Kitabı oku: «Bestimmt », sayfa 2
2. Kapitel
Rom, 1790
Kyle stand in der Dunkelheit und atmete heftig. Es gab nur wenige Dinge, die er mehr hasste als enge Räume. Als er die Hand ausstreckte und die Steinwände fühlte, die ihn umgaben, brach ihm der kalte Schweiß aus. Er war gefangen, es gab fast nichts Schlimmeres für ihn.
Er holte aus und schlug mit der Faust ein Loch in die Steinwand. Als sie in Stücke zersprang, musste er seine Augen vor dem Tageslicht schützen.
Wenn Kyle etwas noch mehr hasste, als gefangen zu sein, dann war es helles Tageslicht, das ihn direkt traf, ohne dass er seine Hautfolie angelegt hatte. Schnell sprang er über den Steinschutt und suchte Schutz hinter einer Mauer.
Jetzt atmete er erst einmal tief durch, wischte sich den Staub aus den Augen und musterte orientierungslos seine Umgebung. Das Unangenehme an Zeitreisen war, dass man nie genau wusste, wo man landen würde. Er hatte es seit Jahrhunderten nicht mehr ausprobiert, und er hätte es auch jetzt nicht getan, gäbe es da nicht diesen quälenden Stachel in seinem Fleisch, diese Caitlin.
Nachdem sie New York verlassen hatte, war es Kyle ziemlich bald klar geworden, dass er seinen Krieg nur zum Teil gewonnen hatte. Solange sie immer noch frei herumlief und nach dem Schutzschild suchte, konnte er nie wirklich zur Ruhe kommen. Er war so kurz davor gewesen, den Krieg zu gewinnen, die gesamte Menschheit zu versklaven und der Herrscher aller Vampire zu werden. Doch sie, dieses jämmerliche, kleine Mädchen, stand ihm im Weg. Solange es diesen Schutzschild gab, war seine Macht nicht vollkommen. Also hatte er keine andere Wahl, als Caitlin aufzuspüren und zu töten. Und wenn das bedeutete, dass er eine Zeitreise unternehmen musste, dann würde er auch das tun.
Schnell zog Kyle eine Hautfolie aus der Tasche und wickelte seine Arme, den Hals und den Rumpf ein. Dann sah er sich um und stellte fest, dass er sich in einem Mausoleum befand – es wirkte irgendwie römisch. Rom.
Seit einer Ewigkeit war er nicht mehr in Rom gewesen. Doch er war nicht ganz sicher, ob es wirklich in Rom war – durch das Zerschlagen des Marmors hatte er so viel Staub aufgewirbelt hatte, dass er nicht richtig sehen konnte. Erneut atmete er tief durch, sammelte seine Kräfte und ging nach draußen.
Er hatte recht gehabt, es war tatsächlich Rom. Als er die italienischen Zypressen sah, war ihm klar, dass es kein anderer Ort sein konnte. Er stand mitten auf dem Forum Romanum, vor ihm erstreckten sich das grüne Gras, die Hügel und Täler und die Ruinen der antiken Bauwerke Roms. Der Anblick weckte Erinnerungen – hier hatte er viele Leute getötet, als das Forum Romanum noch genutzt wurde, und einmal war er beinahe selbst ums Leben gekommen. Bei dem Gedanken lächelte er. Er mochte diesen Ort.
Außerdem war er perfekt für seine Zwecke geeignet. Das Pantheon war nicht weit entfernt, was bedeutete, dass er in kürzester Zeit bei den Richtern des Großen Rates von Rom vorsprechen konnte. Sie standen dem mächtigsten Vampirclan in Rom vor, und von ihnen würde er alle Antworten bekommen, die er brauchte. Sehr bald würde er wissen, wo Caitlin sich aufhielt, und wenn alles gut lief, bekäme er auch die Erlaubnis, sie zu töten.
