Kitabı oku: «Bestimmt », sayfa 3
4. Kapitel
Caitlin saß in einem kahlen Zimmer des Franziskanerklosters und sah aus dem offenen Fenster in die Nacht hinaus. Irgendwann hatte sie schließlich aufgehört zu weinen. Es war schon Stunden her, seit der Priester sie verlassen hatte, seit sie die Nachricht über ihr verlorenes Kind erfahren hatte. Sie hatte es nicht geschafft, den Tränenstrom zu stoppen oder die Gedanken an das Leben, das sie hätte führen können, zu verdrängen. Der Verlust war einfach zu schmerzhaft.
Doch nach vielen Stunden hatte sie sich ausgeweint, und die Tränen auf ihren Wangen waren getrocknet. Jetzt blickte sie aus dem Fenster und atmete tief ein und aus.
Umbrien breitete sich vor ihr aus, von ihrem Aussichtspunkt hoch oben auf einer Anhöhe konnte sie die Hügel von Assisi sehen. Der Vollmond schien und spendete genug Helligkeit, sodass sie erkennen konnte, wie wunderschön die Landschaft war. Kleine Landhäuschen waren wie kleine Tupfen zwischen den Feldern verteilt, und aus den Schornsteinen stieg Rauch auf. Schon jetzt spürte sie, dass diese Epoche ruhiger und entspannter war als das einundzwanzigste Jahrhundert.
Dann drehte Caitlin sich um und betrachtete ihr kleines Zimmer, das nur durch den Mondschein und eine kleine Kerze in einem Wandhalter erhellt wurde. Wände, Decke und Boden waren aus Stein, und in einer Ecke stand ein einfaches Bett. Sie wunderte sich darüber, dass es anscheinend ihr Schicksal war, immer wieder in einem Kloster zu landen. Der Ort war vollkommen anders als Pollepel, doch trotzdem erinnerte der kleine, mittelalterliche Raum sie an ihr Zimmer auf Pollepel Island. Beide Räume waren darauf ausgelegt, sich selbst zu finden.
Als Caitlin den Boden genauer betrachtete, entdeckte sie in der Nähe des Fensters zwei Einbuchtungen. Sie waren einige Zentimeter voneinander entfernt und hatten die Form von Knieabdrücken. Neugierig fragte sie sich, wie viele Nonnen hier wohl schon vor dem Fenster gekniet und gebetet hatten. Wahrscheinlich wurde diese Kammer schon seit Jahrhunderten benutzt.
Caitlin ging zu dem schmalen Bett und legte sich darauf. Eigentlich handelte es sich nur eine Steinplatte mit einer dünnen Strohschicht darauf. Als sie versuchte, es sich ein wenig bequemer zu machen, indem sie sich auf die Seite rollte, fühlte sie plötzlich etwas. Etwas steckte unter ihrem Kleid – sie griff darunter und zog es hervor. Entzückt stellte sie fest, dass es ihr Tagebuch war.
Sie war sehr glücklich, ihren guten alten Freund an ihrer Seite zu haben, offensichtlich war das Buch das Einzige, das die Zeitreise überlebt hatte. Als sie diesen realen, greifbaren Gegenstand an sich drückte, begriff sie endgültig, dass sie nicht bloß träumte. Sie war tatsächlich hier, alles war wirklich geschehen.
Ein moderner Stift rutschte zwischen den Seiten heraus und fiel in ihren Schoß. Nachdenklich hob sie ihn hoch und musterte ihn.
Ja, das war es. Genau das musste sie jetzt tun: schreiben, verarbeiten. Die Ereignisse waren so schnell aufeinandergefolgt, dass sie kaum Zeit zum Luftholen gehabt hatte. Deshalb hatte sie das Bedürfnis, alles noch einmal in Gedanken durchzuspielen und sich jede Einzelheit ins Gedächtnis zurückzurufen. Wie war sie an diesen Ort gelangt? Was war genau geschehen? Wie ging es jetzt weiter?
Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie die Antworten überhaupt noch kannte – doch sie hoffte, dass sie sich durch das Niederschreiben an alles erinnern würde.
Vorsichtig blätterte Caitlin die etwas brüchigen Blätter um, bis sie eine leere Seite fand. Dann setzte sie sich auf, lehnte sich an die Wand, zog die Knie hoch und begann zu schreiben.
