Kitabı oku: «Ich finde Gott in den Dingen, die mich wütend machen», sayfa 2
Kapitel 2
Gottes Tante
Eine Frau lerne in der Stille mit aller Unterordnung. Einer Frau gestatte ich nicht, dass sie lehre, auch nicht, dass sie über den Mann Herr sei, sondern sie sei still.
– 1. Timotheus 2,11 - 12 (Luther)
Fünfundzwanzig Jahre, bevor ich in einem Comedyklub eine Trauerfeier halten sollte, wurde ich getauft. Es war ein Sonntag im Frühjahr 1981, und ich hatte weiße Sandalen an. Der Prediger in seinem jeansblauen Polyesteranzug hatte seine Predigt mit einem Bekehrungsaufruf nach vorn beendet. Wenn du bereit bist, dein Leben dem Herrn zu übergeben, oder wenn du dich taufen lassen möchtest, dann komm jetzt nach vorn, während wir alle aufstehen und singen.
Die Leute standen auf und sangen, und ich ging durch den Mittelgang auf den Pastor zu. Ein anderer Mann überreichte mir eine Karte und einen kurzen Bleistift, als ich mich auf die gepolsterte Kirchenbank setzte. Nachdem ich angekreuzt hatte, dass ich mich taufen lassen wollte, trat wieder ein anderer Mann an die Kanzel, um es der Gemeinde bekannt zu geben.
Dann sagte ich ihnen, von welchem der Männer ich getauft werden wollte.
In der Gemeinde, in der ich meine Kindheit verbrachte, wurde gelehrt, ins „rechenschaftspflichtige Alter“ komme man mit etwa zwölf Jahren. Ins rechenschaftspflichtige Alter zu kommen hieß, dass man geistlich gesehen nicht mehr bei den Eltern mitversichert war. Mit zwölf fängt in geistlicher Hinsicht die Uhr an zu ticken. Man kann jetzt richtig und falsch unterscheiden, und deshalb muss man auch für jeden Mist, den man baut, Rechenschaft ablegen. Wenn man sündigt, obwohl man richtig und falsch unterscheiden kann, und dann stirbt, bevor man sich für die Taufe entscheidet, landet man für alle Ewigkeit im Höllenfeuer. In dieser Zeit fangen also Kinder an, sich für die Taufe zu entscheiden. Die Zeitspanne zwischen dem Eintritt ins rechenschaftspflichtige Alter und dem Tag, an dem man durch die Taufe reinen Tisch macht, ist manchmal voller Schrecken. Viele von uns beteten, bloß nicht bei einem Autounfall ums Leben zu kommen, bevor wir getauft waren, so wie andere Leute beten, dass sie nicht krank werden, bevor sie über den Arbeitgeber krankenversichert sind. Zwölfjährige Kinder in der Church of Christ erleben eine Welle der Frömmigkeit, eine Große Erweckung, die nur aus Sechstklässlern besteht.
Da zwölf das rechenschaftspflichtige Alter war, galt zugleich auch, dass Jungen ab zwölf Jahren in der Sonntagsschule nicht mehr von Frauen gelehrt werden durften. Gemäß 1. Timotheus 2,12 war es Frauen nicht gestattet, Männer zu lehren. Folglich besaß ein zwölfjähriger Junge mehr Autorität als eine erwachsene Frau. Frauen durften nicht als Älteste dienen, predigen oder Gottesdienste leiten. Aus irgendeinem Grund besaßen wir nicht die Vollmacht, einem Mann den Kollektenteller zu reichen. Die Vollmacht hingegen, demselben Mann eine Stunde später beim Gemeindepicknick einen Teller mit Brathühnchen und Kartoffelsalat zu reichen, besaßen wir durchaus.
Dale Douglass war der erste männliche Sonntagsschullehrer, den ich hatte. Er war freundlich und witzig und scheitelte seinen dicken, sandblonden Haarschopf so tief über dem Ohr, dass es völlig unnötigerweise so aussah, als versuchte er, eine Glatze zu verbergen. Dale fing da an, wo die Frau, die uns im Jahr davor unterrichtet hatte (als sie noch die Vollmacht dazu besaß), aufgehört hatte: Er testete uns, um zu sehen, wie viele Fakten über die Bibel wir wussten. Ich wusste viele der Antworten, und es dauerte nur drei Wochen, bis er meine Eltern zu einem Gespräch einbestellte, um ihnen zu erklären, sie müssten meinetwegen etwas unternehmen. Ich beantwortete die Fragen zu schnell und nahm dadurch den Jungen in der Klasse die Chance, eine Antwort zu geben. Eins muss ich meinen Eltern lassen – insgeheim fanden sie das großartig. Immerhin legten sie mir nahe, den anderen auch ein wenig Raum zu lassen, aber im Grunde waren sie einfach nur begeistert, dass ich mich in der Bibel gut auskannte, und es wäre ihnen nie eingefallen, deswegen mit mir zu schimpfen.
