Kitabı oku: «Die Kugel von Kandra », sayfa 2
KAPITEL ZWEI
Malcolm Malice hob die Armbrust und zielte. Er stemmte die Beine fest in den Boden. Dann drückte er ab.
Der Pfeil zischte los und durchschnitt die Luft, bevor er mitten ins Schwarze traf. Ein perfekter Schuss.
Malcolm grinste zufrieden.
„Großartig, Malcolm“, sagte Coach Royce. „Von meinem besten Schüler habe ich nichts anderes erwartet.“
Stolz gab Malcolm ihm die Armbrust zurück und stellte sich wieder zu seinen Klassenkameraden. Ein paar Kinder warfen ihm neidische Blicke zu.
„Bester Schüler“, murmelte einer genervt.
Leises Gelächter machte sich breit.
Malcolm ignorierte es. Er hatte wichtigere Dinge im Kopf. Er war zwar erst seit ein paar Monaten an der Obsidian-Schule, aber er hatte jetzt schon ein paar Kinder überholt, die seit Jahren hier lernten. Er war ein mächtiger Seher. Seine atomische Begabung war die Stärkste von allen und dazu war er eine seltene Mischung aus Kobalt und Brom.
Wenn die anderen Kinder nicht mit ihm befreundet sein wollten, war das ihr Problem. Bevor er an die Obsidian-Schule gekommen war, hatte er schließlich auch keine Freunde gehabt. Warum sollte er jetzt also Wert darauf legen? Malcolm war schließlich nicht hierhergekommen, um Freundschaften zu schließen. Er war hier, um der Beste zu werden, um alle anderen Seher zu übertreffen, besonders diese Loser von der Amethyst-Schule.
Plötzlich spürte er, wie etwas in seinen Hinterkopf stach. Instinktiv ließ er seine Hand an die brennende Stelle wandern und als er sie wegnahm, lag eine tote Biene in seiner Handfläche.
Das war kein Zufall. Jemand hatte seine Kräfte gegen ihn eingesetzt. Er drehte sich wütend um und suchte nach dem Täter. Sein Blick fiel auf Candice, die ihr dämliches Grinsen kaum verbergen konnte.
Aus schmalen Augen sah Malcolm sie an. „Das warst du.“
„Das war eine Biene“, entgegnete sie unschuldig.
„Wer soll es sonst gewesen sein? Du glaubst wohl, deine biologische Begabung wäre etwas ganz Besonderes!“
Candice hob die Schultern.
Coach Royce klatschte laut in die Hände. „Malcolm Malice, hier spielt die Musik! Nur weil du es schon kannst, heißt das nicht, dass der Unterricht für dich beendet ist. Etwas mehr Respekt für deine Mitschüler, die sollen es wenigstens probieren.“
Malcolm biss sich auf die Zunge. Jetzt bekam er auch noch Ärger wegen dieser kleinen Zicke! Die Ungerechtigkeit brannte ebenso wie der Bienenstich.
Malcolm versuchte, sich auf seine Klassenkameraden zu konzentrieren, die abwechselnd mit der Armbrust übten. Es war ein gewöhnlicher Tag bei Obsidian, der Himmel war trüb, ein leichter Nebel lag in der Luft. Das große Spielfeld erstreckte sich bis zum imposanten Herrenhaus, in dem die Schule für Seher von Madame Obsidian untergebracht war.
Jetzt war Candice an der Reihe. Ihr Pfeil flog weit am Ziel vorbei und Malcolm konnte nicht anders, als über ihre Unfähigkeit zu schmunzeln.
„Dies ist eine Disziplin, die ihr absolut perfekt beherrschen müsst“, rief Coach Royce. „Wenn es zu einem Kampf gegen Amethyst-Seher kommt, sind es genau solche Fertigkeiten, auf die sie nicht vorbereitet sind. Sie sind so starr auf ihre Begabung fixiert, dass sie die guten alten Kampfkünste vollkommen vernachlässigen.“
Malcolms Mundwinkel wanderten noch weiter nach oben. Alleine der Gedanke, diesen albernen Sehern von Professor Amethysts Schule in den Hintern zu treten, ließ ihn innerlich feiern. Er konnte es kaum erwarten, endlich einem dieser Verlierer gegenüberzustehen. Dann würde er ihnen zeigen, wer der Boss ist und warum Obsidian die bessere Schule war. Obsidian hatte es verdient, die einzig wahre Schule für Seher zu sein!