* * *
Wie bin ich hier gelandet? In Assisi? In Italien? Im Jahr 1790? Einerseits scheint es nicht lange her zu sein, dass ich noch im einundzwanzigsten Jahrhundert war und in New York das normale Leben eines Teenagers führte. Andererseits kommt es mir wie eine Ewigkeit vor … Wie hat noch mal alles angefangen?
Das Erste, das mir einfällt, sind die extremen Hungerattacken – zuerst hatte ich gar nicht kapiert, woher die Schmerzen kamen. Ich erinnere mich an Jonah, die Carnegie Hall, meine erste Blutmahlzeit. Meine unerklärliche Verwandlung in einen Vampir. Ein Halbblut haben sie mich genannt. Zu dem Zeitpunkt wäre ich am liebsten gestorben. Schließlich hatte ich nie etwas anderes gewollt, als so zu sein wie alle anderen.
Dann war da Caleb. Er hat mich vor dem bösen Clan gerettet. Sein eigener Clan wohnt in The Cloisters. Doch sie haben mich rausgeworfen, weil Beziehungen zwischen Menschen und Vampiren verboten sind. Ich war wieder allein – zumindest, bis Caleb mich wieder gerettet hat.
Meine Suche nach meinem Vater und dem mythenhaften Schwert, mit dessen Hilfe die Menschheit und die Vampire vor einem schrecklichen Krieg bewahrt werden können, führte Caleb und mich von einem historischen Ort zum nächsten. Wir fanden das Schwert, aber es wurde uns wieder weggenommen. Wie immer wartete schon Kyle, um für Unheil zu sorgen.
Dann wurde mir allmählich klar, was aus mir geworden war. Außerdem entdeckten Caleb und ich unsere Liebe füreinander. Nachdem das Schwert gestohlen worden war und nachdem man mich niedergestochen hatte, lag ich im Sterben, aber Caleb verwandelte mich und rettete mir damit wieder einmal das Leben.
Doch dann entwickelten sich die Dinge nicht so, wie ich geglaubt hatte. Ich sah Caleb mit seiner Exfrau Sera und befürchtete gleich das Schlimmste. Obwohl ich damit falsch lag, war es bereits zu spät. Er flüchtete und begab sich in Gefahr. Inzwischen kam ich auf Pollepel Island wieder zu Kräften, trainierte fleißig und gewann Freunde – Vampirfreunde. So gute Freunde hatte ich vorher nie gehabt. Vor allem mit Polly verstand ich mich gut. Und mit Blake – er steckte voller Rätsel und sah blendend aus. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte mir mein Herz gestohlen. Doch ich kam gerade noch rechtzeitig wieder zur Vernunft. Dann erfuhr ich, dass ich schwanger war, und beschloss Caleb zu suchen und vor dem Vampirkrieg zu retten.
Leider kam ich zu spät. Mein eigener Bruder Sam täuschte uns, betrog mich und ließ mich glauben, er wäre ein anderer. Er war schuld daran, dass ich glaubte, Caleb wäre nicht Caleb – und ich tötete unwissentlich meine große Liebe. Mit dem Schwert. Mit meinen eigenen Händen. Das kann ich mir niemals verzeihen.
Danach brachte ich Caleb nach Pollepel und versuchte, ihn wiederzubeleben, koste es, was es wolle. Ich hatte Aiden gesagt, ich würde alles dafür tun und wäre bereit, alles zu opfern. Schließlich bat ich Aiden, uns auf eine Zeitreise in die Vergangenheit zu schicken.
Er hatte mich gewarnt, dass mein Plan möglicherweise schiefgehen könnte. Das würde bedeuten, dass wir vielleicht nicht zusammen sein würden. Trotzdem bestand ich auf meinem Vorhaben, ich musste es einfach tun.
Und jetzt bin ich hier. Allein, an einem fremden Ort in einem vergangenen Jahrhundert. Mein Kind ist weg, und vielleicht habe ich auch Caleb endgültig verloren.
War es ein Fehler, diese Zeitreise zu unternehmen?
Obwohl ich weiß, dass ich meinen Vater und mit ihm den Schutzschild finden muss, bin ich nicht sicher, ob ich die Kraft dazu haben werde – wenn Caleb nicht an meiner Seite ist.
Ich bin völlig durcheinander und weiß nicht, was ich als Nächstes tun soll.
