Kitabı oku: «Samuel, der Tod», sayfa 2
Kapitel Zwei
Nachdem das Tier seine Mahlzeit beendet hat, schlägt es sich tiefer in die Büsche. Dort hat es seine Anziehsachen versteckt. Es versucht sich zu konzentrieren, aber es will nicht recht gelingen. Sein Magen ist voll und der Geist viel zu überladen mit Eindrücken und Empfindungen, sodass es ihm schwerfällt, sich in seine menschliche Gestalt zurück zu verwandeln.
Nach einigen Anstrengungen gelingt es dem Tier dann doch. Sein gesamter Körper verändert sich. Wird kürzer. Die Schultern wandern an ihre ursprüngliche Stelle, die krallenbewehrten Pranken, mit denen es eben noch Maurices kalten Körper festhielt, verschwinden und formen sich zu ganz normalen Händen. Das riesige Maul, mit den messerscharfen Zähnen, scheint zu schrumpfen und verformt sich zu einem normalen Kopf. Zuletzt verschwindet das braune, zerrupfte Fell und zum Vorschein kommt die helle und reine Haut eines Mädchens.
Rasch schlüpft sie in ihre bereitliegenden Sachen, bindet sich die langen Haare zu einem Pferdeschwanz und geht leise pfeifend durch das Gebüsch in Richtung Straße.
Kurz vor dem Haus der DuMonts tritt sie aus dem Buschwerk und schlendert wie ein ganz normaler Passant auf dem Gehweg entlang.
Das Mädchen sieht so völlig normal und uninteressant aus, dass weder Madame DuMont, noch der Postbote, der gerade heftig mit Madame flirtet, sie beachten.
Du wirst gleich eine schreckliche Nachricht erhalten, denkt das Mädchen gehässig.
Denn ihrem aufmerksamen Gehör, ist nicht der leise Schrei entgangen, der die Auffindung von DuMonts angefressenem Leichnam begleitete. Gleich ist es aus, mit dem Flirten.
Schon sind die hektischen Schritte auf dem Asphalt zu hören, die Madame die grausige Nachricht überbringen werden. Aber bis Florence DuMont aufseufzend in die dargebotenen Arme des Postboten sinken darf, vergehen noch ein paar Minuten und bis dahin wird Alice bereits über alle Berge sein.
Es ist zehn Uhr vormittags, als das Mädchen die Tür zu ihrem Laden aufdrückt. Die nostalgische Klingel über dem Eingang gibt ein heiseres Gebimmel vom sich.
Ein junger Kerl, der gerade in einer großen Kiste mit Büchern wühlt, hebt den Kopf.
»Na endlich, das wurde auch mal Zeit«, begrüßt er sie rüde und erhebt sich.
Lässig geht er auf sie zu, drückt ihr einen Kuss auf die Wange.
»Hey, lass das, Liam«, sagt Alice und drückt ihn an den Schultern zurück. »Ich mag das nicht, wie oft soll ich dir das noch sagen?«
Der junge Mann feixt und meint:
»Noch fünfhunderttausend Mal, Alice. Ich kann es nicht oft genug hören.«
»Du bist ja völlig bescheuert«, murmelt sie und geht zu der Bücherkiste, die der Junge bei ihrem Eintreten so aufmerksam durchwühlte.
»Klar«, erwidert Liam. »Würde ich sonst hier arbeiten? Hier muss man ja auch total durch geknallt sein.«
Alice ignoriert seine Antwort und sieht stattdessen die einzelnen Buchtitel durch.
»Ist was Interessantes dabei?«, fragt sie ihn und kniet sich vor die gigantische Holzkiste.
»Nicht wirklich.«
Liam geht hinter die lange Theke, die den kleinen Laden beinahe in zwei Hälften teilt. Er öffnet einen winzigen, unter dem Tresen verborgenen, Kühlschrank und nimmt sich nach einigem Herumwühlen einen der darin befindlichen Blutbeutel. Mit der Schere schneidet er eine Ecke des Kunststoffbeutels ab und gießt den Inhalt in ein großes Glas. Mit einem Plastiklöffel rührt er um und gibt das Ganze in eine Mikrowelle. Begierig starrt er auf den sich drehenden Teller, wartet geduldig die fünfzehn Sekunden ab, die das Blut braucht, um sich auf Körpertemperatur zu erwärmen. Das leise Pling ist kaum verklungen, als er bereits die Türe öffnet und das Getränk heraus nimmt. Sachte schwenkt er das Glas, die rote Flüssigkeit hinterlässt an den Rändern einen öligen Film.