Nicht, dass er eine Erlaubnis brauchen würde. Das war bloß Höflichkeit, Vampir-Etikette, die Befolgung von Jahrtausende alten Traditionen. Man bemühte sich immer um eine Genehmigung, wenn man jemanden auf dem Territorium eines anderen Clans töten wollte.
Doch selbst wenn sie sein Ersuchen ablehnen würden, würde er sich nicht von seinem Plan abhalten lassen. Das könnte die Dinge für ihn schwieriger gestalten, aber er würde einfach jeden töten, der sich ihm in den Weg stellte.
Kyle atmete die Luft Roms tief ein und fühlte sich sofort heimisch. Er war zu lange nicht mehr hier gewesen. Das New York der Neuzeit, die Vampirpolitik und die moderne Zeit hatten ihn zu sehr in Anspruch genommen. Das hier entsprach viel mehr seinem Stil. Als er in der Ferne Pferde und unbefestigte Straßen sah, vermutete er, dass er wahrscheinlich im achtzehnten Jahrhundert gelandet war. Perfekt. Rom war städtisch, aber noch sehr naiv und hatte noch zweihundert Jahre aufzuholen.
Als Kyle seinen Körper genau untersuchte, stellte er fest, dass er diesmal die Reise in die Vergangenheit ziemlich gut überstanden hatte. Bei vorhergehenden Reisen war er wesentlich mitgenommener gewesen und hatte mehr Zeit zur Erholung gebraucht. Nicht so bei dieser Reise – er fühlte sich stärker als je zuvor und war bereit, sofort loszulegen. Er spürte, dass seine Flügel sehr bald wachsen würden, und er direkt zum Pantheon fliegen könnte, wenn er wollte.
Doch er war noch nicht bereit, denn er hatte sich zu lange keinen Urlaub mehr gegönnt. Daher wollte er sich ein wenig umsehen und sich erinnern, wie es gewesen war, hier zu leben.
Mit unglaublicher Geschwindigkeit sprang Kyle den Hügel hinunter und hatte das Forum im Handumdrehen hinter sich gelassen. Dann mischte er sich unter die Menschen auf den belebten, vollen Straßen Roms.
Staunend stellte er fest, dass Rom sogar schon zweihundert Jahre früher überfüllt gewesen war.
Langsam ließ er sich im Gedränge mittreiben. Auf dem breiten Boulevard, der noch unbefestigt war, eilten Tausende von Menschen in alle Richtungen. Überall sah man Pferde aller Größen und Formen, außerdem von Pferden gezogene Karren, Fuhrwerke und Kutschen. Die Straßen stanken nach menschlichen Ausdünstungen und Pferdemist. Jetzt erinnerte Kyle sich wieder an die fehlende Kanalisation und die mangelhafte Körperhygiene – es war der Gestank alter Zeiten. Er machte ihn regelrecht krank.
Kyle wurde ständig angerempelt, während die Menschenmenge immer dichter wurde. Menschen aller Rassen und Klassen hasteten hin und her. Er wunderte sich über die primitiven Fassaden der Läden, in denen altmodische italiensche Hüte feilgeboten wurden. Kleine Jungen in Lumpen kamen auf ihn zu und boten Obst zum Verkauf an. Manche Dinge änderten sich einfach nie.
Dann bog Kyle in eine schmale, heruntergekommene Gasse ein, an die er sich gut erinnerte. Er hoffte, dass sie noch das war, was sie einst gewesen war. Zu seinem Entzücken wurde er nicht enttäuscht – an den Hauswänden lehnten Prostituierte, die ihn alle ansprachen, als er vorbeiging.
Kyle grinste breit.
Als er sich einer der Damen näherte – einer großen, vollbusigen Frau mit rotgefärbtem Haar und zu viel Make-up -, streckte sie die Hand aus und streichelte sein Gesicht.
»Hey, großer Junge«, sagte sie, »willst du dich ein bisschen amüsieren? Wie viel hast du denn?«
Kyle lächelte, legte den Arm um sie und bugsierte sie eine Seitengasse.
Sie folgte ihm bereitwillig.
