Kitabı oku: «Das Trauma des "Königsmordes"», sayfa 2
»[…] Franzosen und Briten sind von Natur
Ganz ohne Gemüt; Gemüt hat nur
Der Deutsche, er wird gemütlich bleiben
Sogar im terroristischen Treiben.
Der Deutsche wird die Majestät
Behandeln stets mit Pietät.
In einer sechsspännigen Hofkarosse,
Schwarz panaschiert und beflort die Rosse,
Hoch auf dem Bock mit der Trauerpeitsche
Der weinende Kutscher - so wird der deutsche
Monarch einst nach dem Richtplatz kutschiert
Und unterthänigst guillotiniert.«
Heinrich Heine
Einleitung
Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit der historiographischen Rezeption der Französischen Revolution im deutschen Vormärz. Sie berührt somit einen bestimmten Aspekt jenes umfassenderen Themas, das die Beziehung der Deutschen im 19. Jahrhundert zur Revolution als einer Möglichkeit wirklicher politischer und sozialer Veränderung zum Inhalt hat. In diesem Sinne wird Frankreich und Deutschland eine paradigmatische Bedeutung zugeschrieben, derzufolge Frankreich als Archetyp eines Revolutionslandes aufgefaßt wird, wohingegen Deutschland ein durch den sogenannten »Sonderweg«1 gekennzeichnetes Staatswesen symbolisiert, ein Land also, in dem sich keine erfolgreich abgeschlossene politische Revolution ereignet hat.
Dieser Gesichtspunkt, das Spezifische am Verlauf der deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert, ist an sich in großem Maße umstritten, da dem »Endpunkt« jenes »Weges«, dem nationalsozialistischen Regime im 20. Jahrhundert, die Funktion eines Kriteriums beigemessen werden muß, das bei keinem Versuch, diesen Weg erklären zu wollen, ignoriert werden kann2. Es läßt sich behaupten, daß sich das Forschungsfeld der modernen deutschen Geschichte seit 1945 im Zeichen der Debatte über die Frage bewegt, welche politische und soziale Bedeutung der Tatsache zuzuschreiben sei, daß Deutschland, im Gegensatz zu den meisten westlichen Ländern, ein Land ohne erfolgreiche bürgerliche Revolution geblieben ist, und ob zwischen diesem Sachverhalt und dem, was Meinecke als »die deutsche Katastrophe« bezeichnet, eine Verbindung herzustellen sei3.
Man kann die in dieser Hinsicht vertretenen Positionen in zwei historiographische Hauptlager unterteilen und ein drittes, das sich in den letzten Jahren herangebildet hat, hinzufügen:
1. Das erste Lager vertritt die Anschauung, Deutschlands »revolutionsloser« Weg sei gerechtfertigt gewesen – habe er doch bewiesen, daß sich sowohl der graduelle Übergang von einer feudalistisch strukturierten in eine industrialisierte bürgerliche Gesellschaft als auch der Eintritt in die nationalstaatliche Phase ohne eine gewaltsame Revolution vollziehen ließ. Das Dritte Reich wird aus dieser Sicht nicht als Resultat der vorangehenden Entwicklung aufgefaßt, sondern vielmehr als eine Art »Betriebsunfall«.
2. Das zweite Lager erblickt gerade im deutschen Faschismus ein gültiges historisches Kriterium für die Fehlentwicklung der deutschen Gesellschaft und erkennt in der von Plessner4 so genannten »Verspätung« der deutschen Nation auf wirtschaftlicher und politischer Ebene sowie in ihrer »Revolutionslosigkeit« unheilvolle Determinanten der Folgen dieser Fehlentwicklung im 20. Jahrhundert5.
3. Das dritte historiographische Lager ist bestrebt, die den obigen Positionen eigenen ideologischen Spitzen abzubiegen, um »Mythen deutscher Geschichte« sozusagen »wissenschaftlich« zu widerlegen. Zwar ignoriert diese Richtung den Nationalsozialismus nicht unbedingt, sie konzentriert sich indes vorwiegend auf die Darstellung der doch auch im monarchistischen Deutschland des 19. Jahrhunderts herangereiften bürgerlichen Gesellschaft sowie auf die Untersuchung der historischen Zulänglichkeit des Begriffs vom »a-politischen Deutschen«6.