In diesem Moment bemerkte Malcolm, dass einige Kinder aus dem zweiten Jahr mit Hockeyschlägern in der Hand auf den Sportplatz kamen. Natasha Armstrong war auch unter ihnen. So wie er besuchte auch sie die Privatstunden in der Bibliothek für begabte Schüler. Obwohl er mit zwölf Jahren der jüngste war, waren die anderen immer nett zu ihm. Besonders Natasha. Sie würde sich nie über ihn lustig machen, weil er klug war. Und sie teilte seinen Hass auf die Amethyst-Schule.
Natasha winkte ihm zu. Hübsche Grübchen erschienen in ihren Wangen. Malcolm winkte zurück und spürte, wie seine eigenen Wangen warm wurden.
Doch da hörte Malcolm Candice zuckersüß in sein Ohr flüstern. „Ach ist das putzig, Malcolm ist verknallt!“
Malcolm blickte weiter geradeaus und versuchte ihre Sticheleien zu ignorieren. Candice war nur eifersüchtig. Schließlich hatte er sie zurückgewiesen und jetzt interessierte sich ein älteres, hübscheres Mädchen für ihn.
Als die andere Klasse ihr Hockey-Match begann, blickte Malcolm zu dem riesigen, imposanten viktorianischen Herrenhaus der Obsidian-Schule mitsamt ihrem Turm auf. Ganz oben im höchsten Zimmer konnte er die dunkle Gestalt von Madame Obsidian am Fenster stehen sehen. Sie blickte auf ihre Schüler herab. Es kam ihm vor, als würde sie ihn direkt ansehen.
Er lächelte still. Malcolm wusste, dass sie ihn im Auge behielt. Sie hatte ihn für eine besondere Mission auserwählt. Morgen würde er Madame Obsidian treffen und dann würde sie ihm alles genau erklären. Bis dahin musste er die Neckereien der anderen Kinder noch ertragen. Aber bald würden sie zu ihm aufblicken und ihn anhimmeln! Der Name Malcolm Malice würde jedem Seher in jeder Zeitlinie bekannt sein. Er würde in allen Geschichtsbüchern stehen.
Als der Junge, der Professor Amethyst und seine Schule für Seher ein für alle Mal zerstörte.
KAPITEL DREI
Oliver fiel ein Stein vom Herzen. Armando erinnerte sich wirklich an ihn! Obwohl er die Ereignisse der Vergangenheit verändert hatte, hatte sein Held ihn nicht vergessen.
„Du… du weißt, wer ich bin?“, stotterte Oliver.
Armando ging zu ihm. Sein Gang war ein wenig aufrechter und seine Haltung ein wenig erhabener als bei ihrem letzten Zusammentreffen in dieser Zeitachse. Er trug auch bessere Kleidung, dunkle Stoffhosen und ein Hemd, das seinem Status als Wissenschaftler entsprach. Es war nicht derselbe Armando, der ihm am Tag des großen Sturms Zuflucht gewährt hatte. Er war nicht mehr der gebeugte, etwas heruntergekommene Geheimniskrämer, der jahrelang als Verrückter Erfinder in Einsamkeit gelebt hatte. Dies war ein Mann, der stolz auf sich und sein Lebenswerk sein konnte.
Er tätschelte Olivers Schulter. „Ich weiß noch, wie du mir vor vielen Jahren – ich glaube es war 1944 – gesagt hast, dass in siebzig Jahren alles Sinn ergeben würde. Und jetzt ist es wahr geworden. Lucas hat jahrelang hinter meinem Rücken gegen mich gearbeitet.“ Er schüttelte betreten den Kopf. „Ich hätte aber nicht gedacht, dass er versuchen würde, mich umzubringen.“
Oliver fühlte einen Stich im Herzen. Armando hatte Lucas vertraut und zum Dank hat er ihn auf die schrecklichste Art und Weise hintergangen.
„Aber das ist jetzt vorbei. Dank dir!“, sagte Armando.