Die Frühreife wich dem Sarkasmus, als ich die Fähigkeit entwickelte, die Lehren und die soziale Dynamik in der Gemeinde zu analysieren. Sobald ich merkte, dass es einen Unterschied gab zwischen dem, was die Leute sagten (jeder Sex außerhalb der heterosexuellen Ehe ist verboten), und dem, was sie taten (heimliche Affären untereinander), und ebenso einen Unterschiedzwischen dem, was sie lehrten (Frauen waren minderwertig und den Männern untergeordnet) und der Wirklichkeit, die ich in der Welt erlebte (wieso bin ich dann schlauer als mein Sonntagsschullehrer?), wusste ich, dass ich da rausmusste. Ich war ein starkes, cleveres und vorlautes Mädchen, und die Gemeinde, in der ich aufwuchs, konnte mit jemandem wie mir nichts anfangen, auch wenn die Leute mich liebten.
Als ich schließlich die Gemeinde verließ, stellte ich alles infrage, was ich je gelernt und gewusst hatte, und ging davon aus, dass ich mit Sicherheit eine „Nichtchristin“ sei. Allerdings schaffte ich es dennoch nicht, Atheistin zu werden, wie man es hätte erwarten können. Ich hatte nie aufgehört, an Gott zu glauben. Nicht wirklich. Immerhin aber musste ich für eine Weile bei seiner Tante abhängen. Man nennt sie die Göttin.
Meine erste Begegnung mit dem Wiccakult hatte ich in den Bergen westlich von Denver auf einem braunen, grasbewachsenen Hügel, an dessen Fuß eine Jurte stand – ein rundes Nomadenzelt, in dessen Innern alle Lampen mit roten Tüchern verhängt waren, wodurch es darin aussah wie in einem Campingplatzbordell.
Ich war etwa zwanzig Jahre alt, als meine Freundin Renna (die vom Kopf bis zu den Zehenspitzen hetero ist) mich fragte, ob ich mit ihr zu einer lesbischen Hochzeit gehen wollte. „Ich kann mir nichts Besseres vorstellen“, antwortete ich, und so fuhren wir los und hörten unterwegs fünfundvierzig Minuten lang die Indigo Girls, um in die richtige Frauenpowerstimmung zu kommen. Auf dem Schoß hatte ich eine riesige Schüssel Erdbeeren. Offenbar gibt es bei lesbischen Hochzeiten oft ein Mitbringbüfett.
„Es ist eine Wicca-Hochzeit“, informierte mich Renna. Ich wusste nicht genau, was das bedeutete, aber es hörte sich „nichtchristlich“ an, genau wie ich, und ich vermutete, dass meine Eltern nicht viel davon halten würden. Außerdem würde es wahrscheinlich Hummus geben. Also war es mir recht.
Die Zeremonie gefiel mir sehr, und ich hatte noch nie so viele starke Frauen gesehen. Frauen mit gestrafften Schultern und kurz geschorenen Haaren, die nichts zu verbergen hatten. Wir standen im Kreis und sangen einfache Litaneien, und die beiden Bräute waren überglücklich wie andere Bräute auch, nur dass diese beiden im Stil eines Renaissancejahrmarktes gekleidet waren und sich gegenseitig heirateten. Es war die Rede von vollkommener Liebe und vollkommenem Vertrauen, und wir fütterten uns gegenseitig mit Brot und Wein und sagten: „Mögest du niemals hungern und niemals dürsten.“ Es fühlte sich an wie eine Kommunionsfeier.
Irgendwie gab es mir ein sicheres Gefühl, unter lauter Frauen zu sein. Sie ließen mich bei Gottes Tante abhängen, und ich wurde den Eindruck nicht los, dass sie mich mochte. Ich verbrachte ein paar Jahre mit diesen Frauen. Wir feierten den Wechsel der Jahreszeiten und teilten unser Leben miteinander, und immer gab es Mitbringbüfetts. Wir redeten über Beziehungen und Schwangerschaften, die keinen Bestand hatten, über Chefs und Mitbewohnerinnen, die uns nicht zu schätzen wussten, und darüber, wie viel Knoblauch an ein veganes Salatdressing gehört. Einmal brachte jede von uns zum Mitbringbüfett einen Nachtisch mit, und niemand sah ein Problem darin.