Dem ist nicht zu entnehmen, daß die hier gerafft umrissenen historiographischen Bezüge offen als politisch-ideologische Bekenntnisse ausgegeben würden; fast keiner der sich mit der Geschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert beschäftigenden Historiker nimmt auf den Nationalsozialismus ausdrücklichen Bezug. Und dennoch: Da man nicht annehmen kann, daß auch nur einer von ihnen die späteren Fakten als Gegebenheit der Chronik aus seinem Bewußtsein auszumerzen vermag (und es ist hierbei von geringer Bedeutung, ob diese Fakten als integraler Bestandteil der Gesamtentwicklung aufgefaßt werden oder nicht), erzwingt das Wissen a posteriori die Konfrontation der vorausgegangenen Ereignisse und Entwicklungsstrukturen aus irgendeiner Position – mit anderen Worten: Der sich seit 1945 mit der modernen deutschen Geschichte auseinandersetzende Historiker kann sich nicht einer Position entziehen, die ihrer Tendenz nach eine Bezugnahme zum Nationalsozialismus als gegebener Tatsache in der Gesamtchronik seines Forschungsobjektes inkorporieren muß. Die ideologische Komponente dieser immanenten Position ist im Modus der inhaltlichen Verknüpfung enthalten, welche der Historiker zwischen dem Ereignis selbst und der ihm vorausgehenden Entwicklung schafft bzw. in der Bedeutung, die er dieser früheren Entwicklung beimißt, selbst dann, wenn er den Nationalsozialismus nicht explizit erwähnt7. In diesem Sinne besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Historiker, der am Ende des 19. Jahrhunderts über die Einigung Deutschlands schreibt, und dem Historiker, der sich mit diesem Thema heute beschäftigt. Der heutige Historiker, der sich des Entwicklungsganges seit der von Bismarck oktroyierten Einigung bewußt ist, wird sich (und sei es indirekt) mit der Problemstellung auseinandersetzen müssen, ob es eine wie auch immer geartete Verbindung gibt zwischen dieser autoritären politischen Lösung der »deutschen Frage«, dem autoritären Regime der wilhelminischen Zeit8, den imperialistischen Bestrebungen, die – unter anderem – zum Ersten Weltkrieg führten9, dem zögernden Eintritt in die Weimarer Republik10 und eben der Etablierung der hitlerischen Terrorherrschaft.
Es sei schon an dieser Stelle angemerkt, daß wir eine solche Verbindung für unsere weiteren Überlegungen voraussetzen. Unserer Auffassung nach läßt sich kein historisches Ereignis von seinen historischen Prädispositionen trennen, auch dann nicht, wenn diesem Ereignis im nachhinein das Attribut eines »Wendepunktes« zugeschrieben wird. Dieser Sichtweise gemäß muß also die »Revolution von oben« der Jahre 1870/71 vor allem mit dem Scheitern der Revolution von 1848/49 oder auch, allgemeiner ausgedrückt, mit dem sogenannten »gestörten Verhältnis der Deutschen zur Revolution« in Verbindung gebracht werden11. So besehen beschäftigt sich die vorliegende Untersuchung mit dem Symptom einer sowohl strukturellen als auch mentalen Entwicklung, die wir als determinant für die gesellschaftliche und politische Kristallisierung Deutschlands im Verlauf des 19. Jahrhunderts bis hin zur nationalsozialistischen Herrschaft erachten.
Dies will wohlverstanden sein: Unsere Auffassung des Nationalsozialismus als Kriterium für die Wesenserfassung der Entwicklung Deutschlands in der modernen Zeit postuliert nicht eine deterministisch vorgegebene, quasi unumgängliche »historische Notwendigkeit«. Die von uns anvisierte historische Epoche weist mehr als genug alternative Optionen12 auf; dennoch läßt sich der Tatbestand nicht ignorieren, daß die republikanischen und demokratischen Möglichkeiten, welche in verschiedenen Phasen die Matrix für eine sozio-politische Selbstbestimmung hätten abgeben können, nicht wahrgenommen worden sind. Man kann dies natürlich mit der Konstellation der »partikularen Umständen« einer jeden Phase erklären wollen; wir hingegen meinen, daß wenn sich eine lange Reihe solcher »Konstellationsumstände« nachweisen läßt, die sich jedesmal durch die Nichtwahrnehmung der emanzipatorischen Möglichkeit auszeichnen, man eher von einem Verhaltensmuster (Pattern) reden sollte. Gemeint ist nicht ein Pattern, das wir (als die nachkommenden Betrachter) den Entwicklungsstrukturen deutscher Geschichte in den letzten 200 Jahren im nachhinein zuschreiben, sondern jene Pattern, welche der politischen Handlungsweise des Kollektivsubjekts »Deutschland« als Grundlage dienten, und jene Entwicklungsabläufe (unter anderem) selbst in Gang setzten.
