Kitabı oku: «Gewandelt », sayfa 4
4. Kapitel
Auf dem Heimweg von der Schule umklammerte sie ihr Tagebuch. Caitlin schwebte auf Wolke sieben. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so glücklich gewesen war. Immer wieder hörte sie Jonahs Worte in ihrem Kopf.
»Heute Abend gibt es ein Konzert in der Carnegie Hall. Ich habe zwei Freikarten. Es sind die schlechtesten Plätze im ganzen Saal, aber der Sänger soll fantastisch sein.«
»Heißt das, du willst mit mir ausgehen?«, hatte sie lächelnd geantwortet.
Er hatte ihr Lächeln erwidert.
»Wenn es dir nichts ausmacht, mit einem Typen voller Blutergüsse auszugehen? Schließlich ist Freitagabend.«
Sie hüpfte praktisch nach Hause und konnte ihre Aufregung kaum kontrollieren. Sie verstand zwar nichts von klassischer Musik – eigentlich hatte sie sich noch nie richtig damit beschäftigt –, aber das war ihr egal. Mit ihm würde sie überallhin gehen.
Carnegie Hall. Er hatte gesagt, dass man sich schick machte, wenn man dorthin ging. Was sollte sie bloß anziehen? Sie hatte nicht mehr viel Zeit, um sich umzuziehen, weil sie sich vor dem Konzert in einem Café treffen wollten. Sie ging schneller.
Im Handumdrehen war sie zu Hause, und selbst das triste Gebäude konnte ihr die Laune nicht verderben. Sie sprang die Treppen in den fünften Stock hinauf und war noch nicht mal kaputt, als sie oben ankam.
Sofort hallten ihr die Schreie ihrer Mutter entgegen: »Du verdammtes Miststück!«
Caitlin duckte sich instinktiv, um dem Buch auszuweichen, das ihre Mutter ihr an den Kopf werfen wollte. Es verfehlte sie nur knapp und krachte gegen die Wand.
Noch bevor Caitlin überhaupt etwas sagen konnte, stürzte ihre Mutter sich mit ausgefahrenen Fingernägeln auf sie.
Caitlin erwischte ihre Handgelenke gerade noch rechtzeitig, und es kam zu einem heftigen Gerangel.
Die neue Kraft strömte durch Caitlins Adern, und sie wusste, dass sie ihre Mom ohne Weiteres hätte quer durch den Raum schleudern können. Doch sie zwang sich, die Kraft zu beherrschen, und stieß ihre Mom von sich, aber nur so fest, dass sie auf dem Sofa landete.
Dort brach ihre Mutter plötzlich in Tränen aus und blieb schluchzend sitzen.
»Das ist deine Schuld!«, schrie sie zwischen zwei Schluchzern.
»Wo ist denn los mit dir?«, brüllte Caitlin zurück. Sie war völlig unvorbereitet und hatte keine Ahnung, was eigentlich los war. Ein so verrücktes Verhalten war sogar für ihre Mutter ungewöhnlich.
»Sam.«
Ihr Mom hielt einen Zettel von einem Notizblock hoch.
Caitlins Herz hämmerte, als sie ihn nahm. Furcht erfasste sie. Was auch immer passiert war, es konnte nichts Gutes sein.
»Er ist weg!«
Caitlin überflog die handgeschriebene Notiz. Aber sie konnte sich nicht richtig konzentrieren und erfasste deshalb nur Bruchteile davon: haue ab … will nicht hierbleiben … zu meinen Freunden zurück … versucht nicht, mich zu finden.
Ihre Hände zitterten. Sam hatte es tatsächlich getan. Er war gegangen. Und er hatte nicht auf sie gewartet. Nicht einmal, um sich von ihr zu verabschieden.
»Du bist schuld!«, fauchte ihre Mom.
Caitlin konnte es einfach nicht glauben. Sie lief durch die Wohnung und öffnete Sams Tür, denn ein Teil von ihr rechnete damit, ihn in seinem Zimmer vorzufinden.
Aber der Raum war leer – und tadellos aufgeräumt. Er hatte nichts zurückgelassen. Sam hatte sein Zimmer nie sonderlich in Ordnung gehalten. Es stimmte also: Er war wirklich fort.
Caitlin spürte, wie ihr die Galle hochkam. Der Gedanke, dass ihre Mutter ausnahmsweise recht hatte, drängte sich ihr auf. Es war tatsächlich ihre Schuld. Sam hatte sie gefragt, und sie hatte bloß geantwortet: „Dann geh doch.“
Dann geh doch. Warum nur hatte sie das gesagt? Sie hatte vorgehabt, sich am nächsten Morgen zu entschuldigen und ihre Worte zurückzunehmen, aber als sie aufwachte, war er bereits fort gewesen. Sie hatte heute nach der Schule mit ihm reden wollen. Aber jetzt war es zu spät.
