Kitabı oku: «Dyslexie, Dyskalkulie», sayfa 4
Lena will etwas erreichen
Die 25-Jährige hat Power, das merkt man sofort. Lena ist eine kommunikative und aktive junge Frau, die weiss, was sie will. Sie wolle sich selbst verwirklichen, ihren Träumen folgen und beharrlich ihren eigenen Weg gehen, sagt sie. Als Berufstätige mit Dyslexie hat sie nicht die idealen Voraussetzungen für einen Büroberuf, das ist ihr klar, aber sie hat es trotzdem in die Kundenberatung eines Telekommunikationsunternehmens geschafft. Nebenher bereitet sie sich auf den KV-Abschluss vor. Leicht fällt ihr das alles nicht, aber Lena ist zielstrebig. Und sie sagt von sich, dass sie sich zu Worte melde, auch laut sein könne. Wenn etwas nicht stimmt, dann spricht sie das an, benennt, was es braucht, damit sie sich gut entfalten kann. Lena kann sich arrangieren, wenn die Dinge nicht so perfekt sind, wie sie es gerne hätte. Die Grossraumbüros sind nicht ideal für sie, der Lärm stresse sie manchmal sehr. «Wenn mir das Geschwätz zu arg wird, lege ich einfach die Kopfhörer über die Ohren, dann geht’s». Lena lebt positiv, sie balanciert zwischen dem Annehmen, was da ist, und dem Verändern, was nicht passt, sodass sie sich wohlfühlt.
Lena hatte das Glück, dass sie in der Primarschule unterstützende und wohlwollende Lehrkräfte hatte, die ihr Ratschläge gaben und die Fehler, die sich ständig wiederholten, nicht mehr als Fehler anstrichen. Vor allem denkt Lena gerne an ihre Legasthenie-Therapeutin zurück. Stolz zeigt sie die Hefte, die sie mit ihr erarbeitet hat, weil sie gegen ihre Dyslexie nicht ankämpfen, sondern sie bewältigen wollte. Eine kreative, bunte Sammlung von hilfreichen Tipps, wie sie als Schülerin die wiederkehrenden Fehlerquellen erkennen und vermeiden kann, sind in den Heften gesammelt: spielerische Übungen, die aufzeigen, dass mit Liebe und Verständnis sehr wohl etwas erreicht, ja sogar Freude am Lernen vermittelt werden kann. Oft habe sie sich natürlich ausgeweint bei der Therapeutin, weil sie unglücklich war, wenn es einfach nicht klappen wollte in der Schule, erinnert sich Lena. Bis heute ist sie dankbar, dass diese Frau ihr so viel mit auf den Weg gegeben hat. Lena ist die Einzige in ihrer Familie mit Dyslexie, ihre Eltern standen ihr bei, so gut sie es konnten. Der Vater schien ein gutes Vorbild zu sein, dass man sich aus einem einfachen Beruf zu einer Wunschposition hinaufarbeiten kann. Lena ist geborgen in ihrer Familie, man lacht viel und schätzt sich. Trotzdem scheint für sie die Zeit zu kommen, die Flügel alleine ausbreiten zu wollen. Sie möchte nach dem Lehrabschluss ausziehen und eine eigene Wohnung beziehen.
Ihrer Kreativität und ihrem technischen Flair entsprechend, machte Lena eine Lehre als Fotofachangestellte. «Da muss man nicht schreiben», erklärt sie ihren Entscheid. Ihr Chef sei sehr motivierend gewesen, und auch die «Oberstiftin» habe ihr viel geholfen. Der Erfolg einer Legasthenikerin habe sehr viel mit dem Umfeld zu tun, mit den Vorgesetzten, wie man mit dem Problem umgehe, behauptet sie. Lena schätzte das Wohlwollen, dass ihr der Lehrmeister entgegenbrachte. Ihre künstlerischen Ambitionen konnte sie im Fotofachgeschäft ausleben. Man gewährte Lena nebst der Ausbildung Raum und Zeit, sich im Komponieren von Kunstfotografien zu versuchen. Lena genoss den künstlerischen Freiraum, ihre Lust am Experimentieren drückte sie mit fantasievollen Stillleben aus. Das Gelernte, sowohl die gestalterische als auch die fachliche Kompetenz, nutzt sie heute für sich privat. «Kreativ bin ich gerne für mich, es ist mir völlig egal, ob anderen meine Bilder gefallen. Und es ist befreiend, ein Fernziel habe ich jedoch dabei nicht.»