Der Begriff »Kollektivsubjekt« erfordert eine nähere Erörterung. Selbstverständlich handelt es sich bei Begriffsverwendungen wie »Deutschland« oder »die Deutschen« um Verallgemeinerungen, die spezifische Unterschiede in einem solchen Maße verwischen können, daß man ihre Tauglichkeit als analytisches Instrumentarium nachgerade bezweifeln möchte. So ließe sich z.B. in dem von uns behandelten Zusammenhang behaupten, daß die in Deutschland damals existierenden Klassen- und ideologischen Unterschiede, die man im Rahmen einer Rezeptionsanalyse der Revolution wohl nicht außeracht lassen sollte, mit einer solchen Verallgemeinerung übergangen würden. Diesem Einwand ist folgendes entgegenzusetzen:
Erstens: Wir verwenden Begriffe wie »Deutschland« oder »die Deutschen« als Kategorien zur Unterscheidung der von uns untersuchten Gruppe von anderen Kollektivwesen, wie »Frankreich« oder »die Franzosen«. Die Validität eines solchen verallgemeinernden Vergleichs ergibt sich vorrangig aus dem historischen Kriterium, das wir in Beziehung auf beide Nationen applizieren: In der einen hat die Revolution stattgefunden, und es entstand in ihr gar eine politische Revolutionstradition, wohingegen die andere in ihrer modernen Geschichte keine erfolgreich abgeschlossene Revolution zu verzeichnen hat, und es etablierte sich in ihr eher eine »politische Kultur«, die von je darauf aus war, die Revolution zu umgehen.
Zweitens: Was die innerdeutsche soziale Schichtung anbelangt, so gilt unser Hauptinteresse dem von der Aristokratie allgemein und vom Hofadel besonders abgegerenzten »Bildungsbürgertum«. Diese Kategorie (und speziell die ihr angehörende Intelligenzschicht) wird von uns als eine Art pars pro toto des gesamten Bürgertums aufgefaßt13, und zwar vor allem deshalb, weil in der hier zur Deabatte stehenden Epoche noch keinerlei scharfe ideologische Trennung zwischen den unterschiedlichen Teilen dieser gesellschaftlichen Klasse auszumachen ist. Dies soll keineswegs besagen, es habe damals nicht schon klare sozio-ökonomische Unterschiede gegeben; da sich aber der Industrialisierungsprozeß noch in den Anfängen befand, kann man gewiß nicht von einer bewußten Polarisierung der Klassenideologien sprechen, und in jedem Fall haben besagte Unterschiede keinen Niederschlag in konträr entgegengesetzten, fest umrissenen politischen Programmen gefunden.
Andererseits bildete die Intelligenz als wohl prägnanteste Gruppe innerhalb des Bildungsbürgertums, ähnlich wie in anderen Ländern des 19. Jahrhunderts, auch in Deutschland die Speerspitze der politischen und sozialen Kämpfe. In dieser Hinsicht kommt ihrer politischen Aktivität gerade in Deutschland eine doppelte Funktion zu: Ihr politischer Kampf hat objektiv einen Klassencharakter14, und sei es wegen ihrer sozialen Zugehörigkeit zur Kategorie »Bürgertum«; aber es ist auch der klassenlose Kampf der, von Karl Mannheim so genannten, »freischwebenden Intelligenz«, d.h. also in unserem Fall jener Gebildetenschicht, die in besagter Epoche aus dem Glauben an Ideale und Grundsätze der Aufklärung gegen die politische Realität räsoniert. Wir werden die spezifische Situation dieser Schicht in Deutschland noch genauer zu betrachten haben, es läßt sich indes jetzt schon behaupten, daß der Charakter ihrer politischen Aktivität sowohl von der immanenten Marginalität einer »auf dem Zaun sitzenden« Intellektuellengruppe als auch von der bürgerlich sozialen Herkunft dieser Schicht, welche sich in ihrer Selbstbestimmung sowohl vom Adel als auch von den »unteren Schichten« unterschieden wissen wollte, stark beeinflußt war.