Sie wusste, wohin er wahrscheinlich wollte. Es gab nur einen Ort, an den es ihn zog, und zwar an ihren letzten Wohnort. Dort ginge es ihm bestimmt gut, zumindest wahrscheinlich besser als hier. Schließlich hatte er dort Freunde. Je länger sie darüber nachdachte, desto weniger Sorgen machte sie sich. Im Gegenteil, sie freute sich für ihn. Endlich hatte er es geschafft, auszubrechen. Und sie wusste bereits, wie sie ihn aufspüren konnte.
Aber darum würde sie sich später kümmern. Schnell warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr und stellte fest, dass sie spät dran war. Sie rannte in ihr Zimmer, schnappte sich ihre hübschesten Klamotten und Schuhe und warf sie in eine Sporttasche. Um sich zu schminken, hatte sie keine Zeit mehr.
»Warum musst du alles kaputt machen, was du in die Finger bekommst!?«, kreischte ihre Mom direkt hinter ihr. »Ich hätte dich niemals zu mir nehmen sollen!«
Caitlin starrte sie schockiert an.
»Was redest du denn da?«
»Ganz genau«, fuhr ihr Mom fort. »Ich habe dich aufgenommen. Du bist nicht mein Kind. Du bist es nie gewesen. Du warst seine Tochter. Du bist nicht meine richtige Tochter. Hörst du mich!? Ich schäme mich dafür, dich als Tochter zu haben!«
Caitlin sah den Hass in ihren schwarzen Augen. Sie hatte ihre Mom noch nie so rasend erlebt. In ihren Augen entdeckte sie Mordlust.
»Warum musstest du das Einzige, was gut war in meinem Leben, vertreiben?«, brüllte ihre Mom.
Erneut stürzte sie sich mit ausgestreckten Händen auf Caitlin und packte sie am Hals. Bevor Caitlin reagieren konnte, wurde sie schon gewürgt – und zwar heftig.
Caitlin rang nach Luft. Aber der Griff um ihren Hals war eisern. Er sollte sie töten.
Die Wut brach über Caitlin herein, und diesmal konnte sie sie nicht mehr unterdrücken. Sie spürte die inzwischen vertraute, prickelnde Hitze, die in ihren Zehen begann und bis in ihre Arme und Schultern hinaufwanderte. Diesmal ließ sie sich von ihr einhüllen. Die Muskeln an ihrem Hals traten hervor. Ohne dass Caitlin etwas tat, lockerte sich der Griff um ihren Hals.
Ihre Mom musste den Beginn der Verwandlung mitbekommen haben, denn plötzlich sah sie ängstlich aus. Caitlin warf den Kopf zurück und stieß einen Schrei aus. Sie hatte sich in ein furchterregendes Wesen verwandelt.
Ihre Mom ließ sie los, trat einen Schritt zurück und starrte sie mit offenem Mund an.
Caitlin streckte eine Hand aus und versetzte ihrer Mutter einen heftigen Stoß, der sie mit einer solchen Wucht rückwärtsfliegen ließ, dass sie mit einem lauten Krachen die Wand durchbrach und im angrenzenden Zimmer landete. Dort prallte sie gegen die nächste Wand und sank bewusstlos zu Boden.
Caitlin atmete schwer und versuchte, sich zu konzentrieren. Prüfend sah sie sich in der Wohnung um und überlegte, ob es etwas gab, was sie mitnehmen wollte. Sie wusste, da war etwas, aber sie konnte irgendwie nicht klar denken. Schließlich nahm sie ihre Sporttasche mit ihrer Kleidung und verließ ihr Zimmer. Sie stieg über die Trümmer der Wand und ging an ihrer Mutter vorbei.
Ihre Mom lag stöhnend dort, machte aber bereits Anstalten, sich aufzurappeln.
Doch Caitlin ging einfach weiter und verließ die Wohnung.
Sie schwor sich, dass sie niemals zurückkehren würde.
5. Kapitel
Caitlin marschierte zügig die Seitenstraße entlang durch den kalten Märzabend. Ihr Herz klopfte immer noch heftig wegen des Zwischenfalls mit ihrer Mutter. Die kalte Luft prickelte wie Nadeln in ihrem Gesicht – das fühlte sich gut an. Sie atmete tief ein und fühlte sich frei. Nie wieder würde sie in dieses Apartment zurückkehren. Nie wieder diese schmutzigen Stufen hinaufsteigen müssen. Nie wieder dieses Wohnviertel sehen. Nie wieder einen Fuß in diese Schule setzen. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie eigentlich gehen sollte, aber zumindest würde es ein Ort sein, der weit weg von all dem hier war.