Nach dem erfolgreichen Abschluss ihrer ersten Lehre hat es Lena, die sehr gerne reist und Sprachen mag, ins Ausland gezogen. Zuerst hat sie Französisch gelernt, dann in Italien als Kinderanimatorin in einem Hotel gejobbt. Auf Malta liess sie sich in die Tücken der englischen Sprache einweihen. Für das First Certificate werde sie problemlos eine Sonderregelung erhalten, erklärt sie – und natürlich die Prüfung bestehen. Etwas Unterstützung und gewisse Erleichterungen für Menschen, denen das Schreiben schwerfällt, findet sie, würden das Leben sehr viel einfacher machen. Darum kämpft sie am Arbeitsplatz für faire Regelungen. «Arbeitgeber könnten uns das Leben sehr oft erleichtern, wenn sie endlich einsehen würden, dass die Legasthenie nichts mit mangelnder Intelligenz zu tun hat, man ist nicht dümmer oder weniger fähig, nur weil es mit der Rechtschreibung nicht klappt», weiss sie aus ihrer Erfahrung.
Lena hat Pläne, sie wird – nachdem sie die jetzige Arbeitsstelle vor drei Jahren angenommen hat – ihren KV-Abschluss machen. Und sich dann umsehen, wo sie ihre vielfältigen Fähigkeiten einsetzen kann. Eine Tätigkeit in der HR-Abteilung, Human Resources, früher Personalabteilung genannt, beispielsweise, das würde sie interessieren. Mit ihrer Sensibilität für das Wesentliche in einem Menschen wäre sie bestimmt geeignet, die tatsächlichen Fähigkeiten einer Bewerberin oder eines Bewerbers zu erkennen. Sie ist überzeugt, dass nicht nur Papiere und Zeugnisse eine Rolle spielen, sondern die Stärken jedes einzelnen Menschen beachtet werden sollten.
Fasziniert ist Lena auch von der Kreativbranche. Hat sie erst mal ihren Abschluss in der Tasche, für den sie in ihrer Freizeit lernt und an einem Tag in der Woche die Schule besucht, stehen ihr sicherlich viele Türen offen. An ihre Umwelt hat sie Ansprüche und formuliert das auch: «Man soll uns Legastheniker für voll nehmen, respektieren. Wenn wir halt ein Formular nicht schnell und absolut fehlerfrei ausfüllen können, heisst das noch lange nicht, dass wir dumm sind», sagt sie kämpferisch. «Ich hab’s x-mal erlebt, dass man aufgrund meiner Legasthenie – und im Rechnen bin ich auch nicht grossartig – nicht an mich glaubt, statt mir einfach mal eine Chance zu geben. Sogar Leute aus der eigenen Verwandtschaft haben mir eigentlich wegen meiner Schreibschwäche wenig zugetraut. Doch meine Familie glaubte immer an mich, unterstützt mich, dafür bin ich sehr dankbar. Ich werde garantiert meine Ziele erreichen.»
2
Zur Neuropsychologie von Dyslexie und Dyskalkulie
Rahel Weisshaupt und Hennric Jokeit
2.1 Prozesse im Gehirn: Die Entwicklung schriftsprach- und zahlenverarbeitender Hirnfunktionen
2.1.1 Was muss das Gehirn beim Lesen und Schreiben leisten?
Gute Leserinnen und Leser erfassen die Bedeutung eines Wortes in wenigen Bruchteilen einer Sekunde. Was dabei im Gehirn passiert, kann man heute mit aufwendiger Technik und ausgeklügelten Versuchsanordnungen verfolgen. Was muss das Gehirn alles leisten, um ein Wort richtig zu lesen?