Sobald sie um die Ecke gebogen waren, sagte sie: »Du hast meine Frage nicht beantwortet. Wie viel Geld hast …«
Noch bevor sie die Frage beenden konnte, hatte Kyle ihr bereits die Zähne in den Hals gebohrt.
Als sie schreien wollte, hielt er ihr mit der freien Hand den Mund zu und zog sie dichter an sich. Er trank und trank. Sobald das Menschenblut durch seine Adern strömte, fühlte er sich prächtig. Er war völlig ausgedörrt und dehydriert gewesen. Die Zeitreise hatte ihn erschöpft, und diese Mahlzeit war genau das, was er brauchte, um ihm neue Kraft zu geben.
Der Körper der Frau erschlaffte, doch er trank immer weiter. Schließlich war er restlos gesättigt und ließ die Frau einfach fallen.
Als er sich umdrehte, um weiterzugehen, tauchte ein großer, unrasierter Mann vor ihm auf, dem ein Zahn fehlte. Er zog einen Dolch aus seinem Gürtel und blickte auf die tote Frau zu Kyles Füßen. Dann zog er eine Grimasse und warf Kyle einen drohenden Blick zu.
»Die Frau hat mir gehört«, sagte er dann. »Hoffentlich hast du wenigstens genug Geld dabei.«
Damit trat er zwei Schritte näher und holte mit seinem Dolch aus.
Kyle reagierte blitzschnell, wich der Waffe aus und packte den Mann am Handgelenk. Mit einer einzigen fließenden Bewegung brach er dem Angreifer den Arm. Bevor der Mann auch nur einen Laut von sich geben konnte, hatte Kyle sich den Dolch geschnappt und seinem Gegner die Kehle durchgeschnitten. Auch diese Leiche ließ er einfach auf die Straße fallen.
Dann betrachtete er den Dolch, ein hübsches kleines Ding mit einem Elfenbeingriff, und nickte beifällig – gar nicht so übel. Er steckte die Waffe in seinen Gürtel und wischte sich mit dem Handrücken das Blut vom Mund ab. Dann atmete er tief durch, marschierte zufrieden die Gasse entlang und bog wieder in die Hauptstraße ein.
Oh, wie sehr hatte er Rom vermisst!
3. Kapitel
Nachdem der Priester das Hauptportal verbarrikadiert und alle anderen Eingänge abgeschlossen hatte, ging Caitlin mit ihm zusammen durch die Kirche. Da die Sonne inzwischen untergegangen war, zündete er eine Fackel nach der anderen an, die dann allmählich den riesigen Raum erhellten.
Als Caitlin aufblickte, bemerkte sie zahlreiche große Kreuze an den Wänden – sie fragte sich verwundert, warum sie sich hier so wohlfühlte. Sollten Vampire nicht eigentlich Angst vor Kirchen haben? Und vor Kreuzen? Dann fiel ihr das Zuhause des Whitetide Clans in New York ein – in The Cloisters – und all die Kreuze, die dort an den Wänden hingen. Caleb hatte ihr erzählt, dass manche Vampirgeschlechter Kirchen als Wohnorte bevorzugten. Er hatte er ihr einen langen Monolog über die Geschichte der Vampirgeschlechter und ihre Beziehung zum Christentum gehalten, doch sie hatte damals nicht besonders aufmerksam zugehört, weil sie so verliebt in ihn gewesen war. Jetzt wünschte sie, sie hätte besser aufgepasst.
Der Vampirpriester führte Caitlin durch eine Seitentür, hinter der sich eine Steintreppe befand. Sie stiegen die Stufen hinunter und gingen einen mittelalterlichen Gewölbegang entlang. Unterwegs zündete ihr Begleiter weitere Fackeln an.
»Ich glaube nicht, dass sie zurückkommen«, meinte er und verriegelte eine weitere Tür. »Sie werden die Umgebung nach dir absuchen, und wenn sie dich nicht finden, gehen sie bestimmt nach Hause. Das machen sie immer so.«
Caitlin hatte das Gefühl, in Sicherheit zu sein, und war dem Mann sehr dankbar für seine Hilfe. Natürlich fragte sie sich, warum er ihr überhaupt geholfen und sein eigenes Leben für sie riskiert hatte.