Mehr noch: Die Verwendung verallgemeinernder Begriffe ist gerade in den Geistes- und Sozialwissenschaften höchst verbreitet, denn sie ist letztlich unumgänglich. Denkt man sich nämlich die soziale Realität atomistisch, d.h. als umfassende Zusammensetzung einer Vielzahl von Individuen, so ist jeder Versuch, auch nur einen Teil dieser Realität vernünftig erfassen zu wollen, von vornherein und unweigerlich an einer begrifflichen Verallgemeinerung bzw. an eine Unterteilung in Kategorien gekettet, deren Erklärungsvalidität von der Definition abhängt, die man dem zu erforschenden Objekt nach logischen Erwägungen und methodologischen Zwängen zukommen läßt, Erwägungen, die im Grunde aber nichts anderes sind als das Erzeugnis eines wertbeladenen (sehr oft ideologischen) Ausgangspunktes in der Auffassung des Forschers. Der Grad der Annehmbarkeit besagter Definition und der von ihr abgeleiteten begrifflichen Verallgemeinerung innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinde ist Funktion eines konjunkturbedingten Konsenses, welcher selber jederzeit angesichts eines bevorstehenden Paradigmenwechsels zersetzt werden kann, oder er existiert von vornherein erst gar nicht infolge der die Wissenschaftsgemeinde selbst beherrschenden ideologischen Differenzen. So z.B. unterscheidet sich der »Klassen«-Begriff der marxistischen Theorie von der der struktur-funktionalen Schule; beiden Strömungen gemeinsam ist jedoch der unumgängliche Gebrauch einer verallgemeinernden Abstraktion des Begriffes selbst zwecks Formulierung einer Theorie über das Wesen sozialer Prozesse. Die diesbezüglich mögliche Einwendung, eine Theorie sei nicht gültig, wenn sie nicht empirisch überprüfbar sei, verliert zumindest einiges von ihrer Eindeutigkeit, sobald man sich gezwungen sieht, den Bereich sogenannter »harter Variablen« zu verlassen, um sich mit Parametern wie »Image«, »Ansehen« u.s.w. auseinanderzusetzen; es stellt sich dann nämlich heraus, daß auch der zur Überprüfung der Abstraktion und ihrer Gültigkeit bestimmte Apparat mit Begriffen angefüllt ist, die in nichts anderem als den (wertbeladenen) Erwägungen des Forschers wurzeln.
Wir betonen all dies, um herauszustreichen, daß es vor der Verallgemeinerung und der auf ihr gegründeten Abstraktion praktisch kein Entrinnen gibt15. Gleiches trifft auch für die Geschichtswissenschaft zu16, obwohl deren Selbstbestimmung als idiographische Wissenschaft die Vorstellung erwecken könnte, daß dem nicht so sei. Letztlich besitzt diese Wissenschaft kein wirklich eigenständiges Erkenntnis- und Erklärungsvermögen17; sie kann sich lediglich auf das Grundpostulat berufen, daß die von ihr angegangenen Phänomene sich genetisch aus den ihnen chronologisch vorangegangenen Faktoren entwickelt hätten, d.h. also, daß alle menschlichen Erscheinungen aus ihren historischen Prädispositionen heraus zu verstehen seien. Dieses (an sich richtige und nicht unwichtige) Postulat läßt sich indes nur dann umsetzen, wenn man sich in der Analyse besagter Erscheinungen und deren Prädispositionen auf theoretische Erwägungen stützt. Akzeptiert man aber diese Voraussetzung, so wird es leicht verständlich, wieso sich »das deutsche Bürgertum« als »Kollektivsubjekt« begreifen läßt, ohne daß man deshalb den Nachweis gleichen Verhaltens, identischen Handelns oder gar Denkens aller ihm zugeordneten Individuen erbringen müßte – genauso wie es müßig, ja überflüssig erscheinen muß, beweisen zu wollen, daß jeder der Jakobiner oder der Aristokraten in der Französischen Revolution sich in Übereinstimmung mit der Tendenz verhielt, die man diesen Gruppen in den unterschiedlichen historischen Situationen gemeinhin zuzuschreiben pflegt. Für gewöhnlich sehen wir die häufig auftretende und herausragende Neigung im Verhalten einer Gruppe als deren Charakteristikum an, und die Abweichungen von ihr werden als negative Bestätigung der allgemeinen Tendenz verstanden, als eine Art kontrapunktische Affirmation des Charakteristischen18. Es läßt sich natürlich einwenden, daß es gerade die dieser allgemeinen Tendenz innewohnenden partikularen Unterschiede seien, welche die historische Aussage beleben, sie interessant machen. So wahr dies an sich sein mag, meinen wir demgegenüber, daß das zur Debatte stehende Erklärungsvermögen historischer Aussagen primär in jenen Strukturen, Tendenzen und Mustern, die wir in dem erforschten Phänomen auszumachen vermögen, zu suchen sei, ohne daß dabei der Individualität des Phänomens Abbruch getan werden muß.