Bitte, lieber Gott, hilf mir …
Als die Sonne wie ein riesiger Ball am Horizont aufging, rannte Caitlin durch die Straßen New Yorks. Es herrschte Weltuntergangsstimmung. Autos standen kreuz und quer auf den Straßen, Leichen lagen herum, und überall bot sich ein Bild der Verwüstung. Sie rannte und rannte, immer weiter – die Straßen hatten offensichtlich kein Ende.
Während sie lief, schien die Welt sich um ihre Achse zu drehen. Dabei verschwanden allmählich die Gebäude, die Landschaft veränderte sich, die Straßen wurden zu unbefestigten Wegen, und aus dem Asphalt wurde eine Hügellandschaft. Sie hatte das Gefühl, in die Vergangenheit zu laufen, von einer modernen Zeit in ein früheres Jahrhundert. Wenn sie noch schneller laufen würde, könnte sie ihren Vater finden, ihren echten Vater – irgendwo dort hinten am Horizont.
Als sie die kleinen Ortschaften auf dem Land hinter sich ließ, schienen diese sich hinter ihr aufzulösen.
Bald war nur noch ein Feld mit weißen Blumen übrig. Voll Entzücken entdeckte sie am Horizont ihren Vater – ganz offensichtlich erwartete er sie schon.
Wie immer zeichnete sich seine Silhouette gegen die Sonne ab, doch diesmal war er näher als sonst. Sie konnte sogar seinen Gesichtsausdruck erkennen. Er wartete mit einem Lächeln auf sie und streckte bereits die Arme nach ihr aus.
Schließlich erreichte sie ihn, und er schloss sie in seine Arme. Er drückte sie ganz fest gegen seinen muskulösen Körper.
»Caitlin«, sagte er liebevoll. »Weißt du eigentlich, wie nahe du mir bist? Weißt du, wie sehr ich dich liebe?«
Doch noch bevor sie antworten konnte, sah sie aus dem Augenwinkel eine Gestalt. Auf der anderen des Blumenfeldes stand Caleb und streckte eine Hand nach ihr aus.
Sofort ging sie einige Schritte in seine Richtung, dann blieb sie stehen und sah ihren Vater an.
Er streckte ihre ebenfalls die Hand entgegen.
»Komm zu mir nach Florenz«, forderte ihr Vater sie auf.
Sie drehte sich zu Caleb um.
»Komm zu mir nach Venedig«, bat er.
Unentschlossen blickte sie zwischen den beiden hin und her. Sie war hin- und hergerissen, welchen Weg sie einschlagen sollte.
* * *
Mit einem Ruck schreckte Caitlin aus dem Schlaf hoch und saß auf einmal senkrecht im Bett.
Verwirrt sah sie sich in der kleinen Kammer um, bis ihr schließlich klar wurde, dass sie geträumt hatte.
Die Sonne ging gerade auf, und sie ging zum Fenster und sah hinaus. Das Städtchen Assisi wirkte im frühen Morgenlicht so friedlich und war wunderschön. Es war noch niemand draußen, doch vereinzelt stieg schon Rauch aus dem einem oder anderen Schornstein auf. Leichter Dunst lag wie eine dünne Wolke über den Feldern und brach das Sonnenlicht.
Plötzlich fuhr Caitlin herum, als mit einem leisen Knarren die Tür aufging. Unwillkürlich ballte sie die Fäuste, während sie sich auf einen unwillkommenen Besucher einstellte.
Doch als die Tür sich weiter öffnete, wurden ihre Augen ganz groß vor Freude.
Es war Rose, die die Tür mit ihrer Nase aufschob.
»Rose!«, rief Caitlin entzückt aus.
Der kleine Wolf rannte durch die Kammer und sprang in Caitlins Arme. Dann leckte er ihr die Freudentränen aus dem Gesicht.
Schließlich lehnte sie sich zurück und betrachtete Rose. Sie hatte zugenommen und war deutlich gewachsen.
»Wie hast du mich gefunden?«, fragte Caitlin.
Erneut leckte der Wolf ihr über das Gesicht und winselte.
Caitlin setzte sich auf die Bettkante, streichelte das Tier und dachte scharf nach: Wenn Rose die Zeitreise geschafft hatte, dann war Caleb vielleicht genauso erfolgreich gewesen. Sie fühlte sich ermutigt.
Ihr Kopf sagte ihr, dass sie nach Florenz gehen sollte, um ihre Suche fortzusetzen. Der Schlüssel zu ihrem Vater und dem Schild lag dort.