»Das ist doch das Beste auf der Welt«, flüstert Liam vor sich hin. Er setzt das Glas an seine Lippen und stürzt in einem gewaltigen Schluck das Blut hinunter. Lautstark stellt er den Trinkbecher auf die Theke zurück, wischt sich mit dem Handrücken über den Mund und schließt für einen Moment die Augen.
Auch wenn es lediglich ein Erythrozyten-Konzentrat war, welches nur aus den roten Blutkörperchen des Spenders besteht, so weiß Liam doch sofort, dass es von einer Frau stammt, die allerhöchstens zwanzig Jahre alt ist, bereits ein Kind geboren hat und gelegentlich einen Joint raucht, aber sonst kaum einem Laster frönt. Er ahnt, dass sie blondes Haar hat und wahrscheinlich groß ist, ausgestattet mit langen Beinen. Zu gerne würde er ihr jetzt auf der Stelle begegnen, aber das ist leider nicht möglich, da die Konserven allesamt aus England stammen, auch ist das Blut schon ein paar Monate alt.
Wenn der Zufall nicht gerade seine schmierigen Finger nach Liam ausstreckt, dann wird ihr und sein Weg sich niemals kreuzen. Und das ist auch gut so, der Blutsauger würde kurzen Prozess mit ihr machen und seine scharfen Zähne in die junge Frau schlagen, nur um ihr das gesamte Blut aus dem schönen Körper zu saugen.
»Hey, Liam«, Alice reißt den Vampir aus seinen schönen Vorstellungen. »Wach wieder auf und steck das Zeug gefälligst weg.«
Er reißt mit einem Ruck die Augen auf und blickt sich um.
Tatsächlich, er steht immer noch in dem schäbigen Bücherladen, namens Alices Wunderland, in der Rue Denfert Rochereau, in Boulogne-Billancourt, einer kleinen Gemeinde, unweit von Paris.
Vor ihm steht die schöne Alice, mit einem Stapel Bücher in der Hand und blickt ihn wütend an.
»Stell dir vor, es kommt jemand rein. Wie zum Teufel soll ich das denn erklären?« Sie zeigt auf die Dinge, die verstreut auf der Theke, inmitten einiger Blutflecke liegen.
»Ja, ja«, knurrt Liam. Er ärgert sich, dass sie ihn so abrupt aus seinen Tagträumen gerissen hat.
»Ich mach das schon.«
Er wischt die Flecken weg, spült die Schere unter fließendem Wasser ab, wirft den Beutel in den Müll und stellt das Glas in die Spülmaschine.
Ein flüchtiger Rundumblick, er hebt die Arme an.
»Bist du nun zufrieden?«
»Nein!«, antwortet Alice. »Zufrieden bin ich erst, wenn ich wieder zurück in England wäre.«
Nicht schon wieder das, denkt sich Liam und wendet sich demonstrativ den Büchern in ihrem Arm zu.
»Hast du da was Interessantes gefunden?« Er greift blindlings nach einem der Wälzer, die Alice auf die, nun wieder saubere Theke, legt.
Die Bücher sind allesamt gebraucht, aber noch in einem guten Zustand. Sie werden hier abgegeben, meist geschenkt, oder für einen solch lächerlich geringen Preis von Alice gekauft, dass Liam sich manchmal für diese fiese Geschäftspraktik schämt. Immerhin verkauft das Mädchen sie zu einem recht ordentlichen Preis wieder weiter. Ihre Gewinnspanne beträgt gut und gerne bis zu dreihundert Prozent. Das muss der Vampir dem Mädchen lassen, geschäftstüchtig ist sie. In Alices Wunderland gibt es schließlich nicht nur Bücher zu kaufen, sie bestreitet ihren Lebensunterhalt mit allerlei Kuriositäten: Kleinkram, besonders zu Halloween, Geschenkartikel, vom Nippes bis zur Schwarzwälder Kuckucksuhr, esoterisches Zeug, vor allem Heilsteine und Tarot. Auch alte Waffen, Heilkräuter und eben auch jede Menge antike Bücher, finden in dem kleinen Laden ihren Platz.
Liam kennt die kleine Alice bereits seit über zwanzig Jahren, da war ihr Geschäft noch nicht so vollgestopft, sie hielt sich beinahe ausschließlich an den Verkauf von Büchern. Er war damals auf der Suche nach einem ganz speziellen Wälzer und suchte es ausgerechnet in ihrem Laden.