Eine Lehre gab es nicht. Wir redeten nie über Glaubensüberzeugungen, sondern lebten einfach nur zusammen und sprachen von der göttlichen Weiblichkeit in uns und in der Welt. Die Göttin, von der wir redeten, fühlte sich für mich nie wie ein Ersatz für Gott an, sondern einfach wie ein anderer Aspekt des Göttlichen. Gottes Tante eben.
Ich glaube, wenn ich anderen Christen von meiner Zeit mit der Göttin erzähle, erwarten sie von mir, dass ich sie als eine Lebensphase schildere, in der ich einen Irrweg ging, von dem ich nun zum Glück zu Jesus und zu meinem Verstand zurückgefunden habe. Aber so ist es nicht. Ich kann mir nicht denken, dass der Gott des Universums auf unsere Gottesvorstellungen beschränkt ist. Ich kann mir nicht denken, dass Gott sich nicht selbst auf unzählige Weisen jenseits des Symbolsystems des Christentums offenbart. Ich brauche gewissermaßen einen Gott, der größer und geschmeidiger und geheimnisvoller ist als das, was ich je begreifen oder mir ausdenken könnte. Sonst würde es sich so anfühlen, als ob meine Anbetung sich nur auf mein eigenes Begriffsvermögen des Göttlichen richtete.
Tatsächlich fühlte ich mich während der ganzen Zeit, in der ich fernab der Gemeinde unterwegs war, von Gott geführt. Die göttliche Quelle meines Lebens und meiner Identität wusste vielleicht, dass ich das Bedürfnis hatte, mich eine ganze Weile lang in einem weiblichen Gesicht Gottes zu sonnen, während ich der Gemeinde fern war, bevor ich heil zu ihr zurückkehren und fähig werden konnte, das göttliche Weibliche in meiner eigenen Tradition zu erkennen. Wenn die feministische Gelehrte Mary Daly recht hatte, als sie sagte: „Wenn Gott männlich ist, dann ist das Männliche Gott“, dann musste in mir einiges zurechtgerückt werden, nachdem ich meine ganze Kindheit lang immer wieder zu hören bekommen hatte, Gott sei männlich und ich nicht (aber Jimmy aus der sechsten Klasse da drüben schon!).
Jahre später, als ich Mitte dreißig und PJ schon gestorben war, wurde mir klar, was ich eigentlich mehr als alles andere wollte: eine Pastorin für meine Leute sein – vorzugsweise junge, clevere Städter, die ihre Identität nicht bloß aus den Kategorien des Spätkapitalismus zusammenbasteln wollten. Inzwischen war ich meinen Zorn auf den Fundamentalismus meiner Kindheit durch die richtige Mischung aus Zeit, Nüchternheit und Therapie losgeworden. Aber ein kleines Problem stand meiner Zukunft als Pastorin im Weg: Ich bin eine miserable Kandidatin. Ich fluche wie ein Bierkutscher, bin mit Tätowierungen bedeckt und habe einen Hang zur Selbstsucht. Eine lutherische Pastorin würde niemand in mir vermuten.
Darum hatte ich Angst. Was mir Angst machte, war die Tatsache, dass ich mich, um eine Pastorin zu werden, wie sie mir vorschwebte, erst einmal mit ein paar meiner persönlichen Eigenschaften auseinandersetzen musste, die ich bisher am liebsten ignoriert hatte. Der Gedanke, eine geistliche Leiterin zu sein, fiel mir schwer. Ebenso das Wissen, dass ich eigentlich emotional bedürftige Menschen nicht besonders mag und mich, wenn irgend möglich, aus dem Staub mache, wenn ich sie kommen sehe. Ich hatte Schwierigkeiten mit der Vorstellung, ständig für Leute verfügbar zu sein, obwohl ich eigentlich ein bisschen misanthropisch bin. Viele Dinge machten mir Mühe, doch was mir trotz meiner Erziehung überhaupt nicht schwerfiel, war mein Geschlecht. Meine Berufung zur Pastorin schockierte mich zwar immer noch, aber sie war immer unzweideutiger geworden und mir sogar richtig ans Herz gewachsen. Deshalb wollte ich auch meinen Eltern nichts davon sagen.