»Weil ich von deiner Art bin«, sagte er, drehte sich um und sah sie direkt an. Der stechende Blick seiner blauen Augen schien sie förmlich zu durchbohren.
Wieder einmal hatte Caitlin vergessen, wie leicht Vampire die Gedanken anderer lesen konnten. Doch einen Moment lang hatte sie gar nicht daran gedacht, dass er ein Vampir war.
»Nicht alle von uns fürchten sich vor Kirchen«, erklärte er und beantwortete damit ihre unausgesprochene Frage. »Du weißt doch, dass das Vampirvolk gespalten ist. Wir – die Gattung der Guten – brauchen Kirchen. Wir blühen darin auf.«
Als sie in einen anderen Gang einbogen und eine weitere Treppe hinunterstiegen, fragte Caitlin sich, wohin er sie führte. So viele Fragen schwirrten ihr im Kopf herum, dass sie gar nicht wusste, welche sie zuerst stellen sollte.
»Wo bin ich?«, fragte sie schließlich und merkte, dass das ihre ersten Worte waren, seit sie sich begegnet waren. Jetzt purzelten ihr die Fragen förmlich aus dem Mund. »Welches Land ist das hier? In welchem Jahr sind wir?«
Als er lächelte, bildeten sich in seinem Gesicht feine Fältchen. Er war klein und zierlich, hatte weißes Haar, war glattrasiert und wirkte irgendwie großväterlich. Sein Priestergewand war aufwendig gearbeitet, und für einen Vampir sah er sehr alt aus. Neugierig fragte sie sich, wie viele Jahrhunderte er wohl schon auf der Erde verbracht haben mochte. Er strahlte Güte und Wärme aus, und sie fühlte sich in seiner Gegenwart ausgesprochen wohl.
»So viele Fragen«, erwiderte er schließlich lächelnd. »Ich verstehe, dass all das viel für dich ist. Nun, fangen wir damit an, dass du in Umbrien bist, in der kleinen Stadt Assisi.«
Sie zerbrach sich den Kopf und versuchte sich zusammenzureimen, wo das sein konnte.
»In Italien?«, fragte sie schließlich.
»Ja, in der Zukunft wird diese Region Teil eines Landes namens Italien sein«, entgegnete er, »aber jetzt noch nicht. Wir sind zurzeit noch unabhängig. Vergiss nicht«, fuhr er lächelnd fort, »du bist nicht mehr im einundzwanzigsten Jahrhundert – wie du wahrscheinlich schon aus der Kleidung und dem Verhalten dieser Dorfbewohner geschlossen hast.«
»Welches Jahr ist denn jetzt?«, fragte Caitlin leise – beinahe fürchtete sie sich vor der Antwort. Ihr Herz schlug deutlich schneller.
»Du bist im achtzehnten Jahrhundert«, antwortete er. »Genauer gesagt, im Jahr 1790.«
1790. In Assisi. In Umbrien. In Italien.
Der Gedanke überwältigte sie. Alles fühlte sich unwirklich an – so, als würde sie träumen. Sie konnte kaum glauben, dass das wirklich passierte, dass sie tatsächlich hier war, an diesem Ort und zu dieser Zeit. Und dass das Zeitreisen wirklich funktionierte.
Außerdem war sie ein bisschen erleichtert: Italien im Jahr 1790 klang nicht so übel – wenn man bedachte, wo und in welchem Jahrhundert sie sonst noch hätte landen können. Schließlich war das achtzehnte Jahrhundert nicht in der Urzeit.
»Warum wollten diese Leute mich umbringen? Und wer sind Sie?«
»Trotz des Fortschritts ist diese Zeit immer noch ein wenig primitiv und abergläubisch«, erklärte er. »Sogar in dieser Epoche des Luxus' und der Dekadenz gibt es leider immer noch eine Menge gewöhnlicher Bürger, die in großer Angst vor uns leben.