Natürlich müssen die Buchstaben scharf auf der Netzhaut der Augen abgebildet werden. Weiterhin müssen beide Augen dieselben Buchstaben fixieren. Blickbewegungen müssen genau auf aufeinanderfolgende Wortteile und Wortgruppen gerichtet werden, um sie fliessend lesen zu können. Das sind Basisleistungen zur Erkennung eines Buchstabens oder Wortes und dessen Position in einer Folge von Buchstaben oder Wörtern. Um welchen Buchstaben es sich handelt und wo er steht, wird zumindest bei Kindern, die lesen lernen, in unterschiedlichen Hirnregionen verarbeitet. Hinzu kommt, dass Lesen nicht gleich Lesen ist. Unbekannte oder seltene Wörter wie Desoxyribonucleinsäure und Nolimetangere werden vom Gehirn anders verarbeitet als bekannte wie Bahnhof und Mond. Wörter, die uns häufig begegnen, sind in einem grafischen Wortgedächtnis abgelegt. Anhand weniger Merkmale, z.B. der «Skyline» eines Wortes (vgl. Abbildung 3 unten), der Länge und charakteristischen Buchstabenkombinationen können Wörter als Bild innerhalb weniger hundert Millisekunden korrekt erkannt werden. Man spricht vom Lesen auf der Wortebene, das sich vom buchstabierenden Lesen unterscheidet. Beim buchstabierenden Lesen wird zunächst die Lautstruktur des Wortes analysiert, dann aus den Einzellauten die Lautform des ganzen Wortes gebildet und schliesslich von der Wortform auf die Wortbedeutung geschlossen. Beim Lesen des Wortes Desoxyribonucleinsäure könnte dies so erfolgen: Des-oxy-ri-bo-nu-cle-in-säure. Auch bei guten Leserinnen und Lesern kann man die buchstabierende Form des Lesens durch Störung des Zugriffs auf das Wortformgedächtnis behindern, z.B. so: bAhNhOf.
Schon während die Grundlagen des Lesens vermittelt werden, d.h. die Laut-Buchstaben-Zuordnung, wird schrittweise ein grafisches Wortformlexikon aufgebaut. Mehr und mehr Wörter können ganzheitlich und damit schnell erkannt werden. Unbekannte Wörter, und das sind für ein Kind, das lesen lernt, die meisten, müssen lautierend, d.h. Buchstabe für Buchstabe, erlesen werden. Das Lesen kann also auf zwei Wegen erfolgen. Mit zunehmender Automatisierung wird das lautierende Lesen durch das schnelle Wortbilderkennen abgelöst. Beide Prozesse greifen über unterschiedliche Regionen im Gehirn auf die gespeicherte Bedeutung und die motorischen Programme der Aussprache und des Schreibens zu.
2.1.2 Wie kommen Zahlen in den Kopf, und wie werden sie verarbeitet?
Das Rechnen erfordert eine Vielzahl von Teilprozessen, welche ein Zusammenspiel vielfältiger neuropsychologischer Funktionen voraussetzt. Wenn wir uns z.B. die Rechnung 5 + 12 vor Augen führen, stellen wir fest, dass wir zu deren arithmetischer Verarbeitung die Zahlen (und Rechenzeichen) zuerst einmal in der jeweiligen Notation erkennen, lesen und verstehen können müssen. Neben einem Zahlenverständnis müssen wir also auch auf ein Wissen über Rechenfakten und mathematische Inhalte wie auch über Rechenprozeduren, die in unserem Gedächtnis gespeichert sind, zurückgreifen können. Das Rechnen und Lösen von Rechenaufgaben beinhaltet daher eine Verarbeitung von Zahlen (Lesen, Schreiben, Vergleichen arabischer Zahlen usw.) und ein im Gedächtnis gespeichertes arithmetisches Faktenwissen (Rechenfertigkeiten wie Addition, Subtraktion, kleines Einmaleins usw.). Es ist erforderlich, dass wir die Zahlen mental in verschiedenen Kodes repräsentieren und von einem Zahlen- bzw. Notationsformat in ein anderes umwandeln («transkodieren»). Die Ausführung von solchen Transkodierungs- und Rechenprozessen erfordert viele kognitive Ressourcen, so z.B. eine gute Aufmerksamkeit und intakte Arbeitsgedächtnis- und Problemlöseprozesse.