Vielleicht zum ersten Mal in meinen Leben sah ich so etwas wie ein Ziel und einen Sinn vor mir, und das wollte ich mir von ihnen auf keinen Fall kaputt machen lassen. Aber irgendwann mussten sie es ja erfahren. Also saß ich an einem Samstag im November 2005 auf dem überreich gepolsterten Brokatsofa im Wohnzimmer meiner Eltern, und während sie auf das brandneue Tattoo von Maria Magdalena starrten, das jetzt meinen Unterarm bedeckte, setzte ich zu meinem nicht sehr eleganten Geständnis an.
„Ich … äh … bin sehr gern am theologischen Seminar, und ich muss euch sagen, dass ich meinen Studiengang vom akademischen zum pastoralen Abschluss geändert habe. Also, äh … wisst ihr … ich glaube, es könnte vielleicht sein, dass Gott mich beruft, eine Gemeinde zu gründen, und ich habe so das Gefühl, ich soll Pastorin für meine Leute werden, aber ich habe Angst, und, na ja … ich habe eben Angst, … aber … “ Ich hatte keine Ahnung, ob mein Gefasel irgendeinen Sinn ergab, aber wenigstens war es jetzt heraus. Meine größte Sorge war, sie könnten den Gedanken rundheraus ablehnen und mir eine Standpauke halten, weil ich nicht respektierte, dass die Schrift den Frauen das Lehren verbietet. Ich wusste nicht genau, was ich schlimmer fand – die Möglichkeit, sie könnten mich dazu bringen, mich zu schämen, oder die Tatsache, dass sie dazu überhaupt noch in der Lage waren.
In diesem Moment stand mein Vater schweigend auf, ging zum Bücherregal und nahm seine abgegriffene, in Leder gebundene Bibel heraus. Jetzt kommt’s, dachte ich, jetzt haut er mich mit dem Bibelknüppel.
Er schlug sie auf und las. An der aufgeschlagenen Seite sah ich, dass es keiner der Paulusbriefe am Ende des Buches war, sondern eine Stelle irgendwo in der Mitte. Mein Vater las nicht den Abschnitt aus 1. Timotheus, wo es heißt, dass Frauen in der Gemeinde schweigen sollen. Er las aus dem Buch Esther.
Die einzigen Worte, die ich von meinem Vater zu hören bekam, waren diese: „Aber du wurdest für einen Tag wie diesen geboren.“ Er schlug das Buch zu, und meine Mutter und er nahmen mich gemeinsam in die Arme. Sie beteten über mir und segneten mich. Und manchmal begleitet einen ein Segen, so wie der, den meine konservativen christlichen Eltern ihrer Tochter spendeten, der angehenden lutherischen Pastorin, die ihnen das Leben höllisch schwer gemacht hatte, fürs ganze Leben. Das ist die Sorte Segen, von der man nicht einmal sprechen kann, ohne dass einem wieder die Tränen kommen.
Kapitel 3
Albion Babylon
Circa 1988
„Jemand sollte mal diese Lampe in Ordnung bringen“, sagte meine ältere Schwester Barbara. Die langen Leuchtstoffröhren in dem düsteren Kellerflur, der zu dem ebenerdigen Drei-Zimmer-Apartment führte, in dem ich jetzt mit sieben Mitbewohnern lebte, flackerte an und aus wie ein Strobespot und ließ unseren Weg zur dritten Wohnungstür rechts trügerisch kurz erscheinen.
Meine Schwester und ich hatten uns die meiste Zeit meines Lebens sehr nahe gestanden. Sie gab sich auch noch mit mir ab, nachdem ich in diese schmuddelige Wohnung gezogen war. Vor Kurzem hatte ich, schon nach dem ersten Semester, das College geschmissen und besaß nur wenige Habseligkeiten, während Barb gerade ihren Doktor in Englisch an der Universität von Indiana machte und Dinge wie eine Waschmaschine und einen Trockner ihr eigen nannte. Mit meinen neunzehn Jahren besaß ich im Winter 1988 eine einzige Apfelkiste mit lebenswichtigen Dingen: ein zerfleddertes Exemplar der Vegetarischen Landküche, meine Springerstiefel, einen alten Schaufensterpuppenkopf und mehrere unverzichtbare Tonkassetten: Ziggy Stardust, Violent Femmes, Road to Ruin.