Oliver war stolz auf sich. Dann musste er wieder an die Unterhaltung mit Professor Amethyst denken. Es war eben nicht vorbei. Er hatte noch einiges zu tun. Die Arbeit eines Sehers war nie zu Ende und sein Schicksal war mit Armandos Schicksal eng verwoben. Er wusste nur noch nicht genau, auf welche Art.
Der Gedanke an Professor Amethyst versetzte Oliver einen weiteren Stich. Sanft berührte er das Amulett. Es war kalt. Es gab also momentan keinen Weg zurück in die Schule für Seher. Vielleicht würde es ihn nie geben. Er dachte an seine Freunde Walter, Simon, Ralph, Hazel und vor allem Esther. Würde er sie je wiedersehen? Würde er je wieder mit ihnen Switchit spielen? Unter dem riesigen Kapokbaum sitzen?
Armando lächelte ihn gütig an. „Da wir uns nie richtig kennengelernt haben, möchte ich mich dir in aller Förmlichkeit vorstellen. Ich bin Armando Illstrom von Illstroms Erfindungen.“
Oliver nahm seine ausgestreckte Hand und spürte, wie sich ein warmes Gefühl in seinem Körper ausbreitete.
„Ich bin Oliver Blue von …“
Er hielt inne. Von was eigentlich? Gab es irgendeinen Ort, zu dem er gehörte? Weder die Schule für Seher, noch die Fabrik in dieser neuen Realität oder der neue Armando, den er nie wirklich kennen gelernt hatte. Und ganz sicher nicht das kaputte Haus seiner alten Familie in New Jersey – die gar nicht seine richtige Familie war.
„Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht genau, wohin ich gehöre“, sagte er traurig.
Armando sah ihn lange an.
„Vielleicht ist das deine wahre Mission, Oliver Blue?“, sagte Armando leise. „Vielleicht bist du hier, um deinen Platz in der Welt zu finden.“
Oliver dachte über seine Worte nach. Er dachte an seine leiblichen Eltern, die Frau und den Mann aus seinen Visionen. Er wollte sie finden.
Aber er war verwirrt.
„Ich dachte, meine Mission war es, dich zu retten“, sagte er.
Armando lächelte.
„Missionen können komplizierter sein, als sie auf den ersten Blick scheinen“, erwiderte er. „Mich zu retten und dich selbst zu finden schließt sich nicht gegenseitig aus. Schließlich hat deine Identität dich zu mir gebracht.“
Oliver schwieg. Vielleicht hatte er recht, vielleicht war er nicht nur aus einem Grund zurückgekehrt, vielleicht gab es eine ganze Reihe von Aufgaben, aus denen seine Mission bestand.
„Aber ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll zu suchen“, gestand Oliver.
Armando tippte sich ans Kinn. Dann erhellte sich seine Miene plötzlich.
Er eilte zu seinem Schreibtisch und schnippte mit den Fingern. „Aber natürlich!“
Oliver stutzte. Er beobachtete neugierig, wie Armando in einer Schublade wühlte. Dann zog er etwas heraus und kam damit zurück zu Oliver.
„Hier!“
Er legte Oliver ein rundes Objekt aus Bronze in die Hand. Oliver sah es lange an. Es sah sehr alt aus.
„Ist das ein Kompass?“, fragte er und hob eine Augenbraue.
Armando schüttelte den Kopf. „Es sieht ein wenig so aus, aber ich glaube, dass mehr dahinter steckt! Leider habe ich nie ganz herausgefunden, was es wirklich ist.“
Oliver starrte es fasziniert an. Unzählige Ziffern und Symbole waren in die Oberfläche eingraviert. „Woher kommt es her?“
„Es lag eines Tages vor dem Eingang meiner Fabrik“, sagte Armando. „Ich weiß nicht, wer es dorthin gelegt hat, oder wozu es gut ist, aber ich bin sicher, dass es nicht für mich bestimmt war. Dreh es um.“
Als Oliver Armandos Aufforderung folgte, wurden seine Augen groß. Auf der Unterseite des Objekts waren zwei Buchstaben eingraviert.
O.B.
Vor Schreck hätte er den Kompass beinahe fallen lassen. Sein Blick schoss hoch zu Armando.