Anhand sogenannter Zahlwortsysteme müssen wir zuerst die Anzahleigenschaften («5+12») entschlüsseln und in ihre begriffliche Bedeutung, d.h. in genau festgelegte Folgen von Zahlwörtern («fünf plus zwölf»), übersetzen. Die Zahlwortsysteme unterscheiden sich bei der Bezeichnung einer grösseren Zahl in verschiedenen Sprachen. In Abhängigkeit der Art der Konstruktion der einzelnen Zahlwortelemente liest man in der deutschen Sprache beispielsweise 83 als «dreiundachtzig» (3+80), auf Englisch «eighty-three» (80+3), auf Französisch «quatre-vingt-trois» (4×20+3).
Dabei heisst es: Je grösser und komplexer die Zahl, desto komplizierter wird es: Während wir bei einfachen Berechnungen wie sieben plus fünf oder zwei mal vier auf auswendig gelerntes, automatisiertes, sprachlich gespeichertes Wissen zurückgreifen, müssen wir bei schwierigeren, mehrstelligen Rechnungen oder beim Schätzen von Rechenergebnissen zusätzlich noch fähig sein, die Zahlen vor unserem inneren Auge visuell-räumlich zu repräsentieren. Dazu dient offenbar eine mentale Zahlenlinie, auf der wir Zahlen auf einer Art innerer Vergleichsgrösse einordnen und so Schätzungen und numerische Beziehungen von Zahlen feststellen können. Müssen wir z.B. einschätzen, welche der beiden Zahlen 83 oder 38 grösser ist, so lokalisieren wir die Zahlen auf dem inneren Zahlenstrahl und entscheiden dann entsprechend ihrer räumlichen Distanz zueinander.
Das von Dehaene formulierte Triple-Code-Modell umfasst genau diese unterschiedlichen Repräsen-tationsformen, die zur Zahlen- und Mengenverarbeitung sowie zum Rechnen benötigt werden, und gilt heute als zentraler Bezugspunkt.1 Darin beschreibt Dehaene drei miteinander verbundene neuronale Netzwerke (sogenannte Module), welche entsprechend ihren Eigenschaften und Funktionen im Zahlensystem in unterschiedlichen Regionen des Gehirns lokalisiert sind (vgl. Abbildung 4). Diese drei Funktionseinheiten sind nicht getrennt, sondern interagieren während der Zahlenverarbeitung miteinander. Das Modul der visuell-arabischen Zahlenform ist für die Verarbeitung von arabischen Zahlen, d.h. das Lesen und Schreiben von Zahlen in Zifferform, verantwortlich («13»). In der verbalen (phonologischen) Repräsentation werden gesprochene und geschriebene Zahlwörter transformiert und verarbeitet («dreizehn»). Hier sind auch arithmetische Fakten sowie Zählprozesse und -prozeduren (z.B. Additions- und Multiplikationsfakten) verankert. Das dritte Modul der analogen Grössenrepräsentation ist nach Dehaene Ausdruck eines angeborenen Zahlensinns und dient der Erfassung von Mengen in ihren Mächtigkeiten, dem Schätzen und der Beurteilung von numerischen Beziehungen. Ist nun eine Teilkomponente gestört oder beeinträchtigt, kann es zu ganz unterschiedlichen Teilausfällen und damit Fehlern kommen. Auf diesen theoretischen Überlegungen basiert auch die Subtypendifferenzierung nach von Aster. So können Rechenschwierigkeiten zum Beispiel visuell-räumliche, d.h. nonverbale Ursachen haben oder aber andererseits in verbalen Defiziten begründet sein, was auch gut erklären könnte, warum bei einigen Betroffenen mit einer Dyskalkulie auch noch eine Dyslexie zu beobachten ist.