Die Ramones. Ich war zwölf, als ich im Big Apple Tapes & Records, gegenüber vom Zuckermaisstand in der Mall of the Bluffs in Colorado Springs, das Album Road to Ruin erstand. Bis zu jenem Tag hatte es in unserem christlichen Mittelschichthaushalt nur Jim Croce, John Denver und das Kingston Trio gegeben. Doch nun mussten diese Burschen mit ihren manikürten Schnurrbärten und milden Manieren Platz machen für vier Jungs aus Queens, weil ich mein ganzes Taschengeld für Road to Ruin von den Ramones ausgegeben hatte. Wochenlang saß ich jeden Nachmittag in meinem Kinderzimmer und nudelte diese Kassette auf meinem orange-weißen Fisher-Price-Plastikkassettenrekorder ab, während ich das Cover anstierte. Im Stillen hoffte ich, vielleicht würden ja Joey und Dee Dee Ramone wie durch Zauberei in ihren zerrissenen Levis und Lederjacken bei mir zu Hause auftauchen und mich mitnehmen. Die zornige Punkmusik kam mir vor, als wäre sie eigens für mich gemacht.
Als meine Liebesaffäre mit den Ramones begann, ahnten meine Eltern nichts davon, dass ich mir Punkrockalben kaufte. Ebenso wenig wussten sie, dass ich in der Schule Essen klaute. Die Lehrer in meiner Junior High School ließen Snacks auf ihren Pulten liegen, und ich hatte solchen Hunger, dass ich mir ihre Müsliriegel oder Chipstüten schnappte, nicht etwa, weil es zu Hause nicht genug zu essen gegeben hätte, das schon, aber ich konnte einfach nicht genug kriegen, egal, was ich mir alles in meine Brotdose oder in den Mund stopfte.
Ich war elf, als ich allmählich anfing, immer weniger zu wiegen und immer mehr zu essen. Und meine Eltern, Dick und Peggy, mit ihrer liebevollen Art und ihrem unerschütterlichen Optimismus, dachten sich, das sei bestimmt nur ein Wachstumsschub, und munterten mich auf, stolz auf meine Größe zu sein und mich gerade aufzurichten. Als im Jahr darauf meine Handschrift so schlecht wurde, dass meine Noten ins Trudeln gerieten, kaufte mir meine Mutter ein wunderschönes Kalligrafieset in der Hoffnung, mich dadurch zu etwas mehr Ehrgeiz bei meinem Federschwung anzuspornen. Und als ich blass und antriebslos wurde, war meine Mutter der Meinung, ich müsse eben mehr hinaus an die frische Luft von Colorado und ging mit mir zum Skilanglauf. Das war der Tag, als sie merkte, dass irgendetwas mit mir nicht stimmte, und zwar nichts, was sich mit Disziplin und Optimismus wieder in Ordnung bringen ließ. Auf dem Weg in die Berge schlief ich auf dem Rücksitz unseres Chevy Citation, und die Bewegungen des knüppelgeschalteten Wagens drehten mir den Magen um. Später, als wir uns endlich ausstaffiert hatten und auf die Loipe gingen, kam mir mein Wollpullover so schwer vor wie eine von diesen bleiernen Röntgenschürzen, und meine Beine wollten sich einfach nicht bewegen. Schließlich quengelte ich so lange, bis wir uns auf den Heimweg machten. Außerdem hatte ich den ganzen Proviant bereits vertilgt. Als wir nach Hause kamen, vereinbarte meine Mutter einen Termin beim Arzt.
Wie sich herausstellte, hatte ich Morbus Basedow. Das ist eine Autoimmunerkrankung der Schilddrüse, die im Körper allerlei lustigen Unfug anstellt: beschleunigter Herzschlag, Handzittern, Blässe der Haut, gesteigerter Stoffwechsel, Antriebslosigkeit, Manie, Depression und Hitzeempfindlichkeit. Sie wirkt wie Methamphetamin, nur ohne das gute Gefühl dabei. Ach ja, und sie ist kostenlos.
Durch die Krankheit hatte sich hinter meinen Augen Fettgewebe angesammelt, sodass sie aus ihren Höhlen nach vorn gedrückt wurden. Meine Augäpfel wölbten sich so weit aus meinem Schädel heraus, dass ich meine Lider nicht mehr schließen konnte. Das Weiße war überall rund um die Iris zu sehen, so als hätte ich gerade einen Stromschlag abbekommen oder etwas Grauenhaftes gesehen … nur dass ich immer so aussah.
Immer.
Von zwölf bis sechzehn Jahren. Jeden Tag meines Lebens.