„Das sind ja meine Initialen!“, sagte er atemlos. „Aber wie? Warum? Wer sollte etwas für mich hier hinterlassen haben?“
Armando holte tief Luft. „Ich war dazu bestimmt, einem Seher die Richtung zu weisen. Dir, Oliver. Zuerst hatte ich gedacht, es wäre Lucas, aber das war falsch. Als du 1944 erschienen bist und mir deine Kräfte offenbart hast, habe ich den Irrtum bemerkt. Danach habe ich immer darauf gewartet, dem wahren Seher zu begegnen. Dieser Kompass lag vor elf Jahren, am zweiten Dezember, vor meiner Tür.“
„An meinem Geburtstag“, flüsterte Oliver.
„Ich glaube, dass deine Eltern diesen Kompass zu mir gebracht haben“, sagte Armando.
Oliver wurde schwindelig. Er konnte es nicht glauben. Hielt er wirklich ein Geschenk von seinen leiblichen Eltern in den Händen? Etwas, das sie Armando anvertraut hatten, damit er es an ihn weitergeben konnte?
„Meine Eltern?“, flüsterte er.
Das musste ein Zeichen des Universums sein.
„Warum glaubst du, dass es von ihnen kommt?“, fragte Oliver.
„Sieh dir die Symbole genauer an“, sagte Armando.
Oliver hob den Kompass ins Licht und untersuchte die Zahlen und Zeichen. Sie waren in einer Art Drehscheibe angeordnet und kleine Pfeile zeigten auf bestimmte Symbole. Es erinnerte Oliver an die Hieroglyphen der alten Ägypter. Schlichte Striche und Kreise, aber ihre Bedeutung lag auf der Hand. Menschen, Tiere, Ziffern, Elemente wie Wasser und Luft. Ein Pfeil zeigte ganz deutlich auf einen Mann und eine Frau.
Jetzt war sich Oliver sicher, was es zu bedeuten hatte. Seine Eltern!
„Was wissen Sie über sie?“, fragte er aufgeregt. „Haben Sie sie gesehen? Haben sie eine Nachricht hinterlassen? An mich vielleicht?“
Zögerlich schüttelte Armando den Kopf. „Leider weiß ich nichts, mein Junge. Aber vielleicht wird dir dieser Kompass helfen herauszufinden, wer du wirklich bist.“
Oliver sah wieder den Kompass an. Es sah merkwürdig aus mit der Drehscheibe und den Symbolen. Er wusste zwar nicht, was genau er bewirken sollte, aber er war sich ganz sicher, dass es von Bedeutung war. Und er wusste, dass er seine Eltern suchen würde. Er musste herausfinden, wer er war und woher er kam. Dass er jetzt etwas von ihnen in der Hand halten konnte, gab ihm Kraft.
Plötzlich bemerkte er, wie sich die winzige Scheibe bewegte. Sie bewegte sich zu einem Symbol, das drei Wellenlinien zeigte. Oliver dachte sofort an Wasser. Er rieb mit dem Daumen über das Symbol. Dabei löste sich eine Staubschicht und überrascht stellte er fest, dass das Symbol bunt war. Die Linien leuchteten jetzt in tiefem Blau.
„Ich weiß, wo ich suchen muss“, sagte er entschlossen.
Blau. Die Blues, die Familie, in der er aufgewachsen war. Wenn jemand wissen musste, woher er kam, dann sie.
Außerdem hatte er mit ihnen noch eine Rechnung zu begleichen.
Es war Zeit, seinen Bruder Chris zur Rechenschaft zu ziehen für all die Quälereien, die er Oliver angetan hatte.
KAPITEL VIER
Am diesem dunklen und stürmischen Abend machte sich Oliver auf den Weg. Er verließ die Fabrik und ging durch die Straßen von New Jersey. Gegenstände, die der Sturm durch die Luft gewirbelt hatte, lagen in Trümmern über die Bürgersteige verstreut. Der Wind wehte immer noch stark.
