Kitabı oku: «Die Kugel von Kandra », sayfa 3
KAPITEL FÜNF
Oliver stand vor der Campbell Junior High. Auf dem Pausenhof ging es ebenso wild und laut zu wie immer. Kinder rannten durcheinander und warfen Bälle wie Handgranaten.
Oliver fühlte sich beklommen. Es lag nicht an den anderen Kindern, er hatte keine Angst mehr vor ihnen und ihren Gemeinheiten. Es lag daran, dass er gleich Mrs. Belfry begegnen würde.
Aus ihrer Sicht hatte er gestern zuletzt ihren Unterricht besucht, aber für Oliver war es eine Ewigkeit her. Seitdem hatte er viele unglaubliche Abenteuer erlebt und das hatte ihn verändert. Er war jetzt reifer und weiser und er fragte sich, ob sie es bemerken würde, wenn sie sich gegenüberstanden.
Er überquerte den Pausenhof, wobei er ein paar Bällen ausweichen musste, und ging dann zielstrebig zum Physiksaal, in dem er Mrs. Belfry zuletzt gesehen hatte. Doch der Saal war leer. Er hatte gehofft, dass sie wieder vor der Stunde dort wäre und er sich in Ruhe mit ihr unterhalten konnte, aber jetzt hatte er keine andere Wahl als sich einen Platz in der ersten Reihe zu nehmen und zu warten.
Er blickte aus dem Fenster und beobachtete, wie die Kinder über den Sportplatz rannten. Es war seltsam, wieder als ganz normaler Schüler in einer ganz normalen Schule zu sein. Oliver dachte an die anderen Seher, seine Freunde.
Der Saal füllte sich langsam. Samantha kam herein. Sie hatte ihn nachgeäfft, als er Mrs. Belfrys Fragen beantwortet hatte. Und jetzt erschien Paul, der Junge, der Oliver mit Papierkugeln beworfen hatte.
Es gefiel Oliver nicht, mit ihnen in einem Raum zu sein, auch wenn ihre Sticheleien und Schikanen ihn jetzt nicht mehr einschüchtern konnten. Dank der Schule für Seher und seiner Freunde dort, war er stark geworden. Er stand jetzt über den Dingen, sie konnten ihm nichts mehr anhaben.
Der Raum war jetzt voll, die Kinder lachten und redeten laut durcheinander, bis Mrs. Belfry durch die Tür kam. Sie sah nervös aus.
„Bitte entschuldigt, dass ich mich verspätet habe“, sagte sie und legte ihre Unterrichtsmaterialien auf das Pult. Darunter befand sich ein roter Apfel. „Heute reden wir über die verschiedenen Kräfte.“ Sie nahm den Apfel in die Hand und ließ ihn zu Boden fallen. „Wer weiß, welche Kraft hier gewirkt hat?“
Oliver hob die Hand und Mrs. Belfry nickte ihm zu.
„Die Schwerkraft.“
Sofort hörte er, wie Samantha ihm mit verstellter Stimme nachplapperte und einige Kinder kicherten.
Oliver beschloss, dass es an der Zeit war, ihr eine Kleine Lektion zu erteilen. Nichts Schlimmes, nur einen kleinen Denkzettel.
Er drehte sich um und sah ihr direkt ins Gesicht. Dann ließ er eine Handvoll Staub direkt in ihre Nase wehen.
Samantha nieste und ein riesiger Popel hing ihr aus der Nase. Die Kinder grölten vor Lachen und zeigten auf sie.
Mrs. Belfry reichte ihr ein Taschentuch und Samantha wischte schnell alles weg. Ihre Wangen waren purpurrot geworden.
Oliver lächelte und drehte sich wieder nach vorne.
Mrs. Belfry klatschte in die Hände um die Aufmerksamkeit der Kinder wieder auf sich zu ziehen. „Die Schwerkraft ist die Kraft, die unsere Füße auf dem Boden hält und alles in Richtung Erde fallen lässt. Oliver, woher wusstest du, dass es heute um die Schwerkraft gehen soll?“
„Weil Sir Isaac Newton das Gesetz der Schwerkraft entdeckte, als er einen Apfel zu Boden fallen sah. Er hat ihn aber nicht am Kopf getroffen, das ist ein allgemeiner Irrglaube“, sagte Oliver mit lauter, selbstbewusster Stimme.