Aber ihr Herz tendierte zu Venedig.
Denn wenn auch nur geringste Chance bestand, dass Caleb dort war, musste sie das unbedingt herausfinden. Sie musste einfach.
Also traf sie ihre Entscheidung, hob Rose hoch und sprang mit Anlauf aus dem Fenster.
Sie wusste, dass sie sich vollständig erholt hatte und ihre Flügel sich daher entfalten würden.
So war es dann auch.
Kurz darauf flog Caitlin durch die Morgenluft über die Hügel von Umbrien und schlug den Weg nach Norden ein, nach Venedig.
5. Kapitel
Kyle spazierte die schmalen Straßen des alten Stadtteils von Rom entlang. Es war gerade Geschäftsschluss, und die Ladenbesitzer sperrten ihre Läden zu. Die Zeit des Sonnenuntergangs hatte er immer schon am liebsten gemocht, denn zu dieser Tageszeit wurde er zunehmend stärker. Sein Blut pulsierte schneller, und mit jedem Schritt nahm seine Kraft zu. Er war so glücklich, wieder in den überfüllten Straßen von Rom zu sein, vor allem in diesem Jahrhundert. Die armseligen Menschen waren noch Hunderte von Jahren von jeglicher Überwachungstechnologie entfernt. Daher könnte er, wenn er wollte, diesen Ort völlig entspannt und sorglos auseinandernehmen, ohne sich vor Entdeckung zu fürchten.
Nun bog er in die Via Del Seminario ein, die bald in einen großen, alten Platz mündete, die Piazza Della Rotonda.
Dort blieb Kyle stehen, schloss die Augen und atmete tief durch. Es fühlte sich so gut an, endlich wieder hier zu sein. Direkt vor ihm stand das Gebäude, das er jahrhundertelang als sein Zuhause betrachtet hatte, einer der bedeutendsten Vampirstandorte auf der Welt: das Pantheon.
Zufrieden stellte Kyle fest, dass das Pantheon aussah wie immer, ein massives, altes Bauwerk aus Stein, dessen hinterer Bereich aus einer großen Kuppel bestand, während vorne riesige, imposante Steinsäulen das Bild dominierten. Tagsüber war es selbst im achtzehnten Jahrhundert für Besucher geöffnet. Horden von Menschen waren dort täglich zu sehen.
Doch nachts, nachdem die Tore für die Öffentlichkeit geschlossen worden waren, traten die eigentlichen Eigentümer, die eigentlichen Bewohner des Gebäudes auf den Plan: der Große Vampirrat.
Vampire von kleinen und großen Clans strömten aus allen Winkeln der Erde zusammen, um den Sitzungen beizuwohnen, die die ganze Nacht andauerten. Der Rat traf Entscheidungen in allen möglichen Angelegenheiten, erteilte Genehmigungen oder entzog sie wieder. Nichts passierte in der Welt der Vampire ohne ihre Kenntnis und – jedenfalls in den meisten Fällen – ohne ihre Zustimmung.
Alles passte perfekt. Das Gebäude war ursprünglich ein Tempel zu Verehrung heidnischer Götter gewesen. Es war immer schon ein Ort der Verehrung und der Versammlung der dunklen Vampirmächte gewesen. Jeder, der Augen im Kopf hatte, konnte die Oden an heidnische Götter, die Fresken, Gemälde und Statuen überall sehen. Jeder menschliche Besucher, der sich die Zeit nahm, die Mission des Ortes zu lesen, musste einfach verstehen, worin dessen wahrer Zweck bestand.
Und als wäre das noch nicht genug, waren auch noch alle bedeutenden Vampire dort begraben. Das Ganze war ein lebendes Mausoleum, der perfekte Ort für Kyle und seinesgleichen, um ihn als ihr Zuhause zu betrachten.
Als Kyle die Stufen hinaufstieg, hatte er das Gefühl, nach Hause zu kommen. Er marschierte geradewegs auf die riesengroße, eiserne Flügeltür zu und betätigte forsch viermal den Metalltürklopfer – das Signal für Vampire – und wartete dann.
Kurz darauf wurde die schwere Tür einen Spalt breit geöffnet, und Kyle sah ein unbekanntes Gesicht. Die Tür öffnete sich gerade eben weit genug, um Kyle einzulassen, dann wurde sie schnell wieder zugemacht.