2.2 Wann spricht man von einer Dyslexie oder Dyskalkulie?
Dyslexie und Dyskalkulie gehören nach der internationalen Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation WHO (Internationales Klassifikationsschema psychischer Störungen, ICD-10) zu den umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten. Zur Diagnose gibt die WHO sogenannte «Diagnostische Leitlinien» heraus: Grundlagen zur Beurteilung sind dabei schulische Bewertungen, vorausgegangene Störungen in der Entwicklung, begleitende Probleme wie Unaufmerksamkeit oder Überaktivität, Störungsmuster und die Beeinflussbarkeit durch schulische oder häusliche Förderung. Die Beeinträchtigungen müssen spezifisch sein, d.h., sie dürfen nicht allein aufgrund von Beeinträchtigungen der Intelligenz erklärbar sein, was durch die Anwendung standardisierter Testverfahren auszuschliessen ist. Sie müssen weiterhin entwicklungsbezogen, d.h. dürfen nicht während der Schullaufbahn erworben sein. Die Störungen dürfen weder auf äussere Faktoren wie z.B. häufiges Fehlen oder mangelnde Beschulung noch auf unkorrigierte visuelle oder auditorische sensorische Beeinträchtigungen zurückzuführen sein. Definitionsgemäss erreichen die Betroffenen trotz normalen kognitiven Fähigkeiten und genügender schulischer Unterrichtung und Übung keine ausreichenden Lese- und/oder Rechtschreib- respektive Rechenfertigkeiten.
2.2.1 Dyslexie – Klassifikation nach ICD-10: F81.0
Heute werden Störungen im Lesen und Schreiben bedeutungsgleich als Lese-Rechtschreib-Störung (LRS), Schriftspracherwerbsstörung, Legasthenie und Dyslexie bezeichnet. Der in der internationalen Fachliteratur verwendete Begriff Dyslexie (griech.: dys: fehlerhaft, gestört; lexis: Sprache, Rede, Wort), beschreibt trefflich das Hauptproblem: die Schwierigkeit in der Verarbeitung des einzelnen Wortes in der Schriftsprache.
Definiert wird Dyslexie nach ICD-10 als spezifische und eindeutige Beeinträchtigung in der Entwicklung der Lese- und Rechtschreibfertigkeiten, wobei wir dann von einer spezifischen Störung sprechen, wenn folgende Aussagen zutreffen:
1 Die Lese-Rechtschreib-Leistungen liegen deutlich unter dem Niveau, das aufgrund des Alters, der Intelligenz und der Bildung zu erwarten wäre.
2 Die Störung kann nicht durch fehlenden Schulbesuch, Fremdsprachigkeit, Minderungen des Seh- und Hörvermögens oder sonstige Erkrankungen erklärt werden.
Heute ist bekannt, dass neben der Kernsymptomatik, der Lese-Rechtschreib-Störung, noch eine Reihe von neuropsychologischen Auffälligkeiten bestehen. Darum orientieren sich neue Definitionsansätze an Defiziten nicht nur der Lese- und Schreibleistung, sondern auch der Wahrnehmung und Verarbeitung der gesprochenen Sprache (sog. phonologische Bewusstheit), des orthografischen Wissens und des auditiven Gedächtnisses (siehe Kapitel «Störungen der auditiven Wahrnehmung», S. 49).2
Vergleichsweise selten lässt sich eine Rechtschreibstörung von einer Lesestörung trennen. Sind lediglich die Rechtschreibfertigkeiten, aber nicht das Lesen beeinträchtigt, spricht man von einer isolierten Rechtschreibstörung (F81.1 im ICD-10).