In diesem Moment spürte er, dass ihn etwas am Kopf traf. Ein Stift fiel klappernd neben seinem Stuhl zu Boden. Er musste sich nicht umdrehen um zu wissen, dass Paul ihn geworfen hatte.
Versuch‘ das noch einmal, aber diesmal ohne Hände, dachte Oliver.
Er drehte sich um und sah Paul fest in die Augen. Schon nutzte er seine Kräfte um Pauls Hände an den Tisch zu kleben.
Paul blickte erschrocken hinab. Er versuchte, seine Hände zu bewegen, aber sie steckten fest.
„Was ist hier los?“, rief er.
Alle drehten sich um und sahen Paul, der verzweifelt versuchte. Seine Hände vom Tisch loszureißen. Sie lachten und gingen ganz offensichtlich davon aus, dass er nur herumalberte.
Nur Oliver wusste, dass die Panik in Pauls Augen echt war.
Mrs. Belfry sah ihn genervt an. „Also wirklich, Paul, deine Hände am Tisch festzukleben war nicht sehr schlau.“
Die Klasse tobte.
„Das war ich nicht! Irgendetwas geschieht mit mir!“, rief er.
In dem Augenblick entfuhr Samantha ein weiteres Niesen.
Grinsend sah Oliver wieder zur Tafel.
Mrs. Belfry klatsche wieder in die Hände. „Hier spielt die Musik, Leute. Sir Isaac Newton war ein englischer Mathematiker und Physiker. Weiß irgendjemand, wann er das Gesetz der Schwerkraft formulierte?“
Olivers Hand schoss wieder in die Höhe. Er war der einzige, der sich meldete, also nickte Mrs. Belfry ihm wieder zu. „Ja, Oliver?“
„1687.“
Sie strahlte. „Das ist richtig!“
Schon hörte Oliver Pauls Gespött. Dass seine Hände am Tisch festklebten, war ihm wohl noch nicht genug. Oliver musste ihm auch den Mund verschließen.
Wieder drehte er sich um und sah Paul ins Gesicht. Er stellte sich vor, wie ein Reißverschluss seine Lippen versiegelte und schon war Pauls Mund geschlossen.
Sofort gab er ein gedämpftes, panisches Geräusch von sich. Einige Schüler drehten sich zu ihm um und kicherten. Als Mrs Belfry ihn ansah, wirkte sie beunruhigt.
Sofort wurde Oliver klar, dass er zu weit gegangen war. Schnell machte er alles rückgängig, aber es war zu spät. Paul zeigte wütend auf ihn.
„Du hast das gemacht! Du Freak!“
Sofort stimmten die Kinder ein und begannen, Oliver zu beschimpfen.
Mrs Belfry sah ihn verwirrt an, als stellte sie Oliver eine stumme Frage.
„Ruhe! Ruhe alle zusammen!“, rief sie, aber die Kinder hörten nicht auf sie. Wie von Sinnen riefen sie immer wieder im Chor „FREAK! FREAK! FREAK!“
Oliver fühlte sich furchtbar entwürdigt und in die Ecke gedrängt.
Er wollte, dass sie endlich still waren. Er schloss die Augen und plötzlich wurde es leise.
Als er die Augen wieder öffnete, sah er, wie sie sich panisch an die Kehlen fassten. Sie riefen immer noch aus vollem Hals, aber es kam kein Laut mehr über ihre Lippen. Oliver hatte ihre Stimmen einfach ausgeschaltet.
Die ersten Kinder sprangen auf und stolperten rückwärts. Sie wollten zur Tür, weg von ihm. Aber Oliver war noch nicht fertig mit ihnen. Er wollte, dass sie sich ein für alle Mal merkten, dass man andere Menschen nicht beschimpfen und ausgrenzen durfte. Diese Lektion sollten sie nie wieder vergessen!
Als sie jetzt den Gang hinunterrannten, ließ Oliver eine dicke Wolke über ihnen aufziehen. Sofort fielen schwere Tropfen auf sie hinab und die Kinder waren innerhalb kürzester Zeit vom Regen durchweicht.
Als das letzte Kind aus dem Klassenzimmer rannte, waren nur noch Oliver und Mrs. Belfry übrig.
Er sah sie schuldbewusst an und schluckte. Er hatte seine Kräfte offenbart. Schnell ging sie zur Tür und verschloss sie.
„Wer bist du?“, fragte sie eindringlich.
Oliver schämte sich und spürte eine schwere Last auf den Schultern. Was dachte sie jetzt über ihn? Hielt sie ihn für einen Freak wie alle anderen? Hatte sie Angst vor ihm?