Sie erreichte die breite Avenue und hielt nach einem freien Taxi Ausschau. Nachdem sie eine Minute oder so gewartet hatte, kam sie zu dem Schluss, dass keins kommen würde. Also hatte sie keine andere Wahl, als die U-Bahn zu nehmen.
Caitlin marschierte zu der U-Bahn-Station an der 135. Straße. In New York City war sie noch nie Bahn gefahren. Daher wusste sie auch nicht, welche Linie sie nehmen und wo sie aussteigen musste. Davon mal ganz abgesehen war der jetzige Zeitpunkt denkbar ungünstig für Experimente. Sie fürchtete sich vor dem, was sie wohl in einer kalten Märznacht unten in der Station erwarten würde – vor allem in dieser Wohngegend.
Trotzdem stieg sie die Treppe hinunter, deren Seitenwände mit Graffiti bedeckt waren, und näherte sich dem Fahrkartenhäuschen. Zum Glück war es besetzt.
»Ich muss zum Columbus Circle«, erklärte Caitlin.
Die übergewichtige Fahrkartenverkäuferin hinter der Plexiglasscheibe ignorierte sie.
»Entschuldigen Sie bitte«, wiederholte Caitlin, »aber ich muss …«
»Ich habe gesagt, der Bahnsteig da drüben!«, blaffte die Frau.
»Nein, das haben sie nicht gesagt«, widersprach Caitlin. »Sie haben gar nichts gesagt!«
Wieder ignorierte die Frau sie.
»Wie viel macht das?«
»Zwei fünfzig«, verlangte die Frau kurz angebunden.
Caitlin kramte in ihrer Tasche und zog drei zerknitterte Dollarscheine hervor. Sie schob sie unter der Glasscheibe hindurch.
Die Verkäuferin hinter dem Schalter gab ihr ein Ticket, ohne ihr auch nur einen Blick zu gönnen.
Caitlin nahm das Ticket und entwertete es.
Der Bahnsteig war nur spärlich beleuchtet und beinahe menschenleer. Nur zwei Obdachlose saßen in Decken gehüllt auf einer Bank. Einer der beiden schlief, aber der andere sah sie an, als sie vorbeiging. Er begann, etwas vor sich hin zu brabbeln, und Caitlin beschleunigte ihren Schritt.
Sie ging bis an den Rand des Bahnsteigs und beugte sich vor, um zu sehen, ob die U-Bahn kam. Nichts.
Komm schon!
Wieder sah sie auf die Uhr. Schon fünf Minuten zu spät. Sie fragte sich, wie lange es wohl noch dauern würde. Ob Jonah es aufgeben würde, auf sie zu warten? Sie könnte es ihm nicht verübeln.
Plötzlich nahm sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Sie drehte sich um. Nichts.
Als sie genauer hinsah, dachte sie, sie könnte einen Schatten ausmachen, der sich an der weiß gekachelten Wand entlangdrückte. Sie hatte das ungute Gefühl, beobachtet zu werden, aber sie entdeckte niemanden.
Ich muss wohl Wahnvorstellungen haben.
Caitlin ging zu dem großen Plan des U-Bahnnetzes. Er war zerkratzt, eingerissen und mit Schmierereien bedeckt, aber sie konnte ihre Linie noch erkennen. Zumindest war sie am richtigen Ort. Die Linie führte geradewegs zum Columbus Circle. Langsam fühlte sie sich ein bisschen besser.
»Hast du dich verlaufen, Kleine?«
Caitlin drehte sich um. Hinter ihr stand ein großer schwarzer Mann. Er war unrasiert, und als er grinste, konnte sie erkennen, dass ihm einige Zähne fehlten. Er stand zu nahe bei ihr, sodass sie seinen schrecklichen Mundgeruch wahrnahm: Er war betrunken.
Sie trat zur Seite und entfernte sich einige Schritte.
»He, du Schlampe, ich rede mit dir!«
Caitlin ging weiter.
Der Mann war offensichtlich richtig zugedröhnt; er torkelte und schwankte, als er ihr langsam folgte. Aber Caitlin ging viel schneller als er, und der Bahnsteig war lang, sodass sie einen ausreichenden Abstand zwischen ihnen herstellen konnte. Sie wollte eine weitere Konfrontation vermeiden. Nicht hier. Nicht jetzt.