Siehst du, das kleine Bergdorf Assisi ist für uns immer schon eine Hochburg gewesen. Es wird häufig von Vampiren aufgesucht, das ist immer schon so gewesen. Unsere Gattung ernährt sich nur von ihrem Vieh. Doch im Laufe der Zeit fällt das den Dorfbewohnern dann auf.
Manchmal entdecken sie einen von uns, und dann wird die Lage unerträglich. Also lassen wir uns hin und wieder von ihnen beerdigen. Wir lassen sie ihre dummen, kleinen Menschenrituale durchführen und geben ihnen das Gefühl, sie wären uns losgeworden. Und wenn sie nicht hinsehen, erheben wir uns einfach wieder und kehren in unser Leben zurück.
Doch manchmal erhebt sich ein Vampir zu früh oder wird dabei beobachtet – dann kommt der Mob. Das geht vorüber, wie immer. Zwar lenkt ein solcher Zwischenfall unerwünschte Aufmerksamkeit auf uns, aber zum Glück immer nur vorübergehend.«
»Es tut mir leid«, sagte Caitlin, die jetzt ein schlechtes Gewissen hatte.
»Mach dir keine Gedanken«, erwiderte er. »Das war deine erste Zeitreise, du hattest noch nicht alles unter Kontrolle. Man braucht ein paar Versuche, bis man sich daran gewöhnt hat. Selbst die Besten von uns können ihr Wiederauftauchen nicht perfekt steuern. Es ist immer schwer zu sagen, wann und wo genau man landet. Aber du hast deine Sache gut gemacht«, fügte er hinzu und legte ihr sanft eine Hand auf den Arm.
Sie bogen in einen Gang mit einer niedrigen Gewölbedecke ein.
»Außerdem hast du dich auch gut aus der Affäre gezogen«, fuhr er fort. »Schließlich bist du in die Kirche gekommen.«
Caitlin erinnerte sich, wie sie die Kirche gesehen hatte, als sie über das Feld gerannt war.
»Es ist mir einfach nur logisch erschienen, zur Kirche zu laufen«, antwortete sie. »Sie war das erste Gebäude, das mir ins Auge gefallen ist, außerdem wirkt sie wie eine Festung.«
Lächelnd schüttelte er den Kopf. »In der Welt der Vampire gibt es keine Zufälle«, sagte er. »Alles ist vorherbestimmt. Ein Gebäude, das auf dich sicher wirkt, kann einem anderen durchaus unsicher vorkommen. Nein, du hast dich aus einem bestimmten Grund für diesen Ort entschieden. Aus einem ganz bestimmten Grund. Du solltest mich finden.«
»Aber Sie sind doch ein Priester.«
Er schüttelte ganz leicht den Kopf. »Du bist noch so jung, du hast noch so viel zu lernen. Wir haben unsere eigene Religion, unsere eigene religiöse Überzeugung. Sie unterscheidet sich gar nicht mal so sehr von der der Kirche. Man kann ein Vampir sein und trotzdem ein Leben im Dienste der Religion führen. Vor allem unsere Vampirgattung«, fügte er hinzu. »Ich unterstütze sogar täglich das Seelenleben der Menschen. Schließlich verfüge ich im Gegensatz zu den Menschenpriestern über die Weisheit von Jahrtausenden auf diesem Planeten. Glücklicherweise wissen die Menschen nicht, dass ich kein Mensch bin. Sie halten mich einfach für den Gemeindepriester.«
In Caitlins Kopf drehte sich alles, während sie versuchte, diese Informationen zu verarbeiten. Das Bild eines Vampirpriesters war in ihren Augen widersinnig. Die Vorstellung, dass es eine Vampirreligion gab, die innerhalb der Kirche praktiziert wurde, kam ihr sehr seltsam vor.