Sie kam wieder auf ihn zu. „Wie hast du das gemacht?“
Als sie vor ihm stand, sah Oliver weder Furcht noch Abscheu in ihren Augen. Vielmehr glaubte er Bewunderung und Ehrfurcht in ihrem Blick zu lesen.
Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn. Dabei sah sie ihm tief in die Augen. Sie sprühte vor Neugier. „Wer bist du, Oliver Blue?“
Oliver dachte wieder an seinen Kompass. Er hatte sie hierher gebracht, zu Mrs. Belfry. Das Universum hatte ihn zu ihr gebracht und er war sicher, dass er ihr vertrauen konnte. Vielleicht wäre sie sogar imstande, ihm zu helfen. Er schluckte seine Aufregung herunter und begann zu sprechen.
„Ich habe gewisse Kräfte“, begann er. „Kräfte über die Elemente und die Naturgesetze. Ich kann durch die Zeit reisen und die Geschichte verändern.“
Mrs. Belfry lauschte jedem seiner Wörter. Dabei sah sie ihn fasziniert an.
„Ich wusste, dass du anders bist. Ich habe es gespürt“, flüsterte sie.
Sie hielt ihn also nicht für einen Freak. Im Gegenteil. Sie klang, als wäre sie tief beeindruckt. Sein Herz machte vor Freude einen Sprung.
„Sie glauben mir?“, fragte er vorsichtig.
Sie nickte. „Ja, Oliver. Ich glaube dir!“ Dann rutschte sie ihren Stuhl noch etwas näher an ihn heran. „Bitte erzähle mir alles.“
Das tat Oliver. Er begann mit dem Tag des Sturms. Für Mrs. Belfry war es erst gestern gewesen, aber für Oliver lag ein halbes Leben dazwischen.
Er erzählte ihr von Armando Illstrom und von Lucas. Er erzählte ihr davon, wie er Ralph Black begegnet war und mit ihm in die Schule für Seher gegangen war. Er versuchte zu erklären, wie die Schule zwischen den Dimensionen existierte und nur über ein Portal im Jahr 1944 betreten werden konnte. Er erzählte ihr vom Unterricht dort, von Dr. Ziblatt und dem interdimensionalen Sehen, von den fliegenden Esstischen, von Hazel Kerr, Simon Cavendish und Walter Stroud, dem fabelhaften Switchit-Spieler. Er erzählte ihr auch von Professor Amethyst und seiner sechsten Dimension, von der Kugel von Kandra, den Schlafkapseln und dem Treffen mit Esther Valentini. Er erzählte ihr, wie die Schule angegriffen wurde und er durch die Zeit gereist war, um die Atombombe der Nazis zu zerstören. Er zeigte ihr das Amulett, das Professor Amethyst ihm gegeben hatte, das leuchtete und heiß wurde, wenn sich ein Portal zur Schule öffnete.
Und schließlich erzählte er ihr auch von seiner Familie, die nicht seine richtige Familie war, und von seinem Plan, seine leiblichen Eltern aus seinen Visionen ausfindig zu machen.
Als er sich alles von der Seele geredet hatte, sah er sie schweigend an.
Mrs. Belfry nickte langsam. Sie sah aus, als versuchte sie das, was er ihr gerade erzählt hatte, zu verarbeiten. Es war ganz schön viel auf einmal gewesen. Oliver hoffte, dass ihr Gehirn nicht explodierte.
„Faszinierend“, sagte sie schließlich und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Noch immer sah sie ihn bewundernd an.
Oliver wartete unsicher ab, was sie als nächstes tun würde.
Dann tippte sie sich ans Kinn. „Würdest du mir diesen Kompass einmal zeigen?“
Er holte ihn aus der Tasche und gab ihn ihr. Sie sah ihn sich lange an. Dann machte sie große Augen.
„So einen habe ich schon einmal gesehen!“
„Wirklich?“
„Ja! Bei Professor Nightingale in Harvard. Er ist einer meiner Universitätsprofessoren, der brillanteste Mensch, der mir je begegnet ist.“
Ihre Aufregung war spürbar. Oliver beobachtete, wie sie aufsprang und zu einem großen Bücherregal ging. Sie zog ein dickes Textbuch heraus und reichte es Oliver.