Der große, kräftige Wachposten – er war noch größer als Kyle – sah auf ihn hinunter.
»Wirst du erwartet?«, fragte er misstrauisch.
»Nein.«
Kyle ignorierte den Wachposten einfach und ging an ihm vorbei. Doch dann spürte er plötzlich einen eiskalten Griff an seinem Arm und blieb stehen. Kochend vor Wut drehte er sich um.
Der fremde Vampir war genauso wütend.
»Ohne Termin kommt hier niemand rein«, knurrte er. »Du musst wieder gehen und ein anderes Mal wiederkommen.«
»Ich gehe hin, wohin ich will«, erwiderte Kyle schäumend vor Wut. »Und wenn du mich nicht auf der Stelle loslässt, wirst du es bitter bereuen.«
Der Wachposten erwiderte seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken, und gab keinen Deut nach.
»Wie ich sehe, ändern manche Dinge sich nie «, sagte plötzlich jemand. »Es ist in Ordnung, du kannst ihn loslassen.«
Der Griff um Kyles Arm lockerte sich, und als er sich umdrehte, sah er ein vertrautes Gesicht: Es war Lore, einer der Hauptberater des Großen Rates. Lächelnd sah er Kyle an und schüttelte langsam den Kopf.
»Kyle«, sagte er dann, »ich hätte nicht gedacht, dass ich dich noch mal wiedersehen würde.«
Immer noch kochend vor Wut zog Kyle seine Jacke glatt und nickte bedächtig. »Ich muss etwas mit dem Rat besprechen«, erwiderte er. »Und es duldet keinen Aufschub.«
»Tut mir leid, alter Freund«, fuhr Lore fort, »der Terminplan für heute ist komplett. Einige Vampire warten schon seit Monaten. Anscheinend gibt es in jedem Winkel der Welt dringende Probleme. Aber wenn du nächste Woche wiederkommst, kann ich vielleicht dafür sorgen …«
Jetzt trat Kyle einen Schritt vor. »Du verstehst mich nicht«, widersprach er angespannt. »Ich bin nicht aus dieser Zeit gekommen, sondern aus der Zukunft – von heute ausgehend in zweihundert Jahren. Aus einer ganz anderen Welt. Es geht um alles – wir stehen kurz vor dem Sieg, dem Gesamtsieg. Und wenn ich nicht sofort mit dem Großen Rat sprechen kann, wird das schwerwiegende Folgen für uns alle haben.«
Lores Lächeln verblasste, als er begriff, wie ernst es Kyle damit war. Nach einem kurzen angespannten Schweigen räusperte er sich schließlich und forderte ihn auf: »Komm mit.«
Als er sich umdrehte und ging, folgte Kyle ihm dicht auf den Fersen.
Der lange, breite Gang mündete in einen großen, offenen Saal. Er hatte eine hohe Kuppeldecke, und der Boden bestand aus glänzendem Marmor. Der Raum war rund, und am Rand befanden sich kunstvoll verzierte Säulen sowie Statuen, die auf Sockeln platziert waren.
An den Wänden standen Hunderte von Vampiren aus allen Teilen der Welt und von allen möglichen Clans. Kyle wusste, dass die meisten von ihnen Söldner und genauso böse waren wie er selbst. Geduldig beobachteten sie, wie der Große Rat, der am anderen Ende des Saales an der Richterbank saß, seine Urteile fällte. Die Luft vibrierte vor gespannter Erwartung.
Kyle trat ein und nahm die Szene in sich auf. Es war die richtige Entscheidung gewesen, sich an den Rat zu wenden. Natürlich hätte er sich auch dagegen entscheiden und Caitlin auf eigene Faust aufspüren können, doch der Rat verfügte über geheime Informationsquellen und würde ihn sicherlich schneller zu ihr führen. Zudem brauchte er ihre offizielle Genehmigung, denn Caitlin war nicht nur eine persönliche Angelegenheit für ihn, sondern eine Sache von äußerster Wichtigkeit für die gesamte Vampirwelt. Wenn der Rat ihn unterstützte – und dessen war er sich vollkommen sicher -, dann würde er nicht nur ihre Genehmigung bekommen, sondern auch auf ihre Ressourcen zurückgreifen können. Er könnte sie schneller töten und um so schneller wieder zurückkehren, um den Krieg zu Ende zu führen.