Doch so faszinierend das Ganze auch war, so war es trotzdem nicht das, was sie wirklich interessierte. Sie wollte Informationen über Caleb haben. Hatte er die Reise überlebt? Wo war er jetzt?
Und sie wollte unbedingt wissen, was mit ihrem Kind war. War sie noch schwanger, hatte das Baby überlebt?
In der Hoffnung, dass der Priester ihre unausgesprochenen Fragen beantworten würde, dachte sie sehr intensiv daran.
Doch er ging nicht auf ihre Gedanken ein.
Obwohl sie ganz sicher war, dass er wusste, was sie dachte, zog er es vor, ihre Fragen nicht zu beantworten. Damit zwang er sie, ihre Fragen laut zu stellen. Doch wahrscheinlich wusste er auch, dass sie Angst vor den Antworten hatte.
»Und was ist mit Caleb?«, fragte sie schließlich mit bebender Stimme. Um sich nach ihrem Kind zu erkundigen, war sie zu nervös.
Sein Lächeln verblasste, als er ganz leicht zusammenzuckte.
Furcht breitete sich in ihr aus.
Bitte, dachte sie. Bitte keine schlechten Nachrichten.
»Manche Dinge musst du selbst herausfinden«, antwortete er schließlich. »Manche Dinge darf ich dir nicht sagen. Du musst diese Reise unternehmen, ganz allein du.«
»Aber ist er hier?«, fragte sie voller Hoffnung. »Hat er es geschafft?«
Der Priester presste die Lippen zusammen. Er ließ die Frage unbeantwortet im Raum stehen – für eine gefühlte Ewigkeit.
Als sie schließlich vor einer weiteren Treppe stehen blieben, drehte er sich zu ihr um und sah sie an. »Ich wünschte, ich könnte dir mehr sagen«, erklärte er. »Wirklich.«
Dann hob er seine Fackel höher und stieg die Stufen hinunter.
Sie betraten einen langen Gewölbegang, dessen Decken mit Gold verziert und exquisit gestaltet waren. Sie waren vollständig mit Fresken in leuchtenden Farben überzogen, und die Bögen dazwischen waren vergoldet. Die Decken leuchteten förmlich.
Das Gleiche traf auf den Boden zu. Er bestand aus wunderschönem, rosa Marmor und sah aus, als wäre er frisch geputzt worden. Diese unterirdische Ebene der Kirche war prachtvoll und sah aus wie eine antike Schatzkammer.
»Wow«, stieß Caitlin unwillkürlich hervor. »Was ist das für ein Ort?«
»Es ist ein Ort voller Wunder. Du bist in der Kirche zum heiligen Franz von Assisi. Sie ist für uns ein sehr heiliger Ort. Die Leute – sowohl Menschen als auch Vampire – pilgern von weither zu diesem Ort. Franz von Assisi war der Schutzpatron der Tiere und auch aller Lebewesen, die keine Menschen sind – dazu gehören auch die Vampire. Es heißt, dass an diesem Ort Wunder geschehen. Seine Energie beschützt uns hier.
Du bist nicht durch Zufall hier gelandet«, fuhr er fort. »Dieser Ort stellt ein Portal für dich dar, er ist der Startpunkt für deinen Weg, deine Pilgerreise.«
Er drehte sich um und sah sie an.
»Du hast immer noch nicht begriffen«, fuhr er fort, »dass du dich auf einer Reise befindest. Und manche Pilgerreisen dauern Jahre und gehen über sehr weite Strecken.«
Caitlin dachte nach. Sie fühlte sich überwältigt. Eigentlich wollte sie gar keine Reise machen. Sie wollte nach Hause, zusammen mit Caleb, und wieder gesund und munter im einundzwanzigsten Jahrhundert sein – diesen ganzen Albtraum hier wollte sie am liebsten schnell hinter sich lassen. Wie satt sie es war, immer unterwegs zu sein, ständig auf der Flucht, pausenlos auf der Suche. Sie wollte einfach nur ein normales Leben führen, das Leben eines ganz normalen Teenagers.