Oliver beäugte es neugierig. Theorie der Zeitreise, stand darauf. Rasch hob er den Blick und sah ihr ins Gesicht. „Ich… ich verstehe nicht…“
Mrs. Belfry setzte sich wieder. „Professor Nightingale hat sich auf das Konzept der Zeit spezialisiert.“
„Denken Sie, er ist auch ein Seher?“, rief er aufgeregt. Er hatte gedacht, dass es in seiner Zeitachse keine anderen Seher geben würde, aber vielleicht war dieser Professor Nightingale wirklich einer. Vielleicht hatte ihn der Kompass deswegen zu Mrs. Belfry geführt.
„Immer wenn er über einen Erfinder gesprochen hatte, kam es mir vor, als hätte er ihn persönlich gekannt.“ Fassungslos legte sie eine Hand vor den Mund. „Womöglich ist er wirklich durch die Zeit gereist, um sie zu treffen!“
Oliver war überwältigt. Sein Herz schlug schneller. Mrs. Belfry legte ihre Hand auf seine und das beruhigte ihn etwas.
„Oliver“, sagte sie sanft. „Ich denke, du solltest zu ihm gehen. Ich glaube, dass der Weg zu deinem Schicksal und zu deinen Eltern über ihn führt.“
Kaum hatte sie das ausgesprochen, riss sie staunend die Augen auf.
„Oliver, sieh doch!“
Die Drehscheibe auf seinem Kompass bewegte sich. Ein Pfeil zeigte jetzt auf ein Eichenblatt und die zweite auf ein vogelähnliches Symbol. Der dritte Pfeil blieb auf dem eckigen Hut für Universitätsabsolventen stehen.
Oliver staunte.
Er zeigte auf das Blatt. „Boston“, dann auf den Vogel, „Nightingale“ und schließlich auf den Hut „Professor“. Er war wahnsinnig aufgeregt. „Sie haben recht! Ich muss nach Boston gehen und den Professor treffen. Dort werde ich den nächsten Hinweis finden.“
Mrs. Belfry kritzelte etwas auf ihren Block und riss die Seite heraus. „Hier, das ist seine Adresse.“
Oliver nahm das Papier an sich und las die Adresse. Das war also das nächste Ziel auf seiner Reise. Ob Professor Nightingale wirklich ein Seher war?
Er faltete das Blatt ordentlich zusammen und steckte es in seine Tasche. Er wollte sofort aufbrechen.
„Warte“, sagte Mrs. Belfry. „Das Buch, Oliver“, sagte sie und legte ihm Professor Nightingales Abhandlung über Zeitreisen in die Hand. „Ich möchte, dass du es mitnimmst.“
„Danke“, flüsterte Oliver gerührt. Mrs. Belfry war wirklich die beste Lehrerin, der er je begegnet war. Er drückte das Buch fest an sich und rannte zur Tür.
„Oliver! Wirst du je zurückkommen?“, rief sie ihm hinterher.
Er drehte sich noch einmal zu ihr um. „Ich weiß es nicht.“
Sie nickte ihm traurig zu. „Dann bleibt mir nur noch übrig, dir bei deiner Suche von ganzem Herzen viel Glück zu wünschen. Ich hoffe du findest, wonach du suchst, Oliver Blue!“
Ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit machte sich in seinem Herzen breit. Ohne Mrs. Belfry hätte er diese ersten furchtbaren Tage in New Jersey nicht überstanden. „Ich danke Ihnen für alles, Mrs. Belfry.“
Damit stürmte er aus dem Klassenzimmer. Er konnte es kaum erwarten, in den nächsten Zug nach Boston zu steigen und Professor Nightingale persönlich gegenüber zu stehen. Doch zuvor hatte er noch eine letzte Aufgabe an dieser Schule.
Er musste sich um die Bullys kümmern.
Da läutete die Schulglocke zur Mittagspause.
Dieses eine Übel musste er noch aus der Welt schaffen.
*
Schnell rannte er die Treppen hinunter, dem Geruch von abgestandenem Frittierfett entgegen. Er hatte so lange mit Mrs. Belfry geredet, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie viel Zeit vergangen war.
Perfekt, dachte Oliver.
Er ging in die Aula, wo sich bereits alle Schüler versammelt hatten und jetzt wild durcheinanderschrien. Bald entdeckte er Paul und Samantha, die beiden Tyrannen aus seiner Klasse. Sie sahen ihn auch und zeigten tuschelnd auf ihn. Auch die anderen Kinder drehten sich lachend zu ihm um. Er entdeckte auch die Kinder, die auf dem Pausenhof die anderen mit ihren Bällen beworfen hatten und die Kinder aus Mr. Portendorfers Unterricht, die alle über ihn gelacht hatten.