Meine Mutter fuhr jeden Monat mit mir nach Denver zu irgendwelchen Augenärzten, die darüber wachten, dass meine Hornhäute keinen Schaden nahmen (ich schlief jetzt immer mit einer Augensalbe, damit mir die Augen nicht austrockneten), aber zugleich auch meine Gesichtsknochen vermaßen. Die Sache mit den Glupschaugen ließ sich operativ korrigieren. Aber erst, wenn meine Gesichtsknochen aufgehört hatten zu wachsen. Und wie ich herausfand, kann man seine Gesichtsknochen nicht durch Disziplin oder Optimismus vom Wachsen abhalten.
Die meisten Jugendlichen in der Junior High School fanden, sie sähen aus wie Insekten. Bei mir stimmte das wirklich. Im Schulbus verbrachte ich an den meisten Tagen die zwanzig Minuten Fahrzeit damit, meine Handflächen auf die Augen zu pressen, weil ich dachte, wenn ich mich nur entschlossen und beharrlich genug anstrengte, könnte ich meine Augen wieder zurück in den Schädel zwängen. Aber das funktioniert einfach nicht. Jugendliche können ihre geschiedenen Eltern nicht wieder zusammenwünschen. Sie können auch nicht durch Superleistungen in der Schule ihre manisch-depressive Mutter davon abhalten, verrückt zu sein. Und sie können ihre Froschaugen nicht zurück in den Schädel zwingen, indem sie auf der Busfahrt in die Schule zwanzig Minuten lang draufdrücken. Aber das alles hat noch keine Jugendlichen davon abgehalten, es zu versuchen.
Ich weiß nicht genau, ob der Tyrann auf der letzten Sitzreihe zur Serienausstattung aller Schulbusse in Amerika gehört, zusammen mit dem Feuerlöscher und dem großen Türhebel beim Fahrersitz, aber es kam mir jedenfalls so vor. Meine serienmäßige Tyrannin war gar nichts Besonderes: ein Mädchen namens Becky, größer als die meisten anderen, mit zerzausten Haaren, das immer Def-Leppard-T-Shirts anhatte.
Sie bemerkte meine Handflächen über den Augen, und als sie die anderen darauf hinwies, log ich. „Was machst du denn da?“, fragte Becky höhnisch. „Willst du dir etwa die Froschaugen wieder reindrücken?“
„Ich meditiere“, sagte ich. „Buddhistisch.“ Und dann setzte ich mich mit meinen dünnen Beinen im Schneidersitz auf die Bank im Bus.
Am nächsten Tag setzte ich einfach eine Sonnenbrille auf.
Irgendwann fing ich dann an, die Augen zuzukneifen und niemanden direkt anzuschauen, wenn ich durch die niedrigen Flure der Horace Mann Junior High School ging, so wie die Frühentwicklerinnen unter den Mädchen sich ihre Mappen vor die Brust hielten. Doch wenn ich auch die Augen abwandte – das Kinn ließ ich niemals sinken. Nicht ein einziges Mal.
Jeder hat seine eigene Horrorgeschichte aus der Schulzeit. Es ist eine Feuerprobe, und was für ein Mensch schließlich aus uns wird, lässt sich meist in die siebte Klasse zurückverfolgen. Dabei reagiert jeder anders auf seine Schulerlebnisse. Was sich in mir zusammenbraute in jenen niedrigen Fluren, war mehr als nur ein „Zornproblem“, wie es später genannt wurde. Das tägliche Sperrfeuer bösartiger Bemerkungen, das mir Becky und andere entgegenspien, machte mich zwar zornig, aber irgendwie war der Zorn auch ein Schutz. Dieser Schutz bestand aus Zynismus und einem geschärften Gespür dafür, wenn Leute Bullshit erzählen. Nach einer Weile konnte ich das riechen wie ein Drogenspürhund auf einem kolumbianischen Flughafen.
Meiner Kirchengemeinde muss ich bei all ihren Fehlern eines lassen: Sie war der einzige Ort außerhalb meines Elternhauses, wo die Leute mich nicht angafften oder sich über mich lustig machten. In der Gemeinde wurde ich mit meinem Namen begrüßt anstatt mit irgendwelchen Spottbezeichnungen. In der Gemeinde konnte ich zur Jugendgruppe gehören. In der Gemeinde starrte mich niemand an. Deshalb war es auch so schlimm für mich, dass es letzten Endes andere Gründe gab, warum ich dort nicht hinpasste.