Schnell bemerkte Oliver, dass die Gebäude, Straßen und Gehwege nicht mehr aussahen wie früher, obwohl es dieselbe Gegend war. Alles war anders, neuer, sauberer und wohlhabender. In den Vorgärten waren Sträucher und Blumenbeete anstatt kaputter Waschmaschinen und Autos. Im Asphalt waren keine Schlaglöcher und an den Laternen lehnten keine verrosteten, verlassenen Fahrräder.
Oliver wurde klar, dass alleine durch die Tatsache, dass Armandos Fabrik nicht vor vielen Jahren geschlossen hatte, viele Leute ihre Arbeitsplätze behalten hatten und nicht weggegangen waren. Die Veränderungen, die er in dieser Stadt bewirkt hatte, schienen weitreichendere Auswirkungen nach sich zu ziehen, als Oliver für möglich gehalten hätte. Er war plötzlich überwältigt von der enormen Verantwortung, die ein Seher den Menschen gegenüber trug. Jede einzelne Veränderung in der Vergangenheit konnte für immer die Geschichte beeinflussen. Aber gleichzeitig war er auch stolz, denn die Dinge hatten sich eindeutig zum Besseren verändert.
Oliver wartete an der Bushaltestelle. Das Schild war nicht mehr verrostet. Im Gegenteil! Es glänzte. Der Bus kam und Oliver stieg ein. Im Bus roch es diesmal nicht nach Zwiebeln und fettigem Essen wie damals, sondern nach Reinigungsmittel und Aftershave.
„Bist du nicht etwas zu jung, um zu dieser Uhrzeit noch alleine unterwegs zu sein?“, fragte der Fahrer.
„Ich bin auf dem Heimweg“, entgegnete er und gab dem Fahrer etwas Geld.
Der sah ihm besorgt hinterher, als Oliver sich einen Platz aussuchte.
Selbst der Busfahrer ist netter als damals!, dachte er.
Als der Bus losfuhr, überlegte Oliver, wie er seine Familie zuletzt erlebt hatte. Er war am Tag des Sturmes nicht nach Hause gekommen und Mr. und Mrs. Blue machten sich wahrscheinlich Sorgen. Für Oliver war schwer zu glauben, wie viel er seit jenem Tag erlebt hatte. Er ist durch die Zeit gereist – mehr als einmal. Er ist Hitler begegnet und ist auf einem fantastischen Tier aus dem vierten Jahrtausend hinter einem Ball hergeflogen. Er hatte Kinder aus allen möglichen Zeitachsen kennen gelernt und vor allem hatte er herausgefunden, dass die Blues nicht seine richtigen Eltern waren. Nur hatten sie keine Ahnung von alldem. Für sie hatte sich Oliver sich auf dem Heimweg von der Schule verspätet. Oliver bezweifelte, dass sie sich über seine Rückkehr freuen würden. Wahrscheinlich würden sie sich nur darüber beklagen, dass er ihnen Sorgen bereitet hatte.
Gedankenversunken griff er nach dem Kompass in seiner Tasche. Er konnte sich daran nicht satt sehen. Das Kupfer war etwas verfärbt, so alt war es. Oliver freute sich darauf, es richtig zu polieren. Abgesehen davon war es in einwandfreiem Zustand. Er hätte stundenlang die unzähligen winzigen Symbole und Pfeile untersuchen können. Dann stellte er sich vor, wie seine wahren Eltern ihn in der Hand hielten. Wofür hatten sie den Kompass benutzt? Und warum hatten sie ihn Armando gegeben?
Oliver war so in Gedanken versunken, dass er beinahe seine Haltestelle verpasst hätte. Er sprang auf, drückte auf die Klingel und eilte nach vorne. Der Fahrer hielt an und ließ ihn aussteigen.
„Pass gut auf dich auf, Junge. Der Sturm ist noch nicht vorbei“, warnte der Fahrer ihn.
„Das werde ich, danke!“, rief Oliver und sprang hinaus auf den Gehsteig.
Als er aufblickte, konnte er seinen Augen kaum trauen. Das hatte er wirklich nicht erwartet. Die damals so heruntergekommene Gegend sah auf einmal gepflegt und freundlich aus. Er bezweifelte, dass die Blues sich ein Haus in dieser Straße leisten konnten. Oliver zögerte. Vielleicht wohnten sie gar nicht hier?