Aber er suchte noch jemanden. Chris und seine Spießgesellen. Sie hatten ihn im Sturm verfolgt, bis er sich in einer verbeulten Mülltonne versteckt hatte. Sie hatten ihn beschimpft, ihm gedroht und sich über ihn lustig gemacht.
Jetzt sahen sie ihn auch. Das gemeine Mädchen mit den dicken Zöpfen grinste höhnisch. Sie stieß den sommersprossigen, schlaksigen Jungen an, der nur gelacht hatte, als Chris ihn in den Schwitzkasten genommen und gequält hatte. Zuletzt hatten sie ihn in einen gefährlichen Sturm gescheucht und alleine zurückgelassen. Dass sie ihn jetzt auch noch dumm angrinsten, brachte Olivers Blut zum Kochen.
Als Chris ihn bemerkte, sah Oliver einen Anflug von Furcht in seinen Augen, auch wenn er sich hier in der Gesellschaft seiner gemeinen Freunde anscheinend sicher fühlte.
Es fiel Oliver nicht schwer, ihm an den Lippen abzulesen, was er zu seinen fiesen Freunden sagte.
„Seht nur, die kleine Ratte ist zurück!“
Oliver konzentrierte sich auf ihren Tisch und sammelte seine Kräfte.
Ihre Teller begannen zu schweben. Das Mädchen sprang erschrocken auf.
„Was ist hier los?“
Die beiden anderen sprangen auch ängstlich zurück. Auch Chris war aufgesprungen, aber er sah nicht besonders erschrocken aus.
Eher wütend.
Die anderen Kinder drehten sich um und versuchten zu sehen, was der Aufruhr zu bedeuten hatte. Als sie bemerkten, dass die Teller wie durch Geisterhand in der Luft schwebten, verbreitete sich Panik im Saal.
Oliver ließ die Teller höher und höher steigen. Als sie direkt über den Köpfen der Spießgesellen waren, drehte er sie um.
Sofort regnete lauwarmes Essen auf sie herab.
Mal sehen wie es euch gefällt, mit Essensresten verschmiert zu sein, dachte Oliver.
Schon brach der Tumult aus. Kinder schrien und rannten schubsend zu den Ausgängen.
Einer der Fieslinge, der von oben bis unten mit Kartoffelstampf beschmiert war, rutschte auf ein paar Bohnen aus und lag jetzt ausgestreckt auf dem Boden. Ein anderes Kind stolperte über ihn.
Durch das Chaos sah Oliver Chris auf der anderen Seite der Aula stehen. Er fixierte ihn aus schmalen Augen. Sein Gesicht war rot vor Wut. Er stieß ein paar Kinder mit den Ellbogen zur Seite und wirkte noch wuchtiger als sonst.
Obwohl er Oliver damit einschüchtern wollte, ließ dieser sich nicht aus der Ruhe bringen.
„Du!“, bellte Chris. „Ich weiß, dass du das warst! Du hast irgendwelche bösen Zauberkräfte! Du Freak!“
Dann ging er auf Oliver los.
Doch der war ihm bereits zwei Schritte voraus. Er streckte die Hände aus und ließ eine dicke Ölschicht vor Chris auf dem Boden entstehen. Chris rutschte und ruderte mit den Armen, bis er endgültig das Gleichgewicht verlor und mit dem Hintern auf den Boden knallte. Er rutschte über die Ölschicht auf Oliver zu wie auf einer Wasserrutsche.
Oliver drückte die Tür auf und Chris schlitterte an ihm vorbei. Schreiend wurde er auf der unsichtbaren Schmiere immer weiter getragen, über den Pausenhof, auf die Straße.
„Bye bye!“, rief Oliver ihm nach und winkte.
Er hoffte, dass er Christopher Blue nie wieder sehen würde.
Dann schloss er die Tür wieder und ging mit festen Schritten durch die chaotische Aula und durch die finsteren Gänge der Campbell Junior High. Er fühlte sich großartig. Es hätte gar nicht besser laufen können.
Als er den Ausgang erreichte, stieß er die Türen mit beiden Händen auf. Ein frischer Windhauch wehte ihm ins Gesicht. Oliver atmete tief ein.
Dann sah er sie.