Doch er kam immer näher. Sie überlegte, wie lang es wohl noch dauern würde, bis ihr keine andere Wahl mehr blieb, als sich der Situation zu stellen. Bitte, lieber Gott, hol mich hier raus.
In dem Moment erfüllte ohrenbetäubender Lärm die Station. Die U-Bahn fuhr ein. Gott sei Dank.
Sie stieg ein und beobachtete zufrieden, wie die Türen sich vor dem Mann schlossen. Er fluchte und schlug gegen die Metallverkleidung der Bahn.
Sie fuhren los, und Sekunden später war er verschwunden. Endlich war sie auf dem Weg aus diesem Stadtviertel heraus, auf dem Weg in ein neues Leben.
* * *
Caitlin stieg am Columbus Circle aus und marschierte zügig los. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie zwanzig Minuten zu spät kommen würde. Sie schluckte.
Bitte sei noch da. Bitte geh nicht. Bitte.
Als sie nur noch wenige Häuserblocks von ihrem Ziel entfernt war, spürte sie plötzlich einen stechenden Schmerz in der Bauchgegend. Sie blieb stehen und krümmte sich. Die Intensität des Schmerzes überraschte sie.
Vornübergebeugt umklammerte sie ihren Bauch. Sie war nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen, und überlegte kurz, ob die Passanten sie wohl anstarrten, aber ihre Qual war so groß, dass es ihr letztendlich gleichgültig war. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Mühsam schnappte sie nach Luft.
Viele Menschen hasteten an ihr vorbei, aber niemand blieb stehen, um zu fragen, ob alles in Ordnung sei.
Nach ungefähr einer Minute konnte sie sich schließlich wieder langsam aufrichten. Der Schmerz ließ allmählich nach.
Sie atmete tief ein und aus, während sie überlegte, was die Ursache des Schmerzes sein könnte.
Schließlich ging sie weiter in die Richtung des Cafés. Aber sie war völlig verwirrt. Und da war noch was … sie hatte Hunger. Es war kein normaler Hunger, sondern eher etwas wie ein unstillbarer Durst. Als eine Frau mit einem Hund an der Leine vorüberging, drehte Caitlin sich um und starrte das Tier an. Sie ertappte sich dabei, wie sie den Kopf reckte und den Hals des Hundes musterte.
Zu ihrem eigenen Erstaunen erkannte sie die Adern unter der Haut des Tieres und sah das Blut darin pulsieren. Sein Herzschlag war auszumachen, und Caitlin nahm ein dumpfes, betäubendes Gefühl in ihren Zähnen wahr. Sie wollte das Blut dieses Hundes.
Als würde der Hund ihren Blick spüren, drehte er sich um und starrte voller Furcht zu Caitlin auf. Er knurrte und zog an der Leine, um schneller wegzukommen. Die Hundebesitzerin sah sie verständnislos an.
Caitlin ging weiter. Sie verstand nicht, was mit ihr geschah. Sie liebte Hunde. Noch nie hatte sie einem Tier etwas zuleide getan, nicht einmal einer Fliege! Was passierte hier mit ihr?
Doch dann verschwand der Hunger so schnell, wie er gekommen war, und Caitlin fühlte sich wieder normal. Als sie um die nächste Straßenecke bog, sah sie das Café. Sie atmete tief durch, beschleunigte ihren Schritt und war beinahe wieder die Alte. Ein erneuter Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie eine halbe Stunde zu spät war. Sie betete, dass er noch da war.
Sie öffnete die Tür. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, diesmal jedoch nicht vor Schmerz, sondern aus Angst, Jonah könnte schon gegangen sein.
Schnell suchten ihre Augen das Café ab. Völlig außer Atem blieb sie stehen und hatte bereits jetzt das Gefühl, dass sie auffiel. Als sie die Gäste zu ihrer Linken und dann zu ihrer Rechten musterte, stellte sie fest, dass alle Blicke auf sie gerichtet waren. Nur Jonah konnte sie nicht entdecken. Das Herz wurde ihr schwer. Er war wohl schon gegangen.
»Caitlin?«
Sie wirbelte herum. Hinter ihr stand Jonah und lachte sie an. Sie freute sich riesig.
»Es tut mir so leid«, versicherte sie hastig. »Normalerweise komme ich nie zu spät. Es ist nur …«
»Schon okay«, meinte er und legte ihr leicht die Hand auf die Schulter. »Mach dir keine Gedanken. Ich bin einfach nur froh, dass du in Ordnung bist«, fügte er hinzu.