Der Vampir fand das Buch und verlor gleichzeitig sein Herz an die kleine Schwarzhaarige mit dem frechen Mundwerk. Leider beruhte das nicht auf Gegenseitigkeit, aber Liam blieb dennoch in ihrer Nähe. Sie freundeten sich an, und als die Zeit reif war und Alice einen Partner für ihr Geschäft brauchte, sagte der Junge sofort zu.
Obwohl sie nun täglich aufeinander hockten, bemerkte der Vampir erst nach ein paar Jahren, was Alice in Wirklichkeit war. Bis dahin hatte er sich keinerlei Gedanken darüber gemacht, sie einfach nur so akzeptiert, wie sie war. Dass in dem zarten Mädchen ein waschechter Werwolf stecken soll, konnte Liam zuerst gar nicht glauben. Bis ihn eines Nachts die Wahrheit beinahe zerfleischte.
Seit dem hält er etwas Abstand zu ihr und geht lieber wieder seine eigenen Wege. Immerhin ist auch er, trotz seiner einhundert zwanzig Jahre, ein verdammt gutaussehender Blutsauger. Groß gewachsen, schlank, mit kurzen schwarzen Haaren und solch dunklen Augen, dass sich bisweilen der Mond darin spiegelt.
Die Tatsache, dass Alice einige Dinge auch unter dem Ladentisch verkauft, hat Liam fast mehr geschockt, als die Werwolfsache. Das Mädchen verteilt doch wirklich scharfe Waffen, und Drogen an diverse Dämonen. Auch der Vampir war in seinem vergangenen Dasein alles andere als nett, aber die Menschen mit einer Ingram 10, MP-5 oder gar einer Glock Kaliber 40 Smith & Wesson umzubringen, davon hält er herzlich wenig. Liam ist immer noch für die altmodische Methode: Ein beherzter Biss in den Hals und alles wird gut – Jedenfalls für ihn selbst.
Als er mitbekam, dass sie an Dämonen Drogen verkauft, war er kurz davor alles hinzuschmeißen, und Alice und dem Laden Lebewohl zu sagen.
Aber das Mädchen bat ihn doch zu bleiben und so konnte er nur über seinen Schatten springen und weiter mitmachen.
Das Teufelszeug, dass sie verkauft heißt: Sanguinem Medicamento, es bedeutet so viel wie ›BlutDroge‹, auch kurz Samento. Allerdings nennen es die Süchtigen nur Das höllische S.
Es besteht aus drei Blutsorten und ruft eine starke halluzinogene Veränderung, einen extremen Rauschzustand und das Gefühl zu fliegen, hervor. Das ist im Prinzip nichts Neues, viele Drogen wecken solche Empfindungen. Aber da es nur an Dämonen verkauft wird, wirkt es bei ihnen gänzlich anders, als bei einem Menschen. Ihre Kunden sind Untote, Vampire, Gestaltwandler und einige mehr.
Es hat ein paar Jahre gedauert, bis sie sich in dieser Welt einen Namen machte, aber heute zählt sie zu dem einzigen Vertreiber von Samento.
Alice kam eigentlich nur durch Zufall darauf, dass sie drei Sorten von Blut zusammen mischen muss um diese Wirkung zu erhalten.
Man nimmt zu gleichen Teilen den Lebenssaft von einem Vampir, einem Gestaltwandler und einem Werwolf. Es wird getrocknet, zu Pulver verarbeitet und in kleine Flakons gefüllt. Man kann es entweder durch die Nase ziehen oder mit reinem Wasser vermischen und sich spritzen. S macht schon nach dem ersten Versuch süchtig. Allerdings ist es nicht ein Verlangen, welches man durch eine kurze Abstinenz wieder los wird. Es ist eine Sucht, als hinge das eigene Leben davon ab, die Junkies können gar nicht anders, als sich die nächste Portion zu verschaffen, weil sie einfach die grausame Empfindung haben, ansonsten qualvoll zu sterben.
Liam erkundigte sich vor ein paar Jahren einmal danach, wie Alice das alles mit ihrem Gewissen vereinbaren kann, immerhin verseucht sie ihre eigene Spezies. Doch Alice antwortete nur spöttisch: »Was sind sie schon? Dämonen, die Menschen töten. Warum soll ich nicht ein wenig nachhelfen, dass die Bevölkerung weiterhin in Ruhe leben kann? Ein süchtiger Vampir hat kaum noch die Zeit, sich an einem Menschen zu vergreifen, er ist immer auf der Jagd nach dem nächsten Tropfen S. Ein Gestaltwandler kann sich nicht mehr in ein Raubtier verwandeln, weil er ständig auf Wolke sieben schwebt und auch die Ghoule interessieren sich nicht mehr sonderlich für menschliche Wesen, sondern nur noch für die Drogen.« Sie zuckte mit ihren schmalen Schultern. »Also, was soll‘s.«
Über solche Kaltblütigkeit konnte Liam nur den Kopf schütteln. Er schwor sich, dass er niemals auch nur ein Körnchen von diesem Teufelszeug probiert, er wollte seine Eigenständigkeit und seinen Willen gerne behalten. Auch Alice verfiel nie dem höllischen S.