Dass ich zur Church of Christ gehörte – und somit Christ war –, bedeutete vor allem, dass ich sehr gut darin war, gewisse Dinge nicht zu tun. Nicht zu trinken natürlich, nicht bissig oder sarkastisch zu sein, keinen Sex außerhalb der Ehe zu haben, nicht zu rauchen, nicht zu tanzen, nicht zu fluchen, mich nicht in Leute außerhalb der Gemeinde zu verlieben und natürlich, was vielleicht das Wichtigste überhaupt war, nicht mit einer gemischten Gruppe baden zu gehen. Je besser man es hinkriegte, diese Dinge nicht zu tun, desto besser war man als Christ. Schon damals kam es mir nicht so vor, dass es die Gnade Gottes oder die radikale Liebe Jesu war, die die Leute in der Church of Christ vereinte; es war ihre Fähigkeit, gut zu sein. Oder zumindest ihre Fähigkeit, gut zu scheinen. Und das kriegt nicht jeder hin.
Während ich also trotz meiner Froschaugen in der Gemeinde akzeptiert wurde, waren die Wut und der Zynismus, die sich in mir infolge dieser Froschaugen angestaut hatten, ganz und gar „nicht christlich“. Meine neu entdeckte Vorliebe für das Wort „Bullshit“ zum Beispiel war nicht christlich. Der Punkrock bewies mir, dass es da draußen noch andere Leute gab, die auch schreien und einen draufmachen wollten, und das veränderte mein Leben. Aber auch Punkrock, Schreien und einen draufmachen waren – nicht christlich. Und damit war ich nicht christlich.
Ich setzte meinen unchristlichen Weg fort, indem ich sechs Monate vor meiner Augenoperation anfing zu trinken. Wenn wir dann vier Jahre vorspulen, war ich eine nun nicht mehr froschäugige Neunzehnjährige mit lila Haaren, einem Alkoholproblem, einem Einstellungsproblem und einem Kein-Tagohne-Joint-Problem.
Die meisten Gleichaltrigen waren inzwischen auf dem College. Ich hatte das auch versucht, war aber schon nach vier Monaten gescheitert. Mit meiner Fähigkeit, zu trinken „wie ein Mann“, hatte ich zwar bei den Verbindungsstudenten mächtig Eindruck gemacht, aber ich hatte es nicht geschafft, mich auch mal im Hörsaal blicken zu lassen. Erst später dämmerte mir, dass es zwischen diesen beiden Dingen vielleicht einen Zusammenhang gab.
Nach meinem eher mittelmäßigen Schulabschluss hatte ich mich, sozusagen, in die Pepperdine-Universität hineingeschmeichelt. Genau genommen war das eine Hochschule der Church of Christ, aber da sie sich in Kalifornien befand und nicht in einem richtigen christlichen Staat wie Texas oder Tennessee, war sie den Traditionalisten suspekt. Bedenkt man, wie die Gemeinde über „gemischtes Baden“ dachte – Jungen und Mädchen gleichzeitig im selben Schwimmbad –, muss ihnen eine Hochschule der Church of Christ im Strandparadies Malibu ähnlich widersinnig vorgekommen sein wie ein amisches Internat auf dem Strip in Las Vegas.
Nach meinem kurzen Ausflug aufs College ging ich zurück nach Denver. Nachdem ich dort ein paar Monate lang in einem schicken mexikanischen Restaurant mit vernachlässigbarem Essen Teller gewaschen hatte, traf ich Scotty, einen neunzehnjährigen Kiffer mit langem Kreuz und großem Herzen, der eine Wohnung in der Albion Street hatte und sagte, da könne jeder unterkommen. Keine Woche später half Barb mir beim Einzug.
An dem Abend, als ich einzog, deutete meine Schwester von der offenen Wohnungstür aus auf den versifften Küchentresen, eine riesige grüne Bong, ein Zimmer voller Matratzen auf dem Fußboden und einen Kerl, der auf einem zerfledderten Sofa schlief. „Schätzchen“, flüsterte sie, „ist das dein Ernst?“
Wir haben nun mal nicht alle das Zeug zur Akademikerin, Barb, dachte ich im Stillen.
Die Wohnung wurde rasch zu meinem Heim und die Leute dort meine Ersatzgemeinschaft. Wir teilten unsere Drogen redlich und versuchten, dafür zu sorgen, dass jeder etwas zu essen bekam. Schon vor meiner Ankunft hatte jemand einen blaugelben „Sag-nein-zu-Drogen“-Aufkleber auf die über einen Meter lange Fiberglas-Bong im Wohnzimmer geklebt. Sie stand an einer nikotinvergilbten Wand, an der ein „Reaganstein“-Poster hing (Ronald Reagan mit grünem Gesicht und Bolzen im Kopf, die Arme drohend erhoben). Gekocht wurde nicht viel in der Wohnung, höchstens mal eine Packung Ramennudeln. (Und einmal briet jemand eine Klapperschlange; eine dieser Suffaktionen, um die Mitbewohner bei Laune zu halten und allen Konventionen zu trotzen. Sie vergammelte, bevor jemand – ich war es nicht – auf den schlauen Gedanken kam, sie auf den Müll zu schmeißen.) Wir nannten unsere Schmuddelbude „Albion Babylon“.