Sie sah in seine strahlenden grünen Augen. Sein Gesicht war immer noch grün und blau verfärbt und angeschwollen. Trotzdem entspannte sie sich zum ersten Mal an diesem Tag wieder. Nun hatte sie das Gefühl, dass alles wieder gut werden würde.
»Wir haben bloß nicht mehr viel Zeit, wenn wir pünktlich da sein wollen«, sagte er. »Uns bleiben nur noch fünf Minuten. Ich denke, wir sollten ein anderes Mal einen Kaffee trinken.«
»Schon okay«, erwiderte sie. »Ich bin nur froh, dass wir das Konzert nicht verpassen. Ich fühle mich wie eine komplette …«
Plötzlich blickte Caitlin an sich herunter und stellte entsetzt fest, dass sie immer noch ihre legere Kleidung trug und ihre Sporttasche, in der sich ihre hübschen Sachen und die schicken Schuhe befanden, in der Hand hielt. Ursprünglich hatte sie geplant, früh im Café zu sein, die Damentoilette aufzusuchen und sich dort umzuziehen. Doch jetzt stand sie ihm schlampig gekleidet gegenüber und klammerte sich an eine Sporttasche. Ihre Wangen glühten. Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte.
»Jonah, es tut mir leid, dass ich in diesem Aufzug hier aufkreuze«, erklärte sie schließlich. »Ich wollte mich eigentlich vorher umziehen, aber … Hast du nicht gesagt, wir haben noch fünf Minuten?«
Besorgt schaute er auf seine Armbanduhr.
»Ja, aber …«
»Ich bin sofort wieder da«, rief sie, und noch bevor er etwas einwenden konnte, sauste sie quer durch das Café und verschwand auf der Toilette.
Dort stürmte sie in eine Kabine und verriegelte die Tür. Dann riss sie ihre Sporttasche auf und zerrte ihre hübschen Sachen heraus. Leider waren sie inzwischen leicht zerknittert. Im Handumdrehen schlüpfte sie aus ihrer Kleidung und ihren Schuhen und zog schnell ihren schwarzen Samtrock und ihre weiße Seidenbluse an. Dann steckte sie sich ihre Ohrringe mit den unechten Diamanten in die Ohrläppchen. Sie waren billig, sahen aber gut aus. Ihr Outfit wurde durch die schwarzen High Heels abgerundet.
Prüfend betrachtete sie sich im Spiegel. Sie sah ein wenig zerzaust aus, aber es war nicht so schlimm, wie sie es sich vorgestellt hatte. Ihre am Hals offen stehende Bluse enthüllte das kleine silberne Kreuz, das sie wie immer um den Hals trug. Sie hatte keine Zeit gehabt, sich zurechtzumachen, aber zumindest war sie angemessen gekleidet. Schnell hielt sie die Hände unter den Wasserhahn und fuhr sich durch die Haare. Dann schnappte sie sich ihre schwarze Handtasche.
Gerade wollte sie gehen, da fiel ihr Blick auf ihre Kleidung und die Turnschuhe. Sie zögerte kurz. Natürlich wollte sie diese Klamotten nicht den ganzen Abend mit sich herumschleppen. Eigentlich wollte sie sie sogar nie wieder tragen.
Also knüllte sie die Kleidungsstücke zusammen und stopfte sie hochzufrieden in den Mülleimer in der Ecke des Raums. Jetzt besaß sie nur noch das Outfit, das sie am Körper trug – und es fühlte sich gut an, in dieser Kleidung in ihr neues Leben zu spazieren.
Jonah wartete vor dem Café auf sie, wippte mit dem Fuß und sah immer wieder auf die Uhr. Als sie die Tür öffnete, drehte er sich rasch um, doch bei ihrem Anblick erstarrte er. Sprachlos starrte er sie an.
Caitlin hatte noch nie erlebt, dass ein Junge sie so ansah. Sie fand sich eigentlich nicht besonders attraktiv. Doch durch Jonahs Blick fühlte sie sich, als wäre sie etwas … ganz Besonderes. Zum ersten Mal fühlte sie sich wie eine Frau.
»Du bist … wunderschön«, sagte er leise.
»Danke«, erwiderte sie. Du auch, hätte sie gerne geantwortet, aber sie hielt sich zurück.
Erfüllt von neuem Selbstvertrauen ging sie auf ihn zu, hakte sich bei ihm unter und wandte sich in Richtung der Carnegie Hall. Er passte sich ihrem Tempo an und legte seine freie Hand auf ihre.
Wie schön es war, Arm in Arm mit einem Jungen zu gehen. Trotz der Ereignisse des heutigen Tages und des Vortages schwebte Caitlin nun im siebten Himmel.