Doch dann gebot sie sich selbst Einhalt, denn es führte zu nichts, wenn sie diese Gedanken weiterverfolgte. Die Dinge hatten sich endgültig geändert, und nichts würde mehr so sein wie zuvor. Sie rief sich ins Gedächtnis, dass der Wandel jetzt ihre neue Normalität war. Nie wieder würde sie das alte, durchschnittliche Menschenmädchen Caitlin sein. Inzwischen war sie älter und weiser. Und auch wenn ihr der Gedanke nicht behagte – sie war auf einer ganz speziellen Mission, die sie einfach akzeptieren musste.
»Aber worin besteht meine Pilgerschaft?«, wollte Caitlin wissen. »Was ist meine Bestimmung? Wohin genau reise ich überhaupt?«
Er ging voraus zum Ende des letzten Ganges und blieb dann vor einem großen, kunstvoll verzierten Grabmal stehen.
Als Caitlin die Energie spürte, die von dem Grab ausging, war ihr sofort klar, dass es sich um das Grab des heiligen Franz von Assisi handeln musste. Durch die bloße Nähe zu der Grabstätte wurden ihre Kräfte aufgeladen – sie wurde zunehmend stärker und hatte das Gefühl, bald wieder sie selbst zu sein. Erneut fragte sie sich, ob sie als Mensch oder als Vampir zurückgekehrt war. Sie vermisste ihre Kräfte sehr.
»Du bist immer noch ein Vampir«, sagte der Priester. »Mach dir keine Sorgen. Es dauert einfach eine Weile, bis du wieder du selbst wirst.«
Obwohl es ihr peinlich war, dass sie schon wieder vergessen hatte, ihre Gedanken zu schützen, fühlte sie sich durch seine Worte getröstet.
»Du bist eine ganze besondere Person, Caitlin«, sagte er eindringlich. »Wir Vampire brauchen dich dringend. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass ohne dich unsere ganze Gattung und auch die Menschheit vom Aussterben bedroht sind. Wir brauchen dich. Wir brauchen deine Hilfe.«
»Aber was soll ich denn tun?«, fragte sie verzagt.
»Wir sind darauf angewiesen, dass du den Schutzschild findest«, erklärte er. »Und um dem Schild auf die Spur zu kommen, musst du zuerst deinen Vater aufspüren. Nur er – einzig und allein er – weiß, wo es ist. Und um ihn zu finden, musst du deinen Clan suchen. Deinen richtigen Clan.«
»Aber ich habe keine Ahnung, wo ich anfangen soll«, erwiderte sie. »Ich weiß ja nicht mal, warum ich an diesem Ort und in dieser Zeit gelandet bin. Warum Italien? Warum im Jahr 1790?«
»Die Antworten auf diese Fragen musst du selbst herausfinden. Aber ich kann dir versichern, dass es ganz besondere Gründe dafür gibt, warum du in dieser Zeit wieder aufgetaucht bist. Du wirst ganz spezielle Leute treffen und ganz besondere Aufgaben erfüllen. Und dieser Ort hier und diese Zeit werden dich zu dem Schild führen.«
Caitlin überlegte.
»Aber ich weiß doch gar nicht, wo mein Vater ist. Und ich weiß immer noch nicht, wo ich anfangen soll.«
Lächelnd sah er sie an. »Doch, du weißt es«, widersprach er. »Das ist dein Problem, du vertraust deiner Intuition nicht. Du musst lernen, tief in deinem Inneren zu suchen. Probier es aus, jetzt gleich. Schließ die Augen und atme tief und gleichmäßig.«
Caitlin tat, was er ihr geraten hatte.
»Stell dir die Frage: Wohin muss ich als Nächstes gehen?«
Caitlin zerbrach sich den Kopf, doch nichts geschah.
»Lausche dem Geräusch deines Atems. Werde innerlich ganz ruhig.«
Als Caitlin seiner Anweisung folgte und es tatsächlich schaffte, sich zu konzentrieren und gleichzeitig zu entspannen, blitzten in ihrem Kopf plötzlich Bilder auf. Schließlich schlug sie die Augen wieder auf und sah ihn an.