An meinem ersten Abend in Albion Babylon packte ich meine Habe aus und merkte bald, dass die Apfelkiste das einzige Möbelstück war, in dem ich meine Sachen verstauen konnte. Also stellte ich sie auf die Seite wie einen kleinen Geschirrschrank und stapelte darin alles so ordentlich auf, wie es eben ging. Dann nahm ich einen schwarzen Markierstift, zeichnete einen Kreis um den Apfel und überlegte, ob ich ein Friedens- oder ein Anarchiesymbol daraus machen sollte. Frieden. Nein … Anarchie. Ich versuchte, beides zu kombinieren, sodass es schließlich aussah wie irgendein Emblem aus Star Trek. Die alte Matratze auf dem Fußboden bedeckte ich mit einem fröhlich gelb geblümten Laken und meiner Bettdecke. Ich war so dankbar dafür, einen Platz zum Schlafen zu haben, der nicht mit lauter Erwartungen an mich befrachtet war wie mein Elternhaus, mein Wohnheim an der Pepperdine oder, Gott behüte, die Church of Christ.
Doch trotz all dem Blödsinn dort und der Versessenheit darauf, gut zu sein, und der Ausgrenzung von Leuten, die nicht auf deren spezielle Weise „gut“ waren, war die Church of Christ, in der ich aufwuchs, doch eine Gemeinschaft. Als Gemeindeglieder teilten wir unser Leben miteinander. Dreimal in der Woche versammelten wir uns in einer großen Schar zum Gottesdienst, um zu singen, zu beten und miteinander Abendmahl zu feiern. Und während der übrigen Woche verbrachten wir unsere Zeit mit Leuten aus der Gemeinde. Insbesondere das Haus meiner Eltern war ein beliebter Treffpunkt. Immer aßen irgendwelche Leute mit an unserem Tisch, schliefen auf unseren Sofas und studierten in unserem Wohnzimmer die Bibel.
Einmal stand ein junges Pärchen bei uns auf der Matte. „Wir sind Freunde von den Slaters aus Detroit und gerade auf Durchreise in Denver. Sie haben gesagt, wir könnten vielleicht hier übernachten.“
„Zieht euch ein Sofa aus“, sagten meine Eltern dann. „Hier habt ihr ein paar Handtücher. Helft ihr mir beim Karottenschälen?“
So ging es bei uns zu Hause zu, und es war irgendwie schön. Doch so wie jedes andere Kind auf unserem Planeten merkte ich erst viel später, wie komisch meine Familie eigentlich war. Im Gegensatz dazu, wie ich über den christlichen Fundamentalismus dachte, von dem ich mich bald trennen würde, habe ich nie aufgehört, diese geistliche Merkwürdigkeit der Gastfreundschaft und Gemeinschaft zu schätzen. Und ohne es zu merken, verbrachte ich die nächsten zehn Jahre mit dem Versuch, mir selbst so eine geistliche Gemeinschaft zu erschaffen. Nur war ich auf der Suche nach einer Gemeinschaft, in die wirklich alles an mir hineinpasste.
Kurz, ich war begeistert davon, dass ich Albion Babylon gefunden hatte. Wir fühlten uns wie eine Gemeinschaft. Wir lachten jede Menge in unserem ebenerdigen Apartment, tranken um die Wette und gingen nicht oft vor die Tür. Scotty, der Typ aus dem mexikanischen Restaurant, hatte schon einen Entzug hinter sich. Einmal zeigte er mir ein Buch, dass er angefertigt hatte: eine Art Sammelalbum in einem braunen Umschlag mit Fotos, Zeichnungen und Texten. Das war so ein Selbsterkenntnisprojekt, das er in der Therapie hatte machen müssen. Jetzt versteckte er sein Gras darin. Ich liebte ihn wegen seiner Gedichte und Bilder, und weil er Gras in seinem Patientenalbum aufbewahrte. Es kam mir vor wie ein schallendes „Leckt mich“ an seine Eltern, die sich „solche Sorgen“ um ihn machten.