Sie stand an der untersten Stufe und blickte zu ihm auf. Schwarzes Haar. Smaragdgrüne Augen.
Oliver konnte es kaum glauben. Sein Herz machte einen Freudensprung und schlug ihm bis zum Hals. Seine Gedanken überschlugen sich.
Wie…?
Warum…?
Seine Handflächen wurden feucht und er spürte einen Kloß im Hals.
Ihre Schönheit raubte ihm den Atem.
Vor ihm stand Esther Valentini.
KAPITEL SECHS
„Esther!“, rief Oliver.
Er legte seine Hände auf ihre Schultern und sah ihr tief in die Augen. Er konnte kaum glauben, dass sie hier war.
„Oliver“, sagte sie lächelnd. Dann warf sie ihre Arme um seinen Hals. „Ich habe dich gefunden!“ Ihre Stimme war süß wie Honig. Oliver drückte sie fest an sich. Sie fühlte sich wunderbar an. Er hätte nicht gedacht, dass er sie so schnell wiedersehen würde.
Aber dann löste er sich von ihr. „Warum bist du hier?“, fragte er alarmiert.
Esther grinste ihn verschmitzt an. „Es gibt eine Zeitmaschine in der Schule. Der Zugang ist im Kapokbaum versteckt und mit einem kleinen X markiert. Eigentlich heißt das ja, dass nur Lehrern den Zutritt gewährt ist. Ich habe gleich vermutet, dass es ein Portal ist. Ich habe mich in einem unbewachten Moment hingeschlichen. Natürlich dürfen wir sie eigentlich nicht benutzen, aber das Risiko war es mir wert.“
Oliver schüttelte den Kopf. Er hätte sich denken können, dass die schlaue Esther einen Weg finden würde, zu ihm zu gelangen. Aber niemand würde einfach so in eine falsche Zeit reisen, nicht ohne einen triftigen Grund. An der Schule für Seher hatte er gelernt, dass es eine echte Belastung für den Körper sein konnte, wenn man zu lange in einer falschen Zeitachse verweilte. Das hatte er auch selbst gespürt, als er aus der Vergangenheit zurückgekehrt war. Selbst jetzt spürte er die Auswirkungen der Zeitreise noch, obwohl er wieder in seiner eigentlichen Zeit angekommen war.
Dazu kam noch das Risiko, dass Esther unter Umständen nicht mehr in die Schule zurückkehren durfte. Es hatte ihm fast das Herz gebrochen, als er gehen musste, und er hätte es nie getan, wenn es nicht um Armandos Leben gegangen wäre. Was hatte also Esther dazu bewogen, ihm nachzureisen? Vielleicht eine Aufgabe? Eine Mission? War die Schule womöglich in Gefahr?
„Es ist wirklich schön, dich zu sehen, aber warum bist du hier, Esther?“
Esther lächelte. „Du hast mir doch ein zweites Date versprochen.“
Erstaunt sah er sie an. „Du bist meinetwegen gekommen?“
Sie war das Risiko eingegangen, für immer von der Schule ausgeschlossen zu werden und in einer falschen Zeitachse gefangen zu sein, nur um ihn zu sehen?
Mit erröteten Wangen wandte sie den Blick ab. „Ich dachte, du brauchst vielleicht Hilfe.“
Auch wenn er ihre Entscheidung nicht nachvollziehen konnte, war Oliver dankbar, dass sie gekommen war. Bedeutete das womöglich, dass sie ihn liebte? Ihm fiel kein anderer Grund ein, warum man ein solches Opfer für einen anderen Menschen bringen sollte.
Ihm wurde warm ums Herz. Schnell wechselte er das Thema.
„Wie war deine Reise? Ich hoffe du bist unversehrt“, sagte er.
Esther rieb sich den Bauch. „Ehrlich gesagt ist mir ziemlich schlecht geworden. Und ich habe Kopfschmerzen. Aber sonst geht es mir gut.“
Oliver dachte an sein Amulett. Er wollte es Esther zeigen und nahm es vom Hals. „Schau mal, Professor Amethyst hat mir das hier gegeben, bevor ich gegangen bin.“
Esther ließ vorsichtig ihre Finge darüber gleiten. „Ein Portal-Detektor! Er wird heiß, wenn ein Wurmloch in der Nähe ist, oder?“ Sie lächelte. „Vielleicht bringt er uns eines Tages zurück zur Schule.“
„Seit ich hier bin, ist es eisig kalt geblieben“, entgegnete Oliver betrübt.
