zugang zu höheren Ausbildungsgängen verbauen.17
Bedingt durch die lange Tradition der gesonderten Förderung, die aus dem Regelunterricht ausgelagert wird, ist das reguläre Bildungssystem ungeübt im Umgang mit Behinderungen. Ohne gute Koordination verschiedener Dienstleistungen und ohne eine Begleitung im Übergang zur Berufsausbildung oder zu weiterführenden Schulen kann es so leicht zu Überforderungssituationen kommen. Welche Unterstützungen und Anpassungen wie angeboten werden, hängt dann oft von einzelnen Personen ab. Eine fehlende rechtliche Absicherung und somit eine grosse Abhängigkeit vom Wohlwollen der Entscheidungsträger muss als problematisch eingeschätzt werden.18 In den letzten Jahren wurden durch das in der Bundesverfassung verankerte Gleichbehandlungsgebot und den gesetzlichen Auftrag zur Beseitigung der Benachteiligung von Behinderten zwar die erforderlichen rechtlichen Grundlagen geschaffen, doch fehlt es noch an einer breiten Umsetzung durch eine entsprechende Rechtsprechung. Der Beitrag von Hördegen und Richli im dritten Kapitel dieses Buches ist unter dieser Perspektive von grosser Bedeutung. Es bleibt zu hoffen, dass die Rechte von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in den kommenden Jahren vermehrt in der schulischen Zuweisungs- und Prüfungspraxis berücksichtigt werden.
Der Umgang mit Behinderungen ist in Bildungssystemen auch deshalb so schwierig, weil sich je nach Schädigung und deren Ausprägung andere Fragen stellen – sowohl bezüglich Förderung als auch bei Entscheidungen zur schulischen und beruflichen Laufbahn. Obwohl die Wissensbestände sowohl zu Förder- und Unterstützungsmassnahmen als auch zu Nachteilsausgleich und Gleichstellungsmassnahmen heute gross sind, muss sich auf diesen Grundlagen erst eine gemeinsame Praxis entwickeln, bevor sich die Situation der betroffenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen tatsächlich verbessert.
Professionell durchgeführte Bedarfsabklärungen und «Massnahmen am Individuum» genügen hier nicht, um diskriminierende Bildungsentscheide zu vermeiden. Die Anforderungen, welche Ausbildungsgänge der Sekundarstufe II und der Tertiärstufe an Jugendliche und junge Erwachsene stellen, müssen systematisch mit ihren behinderungsbedingten Lernvoraussetzungen verglichen werden können. Erst auf dieser Grundlage kann abgeschätzt werden, wo Unterstützung des Betroffenen und wo Adaptationen bei den Vorgaben oder Angeboten des Ausbildungsgangs angesagt sind. Damit diese Analyse gelingen kann, gilt es als Erstes zu sichern, dass ein gemeinsames, für Bildungssysteme nützliches Verständnis von Behinderungen aufgebaut werden kann, das sowohl für die Betroffenen selbst, für Personen in den Ausbildungsgängen als auch für Spezialistinnen und Spezialisten relevant ist. Dies ist eine wichtige Grundlage für die Etablierung eines konstruktiven Diskurses über Aufgaben, Verantwortung und Entwicklungsbedarf des Bildungssystems. Im nächsten Abschnitt soll deshalb der Frage nach einem adäquaten Verständnis von «Behinderungen» nachgegangen werden.