Eines der in der Historiographie moderner deutscher Geschichte und im Rahmen der Debatte um das sogenannte »gestörte Verhältnis der Deutschen zur Revolution« am häufigsten erwähnten sozialpsychologischen Verhaltensmuster (wir verwenden künftig den treffenderen englischen Begriff »Pattern«) ist die von Meinecke als »Obödienzgesinnung«19 umschriebene Beziehung deutscher »Untertanen« zur »Obrigkeit«, oder breiter formuliert: das autoritäre Verhältnis der Deutschen zur Autorität. Bereits im Jahre 1918 hat Heinrich Mann diesem autoritären Verhalten in der exemplarischen Gestalt des Diederich Heßling ein eindrucksvolles literarisches Denkmal gesetzt20. Einen besonderen Impetus erhielt die Auseinandersetzung mit diesem Thema aber erst nach 1945, als das akute Bedürfnis aufkam, die Entwicklung, welche zum Dritten Reich, zur Unterwerfung des deutschen Volkes unter das autoritäre Nazi-Regime, geführt hatte, »erklären« zu wollen. Aber die in diesem Zusammenhang etablierte Charakteristik des Autoritären implizierte oft nicht viel mehr als schnöde Stigmatisierung, sodaß sie letzten Endes als leicht abgegriffene Phrase in den gängigen strukturorientierten Faschismustheorien absorbiert wurde und unterging. Die in dieser Charakteristik enthaltene mentale Grundlage verlor somit vollends ihre Gültigkeit und verkümmerte zugunsten einer sich zunehmend ausbreitenden, nach rein politisch-ideologischen Gesichspunkten klassifizierenden und wertenden Ausrichtung. Die Frage, wie es passiert war, daß sich das deutsche Volk dem autoritären Nazi-Regime unterworfen hatte, wurde (unter Heranziehung der Beschaffenheit von Umständen, der Analyse von Machttrukturen und der Darstellung von Repressionsmechanismen) vor allem als eine Frage des Systems thematisiert; so bedeutend die in diesem Zusammenhang gemachten Aussagen gewesen sein mögen, führten sie doch zu einer um sich greifenden Vernachlässigung der sozialpsychologischen Dimension dieser Fragestellung; man meinte, das zur Debatte stehende Phänomen könne durch sie nicht erklärt werden, befürchtete aber auch darüberhinaus die pauschalisierend stigmatisierende Gefahr eines irrationalen Determinismus, der sich in eine solche Erklärung einschleichen könnte.
Eine Sonderstellung nahm in dieser allgemeinen Entwicklung die Frankfurter Schule21 ein. Ihre Gründer, die die multidimensionalen Grundlagen der Faschismus-Erscheinung im 20. Jahrhundert analytisch anzugehen versuchten, schufen eine theoretische Synthese zwischen der marxistischen Gesellschaftslehre und der Psychoanalyse mit der Zielsetzung, die Verknüpfung der sozialen und mentalen Faktoren des Phänomens systematisch zu untersuchen. Nicht von ungefähr wurde hierbei besondere Aufmerksamkeit dem Wesen des Autoritären und den autoritären Charakterstrukturen der faschistischen Persönlichkeit geschenkt.