6. Kapitel
Die Carnegie Hall war brechend voll. Jonah ging voraus und bahnte sich einen Weg durch die Menge zur Kasse, um ihre Tickets abzuholen. Durchzukommen war nicht einfach. Die hier versammelten Menschen waren wohlhabend und anspruchsvoll, und alle schienen es eilig zu haben. Caitlin hatte noch nie so viele gut gekleidete Leute auf einem Fleck gesehen. Die meisten Männer trugen einen Smoking, die Frauen lange Abendkleider. Überall glitzerte und funkelte kostbarer Schmuck. Es war aufregend!
Jonah holte die Tickets ab und führte Caitlin die Treppe hinauf. Er reichte die Tickets einem Saalordner, der den Kontrollabschnitt abriss und dann die Tickets zurückgab.
»Kann ich eins davon behalten?«, fragte Caitlin, als Jonah die Tickets gerade in die Tasche stecken wollte.
»Na klar«, sagte er und gab ihr eins.
Sie strich mit dem Daumen darüber.
»Ich hebe so was gerne auf«, fügte sie errötend hinzu. »Da bin ich vermutlich ein bisschen sentimental.«
Jonah lächelte, als sie das Ticket vorne in ihre Tasche steckte.
Ein Platzanweiser zeigte ihnen den Weg. Sie gingen einen luxuriösen Flur mit einem dicken roten Teppich entlang. Gerahmte Bilder von Künstlern und Sängern hingen an den Wänden.
»Wie hast du denn die Freikarten ergattert?«, wollte Caitlin wissen.
»Über den Lehrer, bei dem ich den Bratschenunterricht nehme«, erklärte er. »Er hat ein Abonnement, aber heute konnte er nicht herkommen, deshalb hat er mir die Karten gegeben.«
»Ich hoffe, es schmälert das Ganze für dich nicht, dass ich nicht selbst dafür bezahlt habe«, fügte er dann noch hinzu.
Sie sah ihn verwirrt an.
»Unsere Verabredung.«
»Natürlich nicht«, erwiderte sie. »Du hast mich doch hierher gebracht. Das ist das Einzige, worauf es ankommt. Es ist einfach fantastisch hier.«
Ein anderer Platzanweiser zeigte Caitlin und Jonah eine schmale Tür, die direkt in den Konzertsaal führte. Sie befanden sich weit oben, in einer Höhe von ungefähr fünfzehn Metern. In der kleinen Loge gab es nur zehn bis fünfzehn Plätze. Ihre Sitze lagen am Rand des Balkons, direkt vorne am Geländer.
Jonah klappte den dicken Plüschsitz für sie herunter, und sie sah auf die Zuschauermenge und die Musiker hinab. Es war der stilvollste Ort, an dem sie je gewesen war. Staunend betrachtete sie das Meer von grauem Haar unter ihr und fühlte sich rund fünfzig Jahre zu jung, um hier zu sein. Trotzdem war sie begeistert.
Als Jonah sich setzte, berührten sich ihre Ellbogen. Die Nähe seines warmen Körpers war aufregend. Während sie warteten, hätte sie am liebsten seine Hand gehalten. Aber sie wollte nicht riskieren, aufdringlich zu wirken. Also hoffte sie, dass er den ersten Schritt wagen würde. Aber er machte keine Anstalten. Naja, es war ja noch früh. Vielleicht war er auch schüchtern.
Stattdessen beugte er sich über das Geländer und zeigte ihr die Musiker.
»Die besten Geiger sitzen am Bühnenrand«, erläuterte er. »Diese Frau dort ist eine der besten Geigerinnen der Welt.«
»Hast du schon mal hier gespielt?«, fragte sie.
Jonah lachte. »Schön wär’s!«, meinte er. »Dieser Konzertsaal liegt nur fünfzig Häuserblocks von unserem entfernt, aber er könnte sich genauso gut auf einem anderen Planeten befinden – zumindest, was mein Talent angeht. Vielleicht irgendwann einmal.«
Sie blickte auf die Bühne hinunter, wo Hunderte von Musikern ihre Instrumente stimmten. Sie trugen alle Abendgarderobe und wirkten ernst und konzentriert. Hinten an der Wand hatte ein riesiger Chor Aufstellung genommen.
Plötzlich stolzierte ein junger Mann um die zwanzig mit langem wallendem Haar auf die Bühne. Auch er trug einen Smoking. Als er zwischen den Musikern hindurchging und auf die Mitte der Bühne zustrebte, erhob sich das gesamte Publikum und applaudierte.