Abzugrenzen von der Lese- und Rechtschreibstörung und der isolierten Rechtschreibstörung sind:
die erworbene Dyslexie (z.B. infolge einer Hirnschädigung),
die infolge emotionaler Störung oder anderer psychiatrischer Erkrankungen entstandene Lesestörung und
Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten, die infolge fehlenden oder unangemessenen Unterrichts erklärt werden (Analphabetismus, Illetrismus).
2.2.2 Dyskalkulie – Klassifikation nach ICD-10: F81.2
Im Gegensatz zu den Störungen beim Erwerb des Lesens und Rechtschreibens, die schon länger bekannt sind, ist das Bestehen spezifischer Störungen im Bereich der Mathematik oder des Rechnens lange Zeit wenig beachtet geblieben. Grund hierfür war die Annahme, dass Mathematik im Gegensatz zum Lesen und Rechtschreiben stark mit der allgemeinen Intelligenz zusammenhängt und es daher kaum spezifische Rechenstörungen geben könne.3 So galten massive Schwierigkeiten im Rechnen als Indikator für eine allgemein schwache Begabung. Bis heute liegen jedoch keinerlei Hinweise vor, dass Dyskalkulie bei Kindern mit schwacher allgemeiner Intelligenz häufiger auftritt als bei denen mit guter allgemeiner Intelligenz.4
Mit dem Begriff Dyskalkulie (griech.: dys: schlecht; lat.: calculatio: Berechnung; Synonyme sind auch Rechenschwäche oder -störung) wird eine Störung bezeichnet, die durch ausgeprägte Schwierigkeiten beim Erlernen der grundlegenden Rechenfertigkeiten (Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division) gekennzeichnet ist. Die Hauptschwierigkeiten bestehen im Umgang mit Zahlen respektive beim Erlernen und der Beherrschung der Grundrechenarten Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division. Weniger gewichtig sind die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie oder Geometrie benötigt werden. Vorausgesetzt wird, dass sie nicht durch eine geistige Behinderung, unzureichende Unterrichtung, Seh- oder Hörstörungen oder neurologische Erkrankungen erklärt ist.
Eine Dyskalkulie liegt also dann vor, wenn die Rechenleistung des Betroffenen «eindeutig unterhalb des Niveaus liegt, welches aufgrund des Alters, der allgemeinen Intelligenz und der Schulklasse zu erwarten ist». Eine Besonderheit der Definition ist, dass adäquate Lese- und Rechtschreibfertigkeiten vorliegen müssen. Ist neben der Rechen- zusätzlich auch die Lese- und Rechtschreibleistung beeinträchtigt, ohne dass dies durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder unangemessene Beschulung erklärbar wäre, so ist eine kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten (F81.3) zu diagnostizieren.
2.2.3 Niedrigere Intelligenz – keine Diagnose?
Die ICD-10 definiert Dyslexie und Dyskalkulie als Teilleistungsstörungen bei durchschnittlicher Intelligenz und folgt somit dem Diskrepanzkriterium. Dieses besagt, dass die mit standardisierten Tests erfassten Lese-, Schreib- und Rechenleistungen um ca. 1 bis 1,5 Standardabweichungen vom allgemeinen Entwicklungsniveau abweichen müssen. Im Hinblick auf diese Definition stellt sich aber folgendes Problem: Jugendliche mit generell unterdurchschnittlichen schulischen Leistungen im Rahmen einer Lernbehinderung oder leichten Intelligenzminderung können die erforderliche Diskrepanz zwischen Intelligenz und Mathematikleistungen um ca. 1 bis 1,5 Standardabweichungen häufig nicht erreichen. Heisst das nun, dass Menschen mit einem niedrigeren Niveau keine umschriebene Entwicklungsstörung haben können? Dem widerspricht die klinische Erfahrung. Allerdings ist es schwierig, bei einer von der Norm nach unten abweichenden Intelligenz festzustellen, ob es sich bei den Minderleistungen tatsächlich um Dyslexie oder Dyskalkulie handelt im Sinne von spezifischen Beeinträchtigungen oder ob diese Ausdruck einer allgemeinen Lernbehinderung oder leichten Intelligenzminderung sind. Dieses diagnostisch-definitorische Kriterium kann bei enger administrativ-rechtlicher Auslegung das Einleiten von Fördermassnahmen erschweren.