In der vorliegenden Untersuchung stützen wir uns weitgehend auf das grundlegende Paradigma dieser Schule. Bevor wir jedoch die ihm unterlegten theoretischen Erwägungen vorstellen, müssen wir kurz bei einem Schlüsselproblem verweilen, das sich schon aus der Verbindung zweier vermeintlich so extrem konträrer Lehren stellt22. Es erhebt sich nämlich in diesem Zusammenhang die Frage, ob es überhaupt möglich sei, ein Begriffssystem, das das Verhalten des Individuums zu erklären vorgibt, auf die Analyse der Verhaltensmuster sozialer Kollektive anzuwenden; oder anders ausgedrückt: Mit welchem Gültigkeitsanspruch kann man vom Verhalten einzelner Individuen auf das Wesen gesellschaftlicher Prozesse schließen?
Soweit bekannt, gibt es kein einziges, allgemein akzeptiertes theoretisches Modell, das dieses mit einer sehr langen Diskurstradition befrachtete Problem, philosophisch gesehen, umfassend angegangen wäre oder gar endgültig gelöst hätte. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist die sich um diese Fragestellung zuspitzende soziologische Debatte zu einer Art Höhepunkt in der Form einer Polarisierung der in Emile Durkheims und Max Webers Lehren verkörperten Paradigmen gelangt. Der um die Erfassung des Wesens des gesellschaftlichen Gebildes und der sich aus ihm ableitenden Prozesse bemühte Franzose ging von der Annahme eines a priori existierenden, das Verhalten des Individuums determinierenden sozialen Körpers aus. Der Wille, die Wünsche und somit auch das Verhalten des Individuums sind (dieser Auffassung zufolge) als Ableitungen jenes vom Einzelnen introjizierten und zu einer Art »höheren Natur« seiner selbst gewordenen sozialen Wesens zu verstehen. Aus dieser Sicht wird also das als Teil des sozialen Kollektivs gedachte Individuum von dessen Institutionen beherrscht und überwacht. Demgegenüber ging Weber davon aus, daß das Wesen sozialer Prozesse gar nicht zu begreifen sei, wenn man nicht das Handeln des »Einzelmenschen«, die diesem Handeln zugrunde liegende Entscheidung und die sich in ihr widerspiegelnden Werturteile zum Ausgangspunkt wählt. Der soziale Körper verändert sich unentwegt im Verlauf historischer Prozesse, welche aber widerum letztlich als unzählige Handlungen von Einzelmenschen zu begreifen seien. Die in diesen Prozessen auszumachenden Strukturen und Pattern sind zunächst vor allem Konzeptionen im Bewußtsein dessen, der sie betrachtet und zu verstehen beansprucht: Sie beschreiben nicht die in unzählig vielen Schichten gestaffelte soziale Realität, sondern repräsentieren vielmehr lediglich einen Teil dieser, einen Teil freilich, der das theoretische Verstehen der Strukturen ermöglichen soll. Die soziale Wirklichkeit läßt sich nicht voll erfassen, und in keinem Fall darf ihr eine a priori wirkende, determinierende Kraft zugeschrieben werden; da sie als ein Resultat menschlichen Handelns zu verstehen sei, ist sie auch gewissermaßen kontingent.
Diese im Rahmen der soziologischen Disziplin etablierten, konträr entgegengesetzten Auffassungen verzweigten sich im 20. Jahrhundert in zunehmenderem Maße selbst, sodaß ein Konsens hinsichtlich des Wesens der Soziologie oder gar des sozialen Körpers in immer weitere Ferne zu rücken scheint, zumal die allumfassenden Gesellschaftstheorien der »klassischen« Periode einiges von ihrer Anziehungskraft eingebüßt haben. Ähnliches läßt sich von den Entwicklungen im Bereich der Psychologie behaupten, und es sei hier lediglich auf die paradigmatische Diskrepanz zwischen den Anhängern der Freudschen Tiefenpsychologie und denen des positivistisch ausgerichteten behavioristischen Ansatzes hingewiesen. Obwohl sich jedoch die innerdisziplinären Divergenzen nicht überbrücken ließen, entstand eine Art stillschweigende Übereinstimmung, was die Aufteilung des Forschungsfeldes unter den Disziplinen anbetrifft: Die Psychologie – so das Klischee – untersucht das Individuum und die Soziologie das gesellschaftliche Kollektiv. Dem ungelösten theoretischen Problem der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft wurde somit eine quasi institutionelle Lösung zugetragen, indem sich eine künstliche Teilung zwischen den verschiedenen Bereichen offizell etablierte.