»Wer ist das denn?«, fragte Caitlin.
Gerade erreichte der Mann das Zentrum der Bühne und verbeugte sich lächelnd mehrere Male. Selbst von hier oben konnte Caitlin erkennen, dass er umwerfend attraktiv war.
»Sergei Rakow«, antwortete Jonah. »Er ist einer der besten Opernsänger der Welt.«
»Aber er sieht so jung aus.«
»Hier geht es nicht um Alter, sondern um Talent«, antwortete Jonah. »Aber es gibt Talent, und es gibt Talent. Und mit dieser Art von Talent muss man geboren sein – und man muss sehr viel üben. Nicht vier Stunden täglich, sondern acht Stunden. Jeden Tag. Das würde tun, wenn ich könnte, aber mein Dad lässt mich nicht.«
»Warum nicht?«
»Er will nicht, dass sich mein ganzes Leben nur um eine Bratsche dreht.«
Sie hörte die Enttäuschung in seiner Stimme.
Schließlich ebbte der Applaus ab.
»Heute Abend spielen sie Beethovens 9. Sinfonie«, erklärte Jonah. »Sie ist wohl sein berühmtestes Werk. Hast du sie schon einmal gehört?«
Caitlin schüttelte den Kopf und kam sich sehr dumm vor. Sie hatte in der neunten Klasse klassische Musik durchgenommen, aber sie hatte im Unterricht kaum zugehört. Damals hatte sie dem Ganzen nichts abgewinnen können, und außerdem waren sie gerade erst wieder umgezogen und ihre Gedanken waren ganz woanders. Doch jetzt wünschte sie, sie hätte besser aufgepasst.
»Um diese Sinfonie aufzuführen, braucht man ein großes Orchester«, führte er weiter aus, »und einen großen Chor. Wahrscheinlich sind mehr Musiker und Sänger auf der Bühne erforderlich als für jedes andere Musikstück. Das ist alles sehr aufregend. Deshalb ist das Konzerthaus auch so voll.«
Sie ließ den Blick über den Saal schweifen. Dort waren Tausende von Menschen und kein einziger freier Sitzplatz.
»Dieses Werk ist die letzte vollendete Sinfonie Beethovens. Er wusste, dass er bald sterben würde, und setzte dieses Wissen in Musik um. Was man hört, ist der Klang des bevorstehenden Todes.« Er drehte sich zu ihr und lächelte entschuldigend. »Tut mir leid, es ist etwas morbid, ich weiß.«
»Nein, das ist schon in Ordnung«, erwiderte sie, und sie meinte es auch so. Sie liebte es einfach, ihm zuzuhören. Sie liebte den Klang seiner Stimme, und es gefiel ihr, wie viel er wusste. Ihre Freunde führten immer so oberflächliche Unterhaltungen, aber sie wollte mehr. Sie schätzte sich glücklich, mit Jonah zusammen zu sein.
Es gab so viel, was sie ihm sagen wollte, so viele Fragen, die sie ihm stellen wollte – aber auf einmal wurden die Lichter gedimmt, und im Zuschauerraum wurde es ganz still. Sie würde warten müssen. Erst einmal lehnte sie sich zurück und machte es sich bequem.
Als sie den Blick senkte, entdeckte sie überrascht, dass Jonah seine Hand auf die Armlehne zwischen ihnen gelegt hatte – mit der Handfläche nach oben, als ob er ihre Hand einlud. Langsam, um nicht zu eifrig zu wirken, streckte sie ihre Hand aus und legte sie in seine. Sie war weich und warm. Ihre Hände schienen miteinander zu verschmelzen.
Als das Orchester zu spielen begann und die ersten Töne erklangen – sanft, ruhig und melodiös –, wurde sie von einem ihr bisher unbekannten Glücksgefühl erfasst. Ihr wurde plötzlich bewusst, dass sie noch nie zuvor so glücklich gewesen war. Die Ereignisse des Vortags verblassten völlig. Wenn das der Klang des Todes war, wollte sie mehr davon hören.
* * *
Caitlin ging voll und ganz in der Musik auf und wunderte sich, dass sie die noch nie gehört hatte. Doch als sie gerade noch darüber nachdachte, wie sie ihr Date mit Jonah weiter ausdehnen könnte, geschah es wieder. Der Schmerz schlug ganz plötzlich zu. Er traf sie im Bauch, wie zuvor auf der Straße, und sie musste ihre ganze Willenskraft aufwenden, um nicht vor Jonahs Augen umzukippen. Schweigend biss sie die Zähne zusammen und rang nach Luft. Auf ihrer Stirn bildeten sich Schweißperlen.