Er warf einen verstohlenen Blick auf den Kompass. Er zeigte noch immer auf einen Mann und eine Frau und die gewellten, blauen Linien. Wenn er die Zeichen richtig deutete, war das hier der Ort, an dem seine Familie wohnte.
Sein Herz klopfte wild, als er durch den Garten zur Haustür ging. Er steckte seinen Schlüssel in das Schloss. Er passte! Dann sperrte er auf und ging hinein.
Im Haus war alles dunkel und still. Er hörte nur das leise Ticken einer Uhr und ein Schnarchen in einem der oberen Räume. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie spät es sein musste.
Doch als er ins Wohnzimmer schlich, erschrak er. Auf dem Sofa saßen seine Eltern. Obwohl es dunkel war, sah er, wie blass und erschöpft sie aussahen.
Als sie ihn bemerkten, sprang seine Mutter auf.
„Oliver!“, rief sie.
Sein Vater ließ das Telefon fallen, das er in der Hand gehalten hatte. Er starrte Oliver an, als wäre er ein Geist.
„Wo bist du nur gewesen? Und was um Himmel Willen hast du da an?“
Oliver fiel keine gute Erklärung für den blauen Overall ein, aber das machte auch nichts, denn er kam ohnehin nicht zu Wort. Sein Vater polterte sofort los.
„Wir sind fast umgekommen vor Sorge! Wir haben die Polizei gerufen, in sämtlichen Krankenhäusern gesucht, den Schuldirektor der Campbell High terrorisiert! Wir haben uns sogar an die Zeitungen gewendet!“
Oliver kreuzte die Arme vor der Brust. Er dachte an den Zeitungsartikel, in dem seine Eltern um Spendengelder gebeten haben. Das war zwar vor der großen Veränderung der Geschichte geschehen, aber das bedeutete nicht, dass es nicht auch in dieser Realität geschehen wäre.
„Natürlich habt ihr das“, murmelte er.
„Warum warst du nicht im Bus?“, fragte seine Mutter. „Chris hat den Bus ohne Probleme erwischt, warum warst du nicht bei ihm?“
„Ich glaube, ich kenne den Grund“, unterbrach sein Vater. „Oliver hatte den Kopf mal wieder in den Wolken und hat nicht nachgedacht. Du kennst ihn doch, er lebt in seiner eigenen Welt.“ Er seufzte laut. „Ich werde morgen früh in der Schule anrufen und mich entschuldigen. Hast du eine Ahnung, wie peinlich mir das ist?“
Mom schüttelte den Kopf. „Wo warst du? Hast du dich verlaufen? Du musst doch halb erfroren sein! Hoffentlich lernst du etwas daraus!“
Oliver ließ Tiraden seiner Eltern über sich ergehen. Zum ersten Mal prallten ihre harten Worte an ihm ab. Ihre wütenden Gesichter schüchterten ihn nicht mehr ein.
Oliver erkannte, wie sehr er sich verändert hatte – wie sehr die Schule für Seher ihn verändert hatte. Außerdem wusste er jetzt, dass die Blues nicht seine richtige Familie waren. Es war, als hätte er einen unsichtbaren Mantel um seine Schultern gelegt, der ihn vor allem Übel beschützen würde. Er war ein Seher und alleine diese Gewissheit machte ihn stark.
Er stand selbstbewusst vor ihnen und wartete geduldig ab, bis sie ihre Wut an ihm ausgelassen hatten.
Aber bevor es soweit war, hörte er jemanden die Treppe herunterpoltern. Schon erschien Chris im Türrahmen.
„Was machst du denn hier? Ich dachte du wärst im Sturm verreckt.“
„Chris!“, rief Dad empört.
Zum ersten Mal hatte Oliver das Gefühl, dass seine Eltern für ihn Partei ergreifen und sich gegen Chris stellen würden. Aber nichts geschah.
Oliver sah seinen Bruder lange an. Er hatte keine Angst mehr vor ihm. Er sah ihn jetzt mit ganz anderen Augen.
„Ich habe mich versteckt. Vor dir. Du und deine gewalttätigen Freunde habt mir damit gedroht, mich zu verprügeln, weißt du noch?“
Chris machte ein überraschtes Gesicht. „Das habe ich nicht! Du lügst!“
Mom vergrub das Gesicht in den Händen. Sie hasste die ewigen Streitereien, aber sie schritt auch nicht ein.