Es stellte sich indessen heraus, daß eine solche »Lösung« dem Bedürfnis nach konzeptueller Synthese nicht nachkommen konnte. In den letzten Jahrzehneten begannen sich denn auch interdisziplinäre Fachbereiche heranzubilden; so z.B. die Sozialpsychologie, welche sich ihrerseits sowohl an den mikrosoziologischen Studien eines Georg Simmel oder George H. Mead als auch auf den Grundannahmen und Erkenntnissen der rein psychologisch ausgerichteten Forschung orientiert. Indem er sich auf die enge Verknüpfung der individuellen psychischen Welt (samt der ihr entspringenden Verhaltensmuster) mit der objektiven sozialen Realität (samt den in ihr auszumachenden strukturellen Prozesse) konzentriert, überbrückt dieser Forschungsansatz zwar die künstliche Teilung zwischen den pseudoautonomen Entitäten »Individuum« und »Gesellschaft«, er beschränkt sich jedoch gemeinhin auf die Sphäre sichtbarer Erscheinungen und auf rein kognitive Aspekte. Er kettet sich also an eine positivistische Sicht des Problems »Mensch und Gesellschaft« und vermeidet es, sich mit den »irrationalen«, d.h. unbewußten, Dimensionen sozialen Verhaltens und dessen psychisch-individuellen Quellen auseinanderzusetzen.
Es ist nun dieser Aspekt, auf den sich die »Kritische Theorie« der Frankfurter Schule23 (und besonders jener sich mit dem »autoritären Charakter«24 beschäftigenden Teil in ihr) bezieht. In der Einleitung zur deutschen Ausgabe der »Authoritarian Personality« vermerkt Adorno in diesem Zusammenhang die Anlehnung der in diesem Buch präsentierten Untersuchungen an der Hypothese, daß »die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Überzeugungen eines Individuums häufig ein umfassendes und kohärentes, gleichsam durch eine ›Mentalität‹ oder einen ›Geist‹ zusammengehaltenes Denkmuster bilden, und daß dieses Denkmuster Ausdruck verborgener Züge der individuellen Charakterstruktur ist.«25 Zwar ist Adornos Hauptaugenmerk auf das von ihm sobenannte »potentiell faschistische Individuum« gerichtet, wir meinen jedoch, daß die der forschungsmäßigen Auseinandersetzung mit dem Phänomen unterlegten theoretischen Erwägungen ihre Gültigkeit auch auf einer umfassenderen Ebene bewahren. So läßt es sich grundsätzlich behaupten, daß jede Untersuchung, die dem »Problem politischer Typen« nachgeht, einer Unterscheidung zwischen der Konzeption der »Ideologie« und der »der ihr zugrundeliegenden menschlichen Bedürfnisse« bedarf.26 Akzeptiert man die Definition der Ideologie als ein »System von Meinungen, Attitüden und Wertvorstellungen«, als »eine Denkweise über Mensch und Gesellschaft«, so ist es ein leichtes, Adornos Verknüpfung beider Konzeptionen beizupflichten:
»Wir können von der Gesamtideologie eines Individuums sprechen oder von seiner Ideologie in verschiedenen Bereichen des sozialen Lebens: Politik, Wirtschaft, Religion, Minderheiten und anderes. Ideologien bestehen, unabhängig vom Einzelnen, und die Ideologien bestimmter Epochen sind ebenso Resultat historischer Prozesse wie des sozialen Geschehens. Je nach dem individuellen Bedürfnis und dem Ausmaß, in dem dieses befriedigt wird oder unbefriedigt bleibt, haben sie für die einzelnen Individuen verschieden starke Anziehungskraft.«27