Alices Wunderland ist beinahe rund um die Uhr geöffnet, was Tagsüber ein schäbiger Kuriositätenladen ist, verwandelt sich des Nachts in eine kleine Schenke. Kurz nach Dunkelwerden kommen die ersten Dämonen und trinken hier etwas, oder kaufen heimlich ihr höllisches S.
Der größte Wunsch der Werwölfin ist, dass sie genug Geld zusammenspart, um sich in England ein Haus zu kaufen und dort, ohne zu arbeiten, gut lebt. Jede noch so kleine Einnahme, die sie nicht an Liam oder einen ihrer zahlreichen Lieferanten auszahlen muss, trägt die kleine Wölfin auf ihr Sparbuch. Sie hat schon eine beträchtliche Summe zusammen, aber für den Lebensabend, der ihr vorschwebt, reicht es noch lange nicht. Der Vampir hofft, dass Alice ihm dann ihr Geschäft überschreibt, er würde sich in Paris gerne niederlassen, er will nie wieder nach England zurückkehren. Hier fühlt er sich wohler, seine Freunde wohnen in Frankreich und die Menschen sind einfach netter und schmecken besser.
Alice hält ihm ein dickes Buch unter die Nase.
»Das stellen wir ins Fenster, das wird sofort weg sein.«
Liam wirft nur einen Blick auf das Cover und den Namen des Autors. Er ist derselben Meinung wie die Werwölfin, Stephen King verkauft sich immer gut und sein Bestseller ›ES‹ wird wahrscheinlich noch heute einen Abnehmer finden.
»Ist von King noch was dabei?«, fragt der Vampir, weiß aber im gleichen Augenblick, dass das nicht der Fall ist. Hat er doch selbst bereits die Kiste durchwühlt.
»Nein«, erwidert Alice auch einige Sekunden später. »Sonst keins mehr. Aber hier sind noch ein paar DVDs von Hitchcock, die kannst du auch in die Auslage legen. Alles für je einen Fünfer, dann sind wir sie schnell los.«
»Okay«, Liam nimmt ihr das Buch und die drei CD-Hüllen aus der Hand und geht zum Fenster. Nach einigen Überlegungen räumt er die Bücher, die sich dort bereits wundliegen weg und ersetzt sie durch den Roman und die DVDs. Auf kleinen Zetteln schreibt er Fünf Euro und legt sie jeweils vor die Artikel.
Er geht durch die Eingangstür und prüft von außen, ob alles so liegen bleiben kann.
In diesem Moment fährt jemand aus der Garage heraus, die ihrem Geschäft gegenüberliegt.
Liam hat den Kerl in seinem Mercedes bereits ein paar Mal gesehen, und er musste sich eingestehen, dass ihm jedes Mal ein Schauer den Rücken herunter läuft. Der Wagen ist das neuste Modell, aber daran liegt es nicht, dass der Vampir sich bei seinem Auftauchen so unwohl fühlt. Es ist eher der Fahrer, der angsteinflößend ist. Obwohl er ganz normal aussieht, schlank mit dunklen Haaren, so löst er doch bei dem Vampir einen sofortigen Fluchtreflex aus. Liam muss sich zusammen nehmen, um nicht laut zu knurren. Dabei würdigt der Fahrer ihn noch nicht einmal eines Blickes. Rasch zieht er sich wieder zurück in den Laden, schließt hastig die Türe hinter sich, als wäre der Teufel persönlich scharf auf ihn. Die Türklingel stößt nur ein heiseres Krächzen aus, zu mehr ist sie nicht fähig.
»Was ist denn mit dir?«, fragt Alice amüsiert. »Hast du ein Gespenst gesehen?«
»So etwas Ähnliches«, Liam atmet laut und keuchend. »Unser Nachbar scheint wegzufahren und das ausgerechnet, wenn ich mal draußen bin.«
»Was hast du denn gegen ihn?«
»Nichts«, meint der Vampir. »Er ist nur …«, hilflos zuckt er mit den Schultern.