Oliver schüttelte den Kopf. „Mir ist egal, was du über mich sagst. Du weißt so gut wie ich, dass ich nicht lüge.“ Dann verschränkte er die Arme. „Ich bin ohnehin nur gekommen, um euch zu sagen, dass ich weggehen werde.“
Mom hob schlagartig den Kopf. „Bitte was?“
Dad sah Oliver wütend an. „Weggehen? Du bist elf Jahre alt! Wohin gedenkst du bitte zu gehen?“
Oliver hob die Schultern. „Das weiß ich noch nicht. Aber ich weiß jetzt, dass ihr nicht meine echten Eltern seid.“
Fassungslos starrten sie ihn an. Für einen kurzen Augenblick war es mucksmäuschenstill im Raum.
„Was redest du denn da? Natürlich sind wir deine Eltern“, protestierte seine Mutter weinend.
Oliver sah sie streng an. „Du lügst. Ihr seid es nicht. Wer sind meine echten Eltern und was ist ihnen zugestoßen?“
Jetzt sah seine Mutter aus, als hätte man sie bei einem Verbrechen ertappt. Sie sah sich um, als suchte sie nach einem Ausweg.
„Na gut“, sagte sie schließlich. „Du bist adoptiert.“
Oliver nickte. Er hatte angenommen, dass ihn diese Worte erschüttern würden, aber jetzt war es fast eine Erleichterung, die Wahrheit zu hören. Es bestätigte, dass das Paar aus seiner Vision seine echten Eltern waren und nicht diese furchtbaren Leute hier. Chris war blass. Er sah aus. Als würde er gleich umfallen.
„Wir wissen nichts über deine echten Eltern. Man hat uns nichts über sie gesagt“, fuhr seine Mutter fort.
Oliver war enttäuscht. Er hatte gehofft, wenigstens ein paar Informationen über sie herauszubekommen.
„Nicht einmal ihre Namen?“, flüsterte er.
Dad meldete sich jetzt zu Wort. „Weder ihre Namen, noch sonst irgendetwas. Adoptiveltern bekommen keinerlei Informationen über die Abstammung des Kindes. Du könntest der Sohn eines Schwerverbrechers sein. Eines Verrückten. Wer hätte dich genommen, wenn das bekannt wäre?“
Oliver sah ihn wütend an. Er war sich sicher, dass seine Eltern weder das eine noch das andere waren, aber es war schrecklich, dass Mr. Blue solche Dinge überhaupt sagte. „Warum habt ihr mich dann adoptiert?“, fragte er.
„Deine Mutter wollte unbedingt ein zweites Kind. Ich habe es nie verstanden.“
Damit setzte er sich neben seine Frau auf die Couch. Oliver starrte sie entsetzt an. Das war ein Schlag in den Magen. „Und weil du mich nicht wolltest, hast du mich so schlecht behandelt.“
„Du solltest dankbar sein!“, erwiderte Mr. Blue, doch er wich Olivers Blick aus. „Die meisten Kinder verrotten in irgendwelchen Heimen!“
„Dankbar? Ich soll dankbar sein, dass ich kaum zu essen bekommen habe? Dass ich nie neue Kleidung oder ein Spielzeug hatte? Dankbar für eine alte Matratze in einer windigen Nische?“
„Wir sind hier nicht die Unmenschen! Deine Eltern haben dich einfach im Stich gelassen! Ihnen kannst du Vorwürfe machen, aber nicht uns“, rief seine Mutter unter Tränen.
Oliver hörte sich alles an. Ob ihn seine Eltern im Stich gelassen hatten oder nicht, konnte er nicht wissen. Aber er würde es irgendwann herausfinden. Jetzt musste er zuerst mit seinen falschen Eltern abschließen.
„Endlich sagt ihr die Wahrheit“, sagte Oliver.
„Der Hosenscheißer ist gar nicht mein Bruder?“, fragte Chris schließlich.
„Chris!“, schrie seine Mutter.
„So etwas sagt man nicht“, fügte Dad hinzu.