Ohne ihre Billigung wäre er nichts weiter als ein abtrünniger Einzelgänger. Eigentlich würde das Kyle nichts ausmachen, aber er wollte nicht ständig auf der Hut sein müssen: Wenn er gegen ihren Willen handelte, würden sie ihm vielleicht Jäger auf den Hals hetzen, die ihn töten sollten. Obwohl er zuversichtlich war, dass er gut auf sich aufpassen konnte, wollte er keine Zeit und keine Energie darauf verschwenden.
Doch falls sie sein Begehren abweisen sollten, war er bereit, alles zu tun, um Caitlin trotzdem zur Strecke zu bringen.
Letztendlich war das Ganze nur eine weitere Formsache unter endlos vielen anderen Formsachen. Diese Etikette war sozusagen der Klebstoff, der für den Zusammenhalt unter den Vampiren sorgte – aber trotzdem ärgerte Kyle sich maßlos darüber.
Als er nun in den Saal hineinging, musterte er die Ratsmitglieder. Sie sahen genauso aus, wie er sie in Erinnerung hatte. Die zwölf Richter des Großen Rates saßen erhöht auf einem Podium und trugen schlichte, schwarze Roben mit schwarzen Kapuzen, die auch ihre Gesichter bedeckten. Trotzdem wusste Kyle, wer diese Männer waren. Im Laufe der Jahrhunderte hatte er oft genug vor ihnen gestanden. Einmal – nur ein einziges Mal – hatten sie ihre Kapuzen abgesetzt, sodass er ihre unheimlichen, greisenhaften Gesichter hatte sehen können. Er zuckte innerlich zusammen, als er daran dachte. Sie waren hässliche Geschöpfe der Nacht.
Doch sie bildeten den Großen Rat und hatten immer schon hier residiert, seit das Pantheon erbaut worden war. Dieses Bauwerk war geradezu ein Teil von ihnen, und niemand, nicht einmal Kyle, wagte es, das Gericht in Frage zu stellen. Dafür war ihre Macht einfach zu groß, die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel einfach zu unermesslich. Selbst wenn Kyle versuchen würde, einen oder zwei der Richter zu töten, würden sie ihm ihre Armeen, die überall auf der Welt saßen, auf den Hals hetzen. Irgendwann würden sie ihn dann doch zur Strecke bringen.
Die zahlreichen Vampire im Saal waren gekommen, um Zeugen der Urteilsverkündungen zu sein und ihre eigene Audienz zu erwarten. Sie stellten sich immer ordentlich in einem großen Kreis an den Wänden auf und ließen das Zentrum des Raumes frei. Dort befand sich jeweils nur eine einzige Person – diejenige, die gerade vor Gericht stand.
Im Augenblick war das ein armer Kerl, der vor Furcht zitterte, während er auf die undurchschaubaren Kapuzen starrte und den Urteilsspruch der Richter erwartete. Kyle wusste, wie es sich anfühlte, an diesem Fleck zu stehen – es war alles andere als angenehm. Wenn ihnen die Angelegenheit nicht gefiel, wegen der man sich an sie gewendet hatte, konnte es sein, dass sie den Antragsteller aus einer Laune heraus einfach töteten. Man durfte das Ganze nie auf die leichte Schulter nehmen – es ging immer um Leben und Tod.
»Warte hier«, flüsterte Lore Kyle zu und verschwand dann in der Menge. Kyle blieb am Rand des Saals stehen und wartete.
Während Kyle den Burschen beobachtete, der gerade vor dem Richtergremium stand, nickte einer der Richter ganz leicht, und sofort tauchten zwei Vampire auf. Sie ergriffen die Person vor dem Gremium an beiden Armen.
»Nein! NEIN!«, schrie der Mann.
Doch es nützte ihm nichts. Sie zerrten ihn davon, obwohl er schrie und sich wehrte. Er wusste, dass ihm der Tod bevorstand und dass nichts, was er sagen oder tun könnte, etwas daran ändern würde. Offensichtlich hatte er den Rat um etwas gebeten, was nicht ihre Billigung fand. Die Schreie des armen Kerls hallten im Saal wider. Schließlich wurde er nach draußen geführt, und die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss. Daraufhin kehrte im Saal wieder Ruhe ein.
Kyle spürte die Anspannung, die in der Luft lag, als die anderen Vampire Blicke wechselten und den Augenblick fürchteten, wenn sie selbst an der Reihe waren.