„Keine Sorge, wir haben jede Menge Zeit“, sagte sie und lächelte über ihren eigenen Witz.
Oliver lachte.
„Ich habe eine neue Mission“, sagte Oliver dann.
Esther sah ihn aufgeregt an. „Wirklich? Was ist es?“
Oliver zeigte ihr den Kompass. Esther bewunderte ihn staunend.
„Der ist wunderschön. Was hat er zu bedeuten?“
Oliver zeigte auf die hieroglyphenähnlichen Symbole. „Ich glaube, er bringt mich zu meinen richtigen Eltern. Schau dir das hier an.“ Er zeigte ihr das Symbol für die Frau und den Mann, die sich an den Händen hielten. „Es ist das einzige, das sich noch nicht verändert hat. Die anderen Symbole bewegen sich immer so, dass ich einen Anhaltspunkt bekomme, wohin ich als nächstes gehen muss.“
„Oh Oliver! Das ist so aufregend! Was ist dein nächstes Ziel?“
Er zeigte auf das Eichenblatt. „Boston.“
„Warum gerade Boston?“
„Ich bin nicht sicher, aber ich soll dort jemanden treffen, der mich vielleicht zu meinen Eltern führen kann“, erklärte Oliver und steckte den Kompass wieder in die Hosentasche.
Esther nahm seine Hand. „Dann lass uns gehen.“
„Du willst mitkommen?“
„Ja“, sagte sie schüchtern. „Wenn du mich mitnimmst.“
„Natürlich!“
Oliver grinste. Auch wenn er nicht nachvollziehen konnte, wie Esther so gelassen hinnehmen konnte, dass sie vielleicht für immer in der falschen Zeit feststeckte, gab ihre Anwesenheit ihm doch neue Kraft. Alles erschien ihm plötzlich viel hoffnungsvoller und schicksalhafter. Mit Esther an seiner Seite war er noch stärker und seine Suche würde auch viel mehr Spaß machen.
Sie gingen die Treppe hinunter und ließen die Campbell Junior High hinter sich. Seite an Seite gingen sie in Richtung Bahnhof. Esthers Hand fühlte sich warm und weich an. Sie beruhigte ihn.
Obwohl es ein kühler Oktobertag war, war ihm überhaupt nicht kalt. Ihre Nähe hielt ihn warm, so sehr freute er sich, sie zu sehen. Aber gleichzeitig befürchtete er, dass sie nur eine Fata Morgana war, die jeden Moment verschwinden könnte. Während sie nebeneinander hergingen, sah er sie immer wieder an, nur um sicherzustellen, dass sie wirklich echt war. Jedes Mal schenkte sie ihm ihr süßes, schüchternes Lächeln, und ihm wurde aufs Neue ganz warm ums Herz.
Sie erreichten den Bahnhof und gingen zum Bahnsteig. Oliver hatte noch nie zuvor ein Zugticket gekauft. Der Fahrkartenautomat sah irgendwie einschüchternd aus. Aber dann dachte er daran, wie er eine Bombe entschärft hatte. Ganz sicher konnte er herausfinden, wie man diesen Automaten bediente.
Bald hatte er zwei Tickets nach Cambridge, Boston, gekauft. Er entschied sich vorerst nur für eine einfache Fahrt, da er keine Ahnung hatte, ob er jemals nach New Jersey zurückkehren würde. Der Gedanke beunruhigte ihn etwas.
Der Zug nach Cambridge würde über vier Stunden dauern. Nachdem sie eine Weile gewartet hatten, beobachteten sie, wie er auf den Gleis einfuhr. Dann stiegen sie ein und suchten sich einen ruhigen Platz, an dem sie es sich für die lange Reise gemütlich machten.
„Wie geht es den anderen?“, fragte Oliver. „Ralph, Hazel, Walter und Simon?“
Esther lächelte. „Es geht ihnen gut. Aber sie vermissen dich. Vor allem Walter. Er hätte dich zu gerne wieder bei Switchit dabei.“
Oliver lächelte. Er vermisste seine Freunde auch.
„Und die Schule ist sicher? Keine Angriffe mehr?“, fragte er zögerlich.
Die Erinnerung an Lucas und seine Armee von bösartigen Sehern bereitete ihm Gänsehaut. Auch wenn er vorerst in dieser Zeitachse gefangen war, hatte Oliver das Gefühl, dass er den bösen alten Mann nicht zum letzten Mal gesehen hatte.