„Und jetzt, Christopher John Blue, möchte auch ich die Wahrheit sagen. Dein geliebter Sohn – dein leiblicher Sohn – ist ein Tyrann. Er hat mir das Leben zur Hölle gemacht. Nicht nur mir, auch zahlreichen Kindern in der Schule.“
„Stimmt nicht!“, rief Chris. „Glaubt ihm kein Wort, er ist nicht einmal euer Sohn! Er ist ein Nichts! Ein Niemand!“
Mom und Dad sahen Chris entsetzt an.
Oliver lächelte. „Ich denke, du hast soeben zu erkennen gegeben, was man über dich wissen muss.“
Niemand sagte mehr etwas. Die Wahrheit gefiel ihnen nicht. Aber Oliver war noch nicht fertig. Er ging im Raum auf und ab, um alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
„Ich werde euch sagen, wie es jetzt weiter geht“, erklärte er. „Ihr wollt mich nicht und ich will euch auch nicht mehr. Ihr seid nicht meine Familie, also werde ich gehen. Ihr werdet nicht nach mir suchen, ihr werdet mit niemandem über mich reden. Von heute an wird es sein, als hätte ich nie existiert. Dafür werde ich nicht zur Polizei gehen und von den unzähligen Malen erzählen, die ich von Chris misshandelt wurde, von euch nichts zu essen bekommen habe, weder ein Bett hatte noch irgendeinen emotionalen Rückhalt. Verstanden?“
Er sah vom einem zum anderen. Drei Paar blaue Augen sahen ihn ungläubig an. Dass ihm vorher nie aufgefallen war, dass er mit seinen braunen Augen nicht in diese Familie gehören konnte, war ihm jetzt unerklärlich.
„Ob wir uns verstanden haben?“, wiederholte er noch einmal lauter.
Zufrieden sah er, wie sie nickten. Sogar Chris.
„Einverstanden“, murmelte Dad.
„Gut. Dann werde ich jetzt meine Sachen packen und gehen.“
Er spürte, dass sie ihn dabei beobachteten, als er zu seiner Nische ging, seinen kleinen Koffer schnappte und seine wenigen Habseligkeiten darin verstaute – seine Erfindungen und sein Buch. Dann nahm er den Kompass aus der Tasche und legte ihn ganz oben in den Koffer.
Gerade als er den Koffer schließen wollte, fiel ihm auf, dass sich die Drehscheibe bewegt hatte. Ein Pfeil zeigte jetzt auf etwas, das Oliver an einen Bunsenbrenner erinnerte, und ein anderer zeigte auf die Figur einer Frau. Ein dritter Pfeil zeigte auf eine Art Kappe, wie man sie beim Universitätsabschluss trug. Oliver zerbrach sich den Kopf darüber, was das bedeuten konnte. War es möglich, dass der Kompass ihn zu Mrs. Belfry schickte? Der Bunsenbrenner konnte ihr Fach – Physik – symbolisieren und sie hatte einen Universitätsabschluss.
Etwas anderes fiel ihm dazu nicht ein. Oliver war aufgeregt. Das Universum leitete ihn!
Er schloss den Koffer und drehte sich noch einmal zu den Blues um. Stumm sahen sie ihn an. Ihr Gesichtsausdruck verursachte in Oliver ein Gefühl tiefer Befriedigung. Doch dann sah er, wie Chris die Faust ballte. Er kannte ihn gut genug um zu wissen, was das bedeutete. Chris würde jeden Moment auf ihn losgehen.
Schnell benutzte Oliver seine Kräfte, um Chris‘ Schnürsenkel zu verknoten. Als Chris aufsprang, fiel er augenblicklich der Länge nach hin. Er stöhnte.
„Chris! Die Schnürsenkel!“, rief Mom.
Dad wurde blass. „Sie… sie haben sich selbst verknotet…“
Christ funkelte Oliver wütend an. „Das warst du! Du Freak!“
Oliver zuckte unschuldig mit den Schultern. „Keine Ahnung, was du meinst.“
Dann nahm er seinen Koffer und ging. Er schmetterte die Haustür hinter sich ins Schloss.
Als er die Straße entlangging, wuchs ein Lächeln auf seinem Gesicht.
Er würde die Blues nie wieder sehen.