Die Meinungen, Attitüden und Wertvorstellungen, welche Bestandteile des ideologischen Systems des Einzelnen sind, artikulieren sich zwar mehr oder weniger offen, psychologisch gesehen bleiben sie indes »an der Oberfläche«. Die Reaktion des Individuums auf emotional geladene Fragen hängt von dessen spezifischer Situation ab; in bestimmten Fällen können sich daher »Diskrepanzen« ergeben »zwischen dem, was er sagt und dem, was er ›wirklich denkt‹«. Adorno betont, daß besondere Wichtigkeit der Erfassung jener »verborgenen Tendenzen« zukomme, welche das Individuum nicht nur vor seiner Umgebung, sondern auch vor sich selbst verbirgt, weil angenommen werden könne, daß genau hier »das Potential für demokratische oder antidemokratische Ideen und Handlungen in entscheidenden Situationen liegen.«28 In diesem Zusammenhang stellt sich denn auch die Frage hinsichtlich einer Unterscheidung zwischen der verbalen und der praktischen Dimension der Ideologie. Zwar ist es klar, daß sie beide von der jeweiligen spezifischen sozio-ökonomischen und politischen Situation des Einzelnen abhängen; dies reicht jedoch nicht zur Erklärung hin, da sich offenbar die einzelnen Individuen wesentlich in ihrer Bereitschaft zur Tathandlung unterscheiden. Das Problem der »Potentialität« muß also näher beleuchtet werden.
Es wird von der Annahme ausgegangen, daß »ideologische Aufnahmebereitschaft, Verbalideologie und Ideologie in Aktion«, trotz der zwischen ihnen möglichen Unterschieden, Elemente einer einzigen gesamten Struktur seien – und zwar hauptsächlich deshalb, weil diese Elemente, vom psychologischen Standpunkt aus gesehen, logisch miteinander verbunden sind. Jeder Versuch, einer solchen Struktur beizukommen, ist daher unweigerlich gekettet an die Analyse des von Adorno sobenannten »Gesamtcharakters«, welchen er als »eine mehr oder weniger beständige Organisation von Kräften im Individuum, die in den verschiedenen Situationen dessen Reaktionen und damit weitgehend das konsistente Verhalten – ob verbal oder physisch – bestimmen« definiert; er fügt hinzu:
»So konsistent das Verhalten jedoch sein mag, es ist nicht gleich Charakterstruktur; der Charakter liegt hinter dem Verhalten und im Individuum. Die Kräfte im Charakter sind nicht Reaktionen, sondern Reaktionspotential […]. Gehemmte Charakterkräfte gehören tieferen Schichten an als jene, die sich unmittelbar und konsistent im Verhalten manifestieren.«29
Adorno bemerkt, daß sich diese Theorie zur Charakterstruktur »eng an Freud«30 anlehne; die Charakterkräfte hat man daher als »Bedürfnisse«, d.h. also als »Triebe, Wünsche [und] emotionale Impulse« zu begreifen. In diesem Sinne läßt sich der Charakter in seiner Funktion als »Organisation von Bedürfnissen«, welche auf die Meinungen, Attitüden und Wertvorstellungen des Einzelnen einwirken, als »Determinante ideologischer Präferenzen« betrachten, jedoch nicht als »endgültige Determinante«.31 Adorno hebt ausdrücklich hervor, daß der Charakter nie von vornherein gegeben sei, sondern sich unter dem Druck der Umweltbedingungen heranbilde, und dies um so gründlicher, »je früher sie in der Entwicklungsgeschichte des Individuums eine Rolle spielten«; da also die Genese des Charakters in entscheidendem Maß vom Erziehungsprozeß und der häuslichen Umgebung des Kindes geprägt wird, muß man wirtschaftlichen und sozialen Faktoren eine tiefe Einflußnahme auf diese Entwicklung beimessen32; denn:
»Nicht nur folgt jede Familie hier den Gewohnheiten der eigenen sozialen, ethnischen und religiösen Gruppe, auch ökonomische Faktoren beeinflussen das Verhalten der Eltern gegenüber dem Kind. Umfassende Veränderungen in sozialen Bedingungen und Einrichtungenwirken sich daher unmittelbar auf die innerhalb einer Gesellschaft entstehenden Arten von Charakterstrukturen aus.«33