Lore näherte sich einem Saaldiener, der sich in der Nähe des Richtertisches aufhielt, und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Saaldiener ging zu einem der Richter, kniete erst ehrerbietig nieder und flüstert ihm dann etwas zu.
Der Richter wandte ganz leicht den Kopf, und der Mann zeigte in Kyles Richtung. Trotz der großen Entfernung spürte Kyle, wie sich der stechende Blick des Richters, dessen Augen hinter der Kapuze verborgen waren, auf ihn richtete. Unwillkürlich lief ihm ein Schauder den Rücken hinunter. Schließlich stand er hier vor dem wahrhaft Bösen.
Als der Saaldiener nickte, war das Kyles Zeichen.
Er bahnte sich einen Weg durch das Gedränge und ging auf den Richtertisch zu. Auf dem bewussten Fleck mitten im Saal blieb er stehen. Er wusste, dass direkt über ihm ein Loch in der Decke war, ein Rundfenster, über dem der Himmel zu sehen war. Tagsüber fiel ein Lichtstrahl durch die Öffnung herein; jetzt am Abend war das einfallende Licht nur sehr schwach. Der Raum wurde hauptsächlich durch die Fackeln erhellt.
Kyle kniete nieder und verbeugte sich. Er verharrte in dieser Position, bis er angesprochen wurde – so verlangte es die Vampiretikette.
»Kyle vom Blacktide Clan«, sagte einer der Richter bedächtig. »Es ist kühn von dir, ohne Vorankündigung an uns heranzutreten. Du weißt, dass du die Todesstrafe riskierst, falls dein Ersuchen nicht auf unsere Zustimmung stoßen sollte.«
Es handelte sich nicht um eine Frage, sondern um eine Feststellung. Kyle kannte die möglichen Konsequenzen, doch er fürchtete sich nicht vor dem Ausgang dieser Angelegenheit.
»Dessen bin ich mir bewusst, mein Meister«, antwortete er bloß.
Nach einer kurzen Pause, in der nur das Rascheln der Richterroben zu hören war, richtete der Richter wieder das Wort an Kyle: »Dann sprich. Schildere uns dein Anliegen.«
»Ich komme gerade aus einer anderen Zeit, die zweihundert Jahre in der Zukunft liegt.«
Ein lautes Murmeln erhob sich unter den Anwesenden. Ein Saaldiener stieß seinen Stab dreimal auf den Boden und rief laut: »Ruhe!«
Schließlich beruhigte sich die Menge wieder.
Kyle fuhr fort: »Wie alle anderen von uns unternehme auch ich Zeitreisen nicht leichtfertig. Es geht um eine sehr dringende Angelegenheit. In der Zukunft, in der Zeit, in der ich normalerweise lebe, ist ein Krieg ausgebrochen – ein glorreicher Vampirkrieg. Er hat in New York begonnen und wird sich von dort aus weiter ausbreiten. Es ist die Vampirapokalypse, von der wir immer schon geträumt haben. Untere Gattung – die Bösen – werden daraus schließlich als Sieger hervorgehen. Die gesamte Menschheit wird ausgelöscht werden – die verbleibenden Menschen werden versklavt. Außerdem werden wir alle guten Vampirclans vernichten, alle, die sich uns in den Weg stellen.
Ich weiß das so genau, weil ich diesen Krieg anführe.«
Erneut erhob sich lautes Gemurmel, bis der Saaldiener wieder mit seinem Stab für Ruhe sorgte.
»Doch mein Sieg ist noch nicht vollständig«, rief Kyle über den Lärm. »Ein Stachel steckt noch in meinem Fleisch, es gibt eine Person, die alles zerstören kann, was wir erreicht haben. Sie allein kann unsere glorreiche Zukunft ruinieren. Diese junge Frau stammt von einem besonderen Geschlecht ab, und jetzt ist sie eben in diese Zeit hier gereist, wahrscheinlich, um mir zu entkommen. Ich bin hergekommen, um sie zu finden und zu töten. Bis mir das gelungen ist, liegt eine ungewisse Zukunft vor uns allen.