Ein methodisches Problem in diesem Zusammenhang besteht darin, dass standardisierte Intelligenztestverfahren Untertests beinhalten, die auch sprachliche Leistungen und Rechenleistungen erfassen. Dies bedeutet, dass Betroffene als Folge ihrer Entwicklungsstörung schlecht abschneiden, entsprechend das Diskrepanzkriterium nicht erfüllen können und fälschlicherweise als intelligenzschwach bezeichnet werden. Bedenkt man weiter, dass die Testverfahren häufig eine starke verbale Komponente (z.B. Textaufgaben) beinhalten und oft auch hohe Anforderungen an die Aufmerksamkeitssteuerung stellen, ist davon auszugehen, dass der Nachteil noch stärker zum Tragen kommt, wenn zusätzlich z.B. eine Aufmerksamkeitsstörung (mit oder ohne Hyperaktivität) besteht oder wenn bei einer Person beide Entwicklungsstörungen (Dyslexie und Dyskalkulie) vorliegen. Hierbei wird ersichtlich, dass es sich bei den Lese-, Rechtschreib- und Rechenleistungen um ein kontinuierliches Merkmal handelt und es schwierig ist, eine Grenze, die eine Störung markiert, zu definieren. Andererseits bleibt die Frage nach dem pädagogischen Auftrag und therapeutischen Fördermassnahmen bei allgemein schwachen Leistungen gleichwohl bestehen.5
Eine Zusammenfassung der diagnostischen Leitlinien nach der WHO für die oben genannten umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten (F81) findet sich in der folgenden Tabelle.
F81.0 Lese-Rechtschreib-Störung | Störung, deren Hauptmerkmal eine umschriebene und bedeutsame Beeinträchtigung in der Entwicklung der Lesefertigkeiten ist, die nicht allein durch das Entwicklungsalter, Visusprobleme oder unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Leseverständnis, die Fähigkeit, gelesene Worte wiederzuerkennen, vorzulesen und Leistungen, für welche Lesefähigkeit nötig ist, können allesamt betroffen sein. |
F81.1 isolierte Rechtschreib-Störung | Störung, deren Hauptmerkmal in einer umschriebenen und bedeutsamen Beeinträchtigung der Entwicklung von Rechtschreibfertigkeiten besteht, ohne Vorgeschichte einer Lesestörung. Sie ist nicht allein durch ein zu niedriges Intelligenzalter, durch Visusprobleme oder unangemessene Beschulung erklärbar. Die Fähigkeiten, mündlich zu buchstabieren und Wörter korrekt zu schreiben, sind beide betroffen. |
F81.2 Rechenstörung | Störung, die in einer umschriebenen Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten besteht, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine unangemessene Beschulung erklärbar ist. Die Leistungsminderungen betreffen vor allem die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten, wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie oder Differential- und Integralrechnung benötigt werden. |
F81.3 kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten | Restkategorie für Störungen mit deutlicher Beeinträchtigung der Rechen-, der Lese- und der Rechtschreibfähigkeiten. Die Störung ist jedoch nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine unangemessene Beschulung erklärbar. Sie soll für Störungen verwendet werden, die die Kriterien für F81.2 und F81.0 oder F81.1 erfüllen. |
Tabelle 1: Zusammenfassung der diagnostischen Leitlinien nach der WHO für die umschriebenen Entwicklungs-störungen schulischer Fertigkeiten (F81) |