Ein weiterer stechender Schmerz ergriff Besitz von ihr.
Dieses Mal schrie sie leise auf, nur ein kleines bisschen, aber laut genug, um die Musik zu übertönen, die gerade anschwoll. Jonah musste sie gehört haben, denn er drehte sich zu ihr und sah sie besorgt an. Sanft legte er ihr eine Hand auf die Schulter.
»Bist du okay?«, fragte er.
Nein, sie war nicht okay. Der Schmerz war überwältigend. Und sie spürte noch etwas anderes: Hunger. Sie hatte geradezu Heißhunger. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte sie ein Gefühl dermaßen überwältigt.
Sie sah kurz zu Jonah hinüber, und ihr Blick suchte sofort seinen Hals. Instinktiv konzentrierte sie sich auf das Pulsieren seiner Vene und verfolgte ihren Verlauf vom Ohr hinunter bis zur Kehle. Sie beobachtete das Pochen seines Pulses und zählte die Herzschläge.
»Caitlin?«
Das Verlangen wurde übermächtig. Sie spürte, dass sie sich nicht mehr länger unter Kontrolle haben würde, wenn sie auch nur noch eine Sekunde länger sitzen blieb. Wenn sie jetzt nichts unternahm, würde sie definitiv ihre Zähne in Jonahs Hals bohren.
Mit allerletzter Willenskraft stand Caitlin auf, sprang mit einer einzigen fließenden Bewegung über Jonah hinweg und rannte die Stufen hinauf zur Tür.
Im selben Moment wurden die Lichter im Saal voll aufgedreht, während das Orchester noch die letzten Noten spielte. Pause. Das gesamte Publikum sprang auf und applaudierte wie wild.
Caitlin erreichte die Tür wenige Sekunden, bevor die Massen sich aus ihren Sitzen erhoben.
»Caitlin!?«, schrie Jonah irgendwo hinter ihr. Wahrscheinlich versuchte er, ihr zu folgen.
Sie konnte nicht zulassen, dass er sie so sah. Und was noch viel wichtiger war: Sie durfte ihn nicht in ihre Nähe lassen. Sie fühlte sich wie ein Tier. Schnell ging sie die leeren Gänge der Carnegie Hall entlang, schnell und immer schneller, bis sie schließlich regelrecht sprintete.
Bald erreichte sie eine unglaubliche Geschwindigkeit und raste förmlich über die mit Teppichen ausgelegten Flure. Sie war ein Tier auf der Jagd. Und sie brauchte Nahrung. Sie wusste genug, um zu begreifen, dass sie von der Menschenmenge weg musste. Und zwar schnell.
Als sie einen Ausgang entdeckte, lehnte sie sich mit der Schulter gegen die Tür, doch sie war verschlossen. Caitlin sprengte sie einfach aus den Angeln.
Anschließend fand sie sich in einem nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Treppenhaus wieder. Sie sauste die Stufen hinauf, immer drei auf einmal nehmend, bis sie eine weitere Tür erreichte. Sie öffnete sie auf die gleiche Weise wie die erste Tür und stand in einem neuen Gang.
Dieser Gang war noch vornehmer und noch leerer als die anderen. Trotz des Nebels, in dem sie sich bewegte, erkannte sie, dass sie sich im Backstagebereich befand. Sie ging den Flur entlang und krümmte sich vor Hunger. Ihr war klar, dass sie das keine Sekunde länger aushalten konnte.
Sie hob die Hand und versetzte der nächstbesten Tür einen Stoß. Sie flog mit einem lauten Krachen auf. Es war eine private Garderobe.
Vor einem Spiegel saß der Sänger, Sergei, und bewunderte sich selbst. Das hier musste seine Garderobe sein. Irgendwie hatte es sie hierher verschlagen.
Ärgerlich stand er auf.
»Es tut mir leid, aber jetzt gibt es keine Autogramme«, schnauzte er sie an. »Die Sicherheitsleute hätten Ihnen das sagen sollen. Das ist meine freie Zeit. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich muss mich vorbereiten.«
Mit einem kehligen Schrei stürzte Caitlin sich direkt auf seinen Hals und bohrte ihre Zähne tief in seine Kehle.
Er schrie auf, aber es war zu spät.
Ihre Zähne stießen in seine Venen. Sie trank. Sie spürte, wie sein Blut durch ihre Adern floss und ihr heftiges Verlangen allmählich gestillt wurde. Es war genau das, was sie gebraucht hatte. Und sie hätte keinen Augenblick länger warten können.