»Ich sehe zwei Orte«, sagte sie. »Florenz und Venedig.«
»Gut«, antwortete er. »Sehr gut.«
»Aber ich bin verwirrt. Wohin soll ich denn jetzt zuerst gehen?«
»Bei einer Reise gibt es keine falsche Wahl. Jeder Weg bringt uns nur an einen anderen Ort. Die Entscheidung liegt ganz bei dir. Deine Bestimmung ist sehr stark, aber trotzdem hast du Willensfreiheit. Du kannst bei jedem Schritt wählen. Jetzt zum Beispiel stehst du vor einer sehr wichtigen Entscheidung. In Florenz wirst du deinen Verpflichtungen nachkommen und dem Schutzschild ein Stück näherkommen. Das ist das, was gebraucht wird. Doch in Venedig geht es um eine Herzensangelegenheit. Also musst du zwischen deiner Mission und deinem Herzen wählen.«
Caitlins Herz schlug schneller.
Herzensangelegenheit. Hieß das, dass Caleb in Venedig war?
Ihr Herz zog sie nach Venedig, doch ihr Verstand sagte ihr, dass Venedig der Ort war, an dem sie sein sollte, um ihren Auftrag zu erfüllen.
Sie fühlte sich hin- und hergerissen.
»Du bist jetzt eine erwachsene Frau«, fuhr der Priester fort. »Du triffst deine Wahl. Doch wenn du der Stimme deines Herzens folgst, wird Leid daraus entstehen«, warnte er. »Der Weg des Herzens ist nie leicht – und auch nie so, wie man es erwartet.«
»Ich bin völlig durcheinander«, gestand sie hilflos.
»Wir arbeiten am besten, wenn wir träumen«, sagte er. »Nebenan befindet sich ein Kloster, in dem du übernachten kannst. Triff deine Entscheidung einfach morgen. Bis dahin wirst du auch wieder vollkommen wiederhergestellt sein.«
»Danke«, sagte sie, ergriff seine Hand und drückte sie.
Als er sich umdrehte, um zu gehen, schlug ihr Herz heftig. Es gab noch eine letzte Frage, die sie ihm unbedingt stellen musste – die wichtigste von allen. Aber ein Teil von ihr hatte große Angst davor. Zitternd öffnete sie den Mund, um zu sprechen, aber er war so trocken, dass kein Ton herauskam.
Er ging den Gang entlang und war schon fast verschwunden, als sie schließlich den Mut aufbrachte.
»Warten Sie!«, rief sie. Dann fügte sie leiser hinzu: »Bitte, ich habe noch eine Frage.«
Er blieb stehen, wandte sich jedoch nicht zu ihr um. Er schien zu wissen, was sie fragen wollte.
»Mein Baby«, stieß sie mit bebender Stimme hervor. »Hat er … sie … es überlebt? Die Reise? Bin ich noch schwanger?«
Jetzt drehte er sich langsam um und sah sie an. Dann senkte er den Blick.
»Es tut mir leid«, antwortete er dann so leise, dass sie ihn kaum verstand. »Du bist in die Vergangenheit gereist. Kinder können nur vorwärtsgehen. Dein Kind lebt, aber nicht in dieser Zeit, sondern in der Zukunft.«
»Aber …«, widersprach sie aufgewühlt. »Ich dachte, Vampire können nur in die Vergangenheit reisen, nicht in die Zukunft.«
»Das stimmt. Ich fürchte, dein Kind lebt ohne dich in einer anderen Zeit an einem anderen Ort.« Erneut schlug er die Augen nieder. »Es tut mir so leid«, fügte er hinzu.
Mit diesen abschließenden Worten drehte er sich um und verschwand endgültig.
Und Caitlin fühlte sich, als hätte ihr jemand einen Dolch mitten ins Herz gestoßen.