Jetzt bitte ich Euch um die Erlaubnis, sie zu töten, hier und in Eurer Zeit. Außerdem bitte ich Euch, mich bei der Suche nach ihr zu unterstützen.«
Kyle senkte den Kopf und wartete. Sein Herz schlug schneller. Natürlich lag es auch in ihrem Interesse, ihm zu helfen, er sah keinen Grund, warum sie sein Gesuch ablehnen sollten. Doch diese Kreaturen, die schon seit Millionen von Jahren lebten und sogar noch älter waren als er, waren vollkommen unberechenbar. Ihre Absichten ließen sich nie erraten, und ihre Entscheidungen wirkten so willkürlich wie der Wind.
Während er wartete, wurde die Stille immer lastender.
Endlich war ein Räuspern zu hören.
»Natürlich wissen wir, von wem du sprichst«, sagte einer der Richter mit rauer Stimme. »Du meinst Caitlin vom Pollepel Clan. Eigentlich stammt sie einem anderen, viel mächtigeren Clan ab. Ja, es stimmt, sie ist gestern in unserer Zeit eingetroffen. Selbstverständlich wissen wir das. Und wenn wir sie töten wollten, glaubst du nicht, wir hätten das selbst erledigt?«
Kyle hütete sich, die Frage zu beantworten. Schließlich kannte er ihren Stolz. Er würde sie einfach zu Ende reden lassen.
»Doch wir bewundern deine Entschlossenheit und deinen Krieg in der Zukunft«, fuhr der Richter fort. »Ja, das bewundern wir sehr.«
Erneut legte sich ein lastendes Schweigen über den Saal.
»Wir erlauben dir, sie aufzuspüren«, fuhr der Vampir schließlich fort, »doch wenn du sie findest, wirst du sie nicht töten, sondern sie gefangen nehmen und zu uns bringen. Wir möchten sie lieber selbst umbringen und dabei zusehen, wie sie ganz langsam stirbt. Sie ist eine perfekte Kandidatin für die Spiele.«
Kyle spürte, wie er vor Wut wieder zu kochen begann. Die Spiele. Natürlich. Etwas anderes interessierte diese kranken, alten Vampire nicht. Jetzt fiel es ihm wieder ein: Sie hatten das Kolosseum in eine Sportarena verwandelt, in der Vampire gegen Vampire antraten, Vampire gegen Menschen oder Vampire gegen wilde Tiere. Sie liebten es, dabei zuzusehen, wie sie alle sich gegenseitig in Stücke rissen. Das Spiel war grausam, und in gewisser Weise gefiel es Kyle.
Aber es war nicht das, was er für Caitlin wollte. Er wollte sie tot sehen, und damit basta. Zwar hätte er nichts dagegen, wenn sie gefoltert würde, doch gleichzeitig wollte er auch keine Zeit verschwenden und auf keinen Fall irgendetwas dem Zufall überlassen. Natürlich hatte bisher niemand die Spiele überlebt oder war geflüchtet, aber man konnte nie wissen.
»Aber meine Meister«, protestierte Kyle, »wie Ihr bereits gesagt habt, stammt Caitlin von einer sehr mächtigen Familie ab und ist daher wesentlich gefährlicher und schwerer fassbar, als man sich vorstellen kann. Ich erbitte Eure Erlaubnis, sie auf der Stelle töten zu dürfen. Es steht zu viel auf dem Spiel.«
»Du bist noch jung«, mischte sich ein anderer Richter ein, »und deshalb verzeihen wir dir, dass du unser Urteil in Frage gestellt hast. Jeden anderen hätten wir auf der Stelle töten lassen.«
Kyle senkte den Kopf. Ihm wurde klar, dass er zu weit gegangen war. Niemand widersprach den Richtern – niemals.
»Sie ist in Assisi. Dorthin wirst du als Nächstes gehen, beeil dich und lass dich nicht aufhalten. Nun, da du es erwähnt hast, freuen wir uns schon richtig auf das Schauspiel.«
Kyle drehte sich um und wollte gehen.
»Und Kyle«, rief einer von ihnen ihm nach.
Er wirbelte herum.
Der Oberrichter zog seine Kapuze zurück und enthüllte die hässlichste Fratze, die Kyle je gesehen hatte – sie war vollständig mit Warzen und Beulen überzogen. Dann öffnete er den Mund und lächelte ein grässliches Lächeln, bei dem scharfe, gelbe Zähne zu sehen waren. Seine schwarzen Augen funkelten, als sein Grinsen noch breiter wurde. »Das nächste Mal, wenn du ohne Vorankündigung hier auftauchst, wirst du derjenige sein, der ganz langsam sterben wird.«
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.