„Nein, keine Angriffe mehr von Fledermäusen mit leuchtenden Augen“, entgegnete Esther.
Oliver dachte an diesen schrecklichen Moment während ihres ersten Dates. Sie waren durch die Gärten spaziert und Esther hatte ihm von ihrem Leben, ihrer Familie und ihrer Kindheit in New Jersey in den 70er Jahren erzählt, als der Angriff sie überraschte.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie ihr Gespräch nie zu Ende geführt hatten. Es hatte sich keine Gelegenheit mehr gegeben, über ihr Leben vor der Schule zu reden und sie besser kennen zu lernen.
„Wir kommen aus derselben Gegend, oder?“, fragte er.
Sie schien überrascht, dass er sich daran erinnerte und sie gerade jetzt darauf ansprach. „Ja, aber wir waren um die dreißig Jahre auseinander.“
„Findest du es nicht komisch, durch die vertrauten Straßen zu gehen, aber alles ist anders, weil so viel Zeit vergangen ist?“
„Seit ich auf die Schule für Seher gehe, finde ich gar nichts mehr komisch“, entgegnete sie. „Ich habe eher Angst davor, mir selbst zu begegnen. Stell dir das mal vor! Ob die Dimension dann zusammenbricht?“
Oliver überlegte. Ihm fiel ein, dass Lucas als alter Mann in die Vergangenheit gereist war, um seinem jüngeren Ich in seine Machenschaften hineinzuziehen. „Ich glaube, es passiert nichts. Zumindest so lange du nicht merkst, dass du es bist. Ergibt das Sinn?“
„Ich glaube, ich will es lieber nicht riskieren“, sagte sie daraufhin.
Oliver beobachtete, wie ihr Gesichtsausdruck ernst wurde. Etwas beschäftigte sie.
„Wärst du nicht neugierig, deine Familie oder dich selbst zu treffen?“, fragte er.
Schnell schüttelte sie den Kopf. „Ich habe sieben Geschwister, Oliver. Wir haben uns immer nur gestritten und ich war immer der Außenseiter. Meine Eltern haben auch viel gestritten – meinetwegen. Sie dachten immer, dass etwas nicht stimmt mit mir.“ Ihre Stimme wurde leise. „Es ist besser, dass ich nicht mehr bei ihnen bin.“
Oliver konnte ihre Gedanken gut nachempfinden. Er hatte selbst alles andere als eine glückliche Kindheit erlebt, umso mehr Mitgefühl hatte er für Menschen, denen es ähnlich ergangen war.
Er dachte darüber nach, dass eigentlich alle Kinder an der Schule für Seher ihre Familien zurückgelassen hatten. Als er selbst dort war, hatte er sich gefragt, ob wohl keiner von ihnen einsam war oder Heimweh hatte. Vielleicht war keiner von ihnen aus glücklichen Familien. Vielleicht war es das Schicksal aller jungen Seher, dass ihre Eltern misstrauisch und ihre Kindheit unglücklich waren.
Esther sah ihn an. „Glaubst du, dass deine echten Eltern dich und deine Besonderheiten akzeptieren werden?“
Erst jetzt fiel ihm auf, dass er noch gar nicht darüber nachgedachte hatte. Sie hatten ihn irgendwann im Stich gelassen, oder etwa nicht? Vielleicht hatten sie gespürt, dass mit ihrem Baby etwas nicht stimmte und es hatte ihnen Angst gemacht!
Doch dann dachte er an die Visionen, in denen er ihnen begegnet war. Sie waren liebevoll und gütig. Sie hatten ihm gesagt, dass sie ihn liebten und immer bei ihm waren, dass sie über ihn wachten und eines Tages mit ihm vereint wären. Sie würden sich ganz bestimmt freuen, ihn bei sich zu haben.
Oder bildete er sich das alles nur ein?
„Davon bin ich überzeugt“, sagte er mit fester Stimme, auch wenn ihm zum ersten Mal Zweifel kamen. Was wäre, wenn er diese ganze Mission vollkommen missverstanden hatte?
„Was wirst du tun, wenn du sie gefunden hast?“, fragte Esther dann.
Oliver überlegte. Es musste einen Grund geben, warum sie ihn als Baby verlassen hatten und nie nach ihm gesucht hatten. Warum waren sie jetzt nicht bei ihm?
Er sah Esther lange an. „Das ist eine gute Frage. Ich weiß es nicht.“