»Ich weiß nicht. Er ist mir einfach unheimlich.«
Alice lacht hinter vorgehaltener Hand.
»Dir? Das ist ja zu komisch.«
Liam gibt ein abfälliges Schnaufen von sich und beginnt die Bücher aus der riesigen Holzkiste in die Regale einzuräumen.
Alice kichert noch ein wenig vor sich hin, dann meint sie langsam:
»Ich kenne den Typen, der mit ihm zusammenwohnt. Der war schon mal hier.«
Liam hebt interessiert den Kopf.
»Ach ja? Und?«
Die kleine Werwölfin zuckt mit den Schultern.
»Nichts und … er ist ein Mensch. Ich glaube, er heißt Charles, oder so ähnlich. Ich weiß auch nicht, was er macht, aber, er scheint nett zu sein.«
Der Vampir überlegt einen Moment.
»Woher weißt du eigentlich, dass der Blutsack bei dem unheimlichen Kerl wohnt?«
Auf Alices Gesicht erscheint ein breites Grinsen.
»Madame Geraldine«, sagt sie lachend.
Liam stimmt in ihr Lachen ein.
Madame Luisa Geraldine ist eine alte Frau, die zwei Häuser weiter wohnt. Sie hat für ihre Mitmenschen nichts als Spott übrig und ist die größte Klatschtante, der gesamten Rue Denfert Rochereau. Sie weiß alles von jedem und wenn sie etwas nicht weiß, dann erfindet sie es einfach.
Sie war es auch, die Alice erzählte, dass die beiden Männer sich eine Wohnung teilen. Sie berichtete es in einem verschwörerischen Flüsterton und hinter vorgehaltener Hand, so als wolle sie Alice das bestgehütete Geheimnis der Welt anvertrauen. Die Kleine zuckte auf diese Offenbarung hin, nur die Schultern. Eine Reaktion, mit der Madame Geraldine nicht gerechnet hatte. Aber da sie wollte, dass Alice genauso entsetzt darüber war, wie sie, legte Madame noch einen drauf.
»Aber«, krächzte sie heiser und rückte noch näher an Alice heran. »Stellen Sie sich vor … sie haben sogar ein Schlafzimmer … zusammen.«
Triumphierend sah die Alte Alice an. Ganz so, als wollte sie noch hinzufügen: Na, was sagst du jetzt, Mädchen.
»Waren Sie schon einmal bei den jungen Männern in der Wohnung?«, fragte Alice und sah Madame neugierig an.
»Nein. Nein, natürlich nicht«, rief sie entsetzt und beugte sich nach hinten. Die Hände auf ihren mächtigen Busen gedrückt, die Augen aufgerissen sah sie die Jüngere furchtsam an.
Es machte schon länger die Runde in der Straße, dass Madame Geraldine sich das ein oder andere Mal gewaltsam Zutritt zu einer Wohnung verschafft hatte, nur um ihre persönliche Neugierde zu stillen. Ob an dem Gerücht etwas Wahres dran war, wusste Alice nicht genau, aber vorstellen konnte sie es sich durchaus.
Um das Gespräch zu beenden, zuckte die Werwölfin ein weiteres Mal mit den schmalen Schultern und sagte abweisend:
»Und wenn schon, dann schlafen sie eben zusammen … ich denke nicht, dass uns das was angeht. Die können machen, was sie wollen.«
Verärgert runzelte Madame ihre Stirn und wechselte rasch das Thema.
»Ich denke nicht, dass sie ein Paar sind«, sagt Alice und schüttelt wie zur Bekräftigung den Kopf.
»Egal, was das Klatschmaul Geraldine sagt. Der Typ kam mir viel zu männlich vor und außerdem hat er ein bisschen mit mir geflirtet.«
Liam wendet sich wieder seinen Büchern zu. Er will nicht, dass Alice sieht, wie sehr ihn ihr letzter Satz getroffen hat.
»Das denke ich auch nicht.« Mit Schaudern erinnert er sich an den Kerl in seinem neuen Mercedes. Nein, überlegt er den Satz weiter, der steht mit Sicherheit auf Mädchen … das, und auf Blut und Fleisch und … auf die Hölle.
Kapitel Drei
Es ist tiefste Nacht, als Samuel seinen Mercedes in die Garage lenkt.
Er fuhr nicht sofort von der kleinen Kirche aus nach Hause, unterwegs hielt er noch an einem Rastplatz an. In der hintersten Ecke parkte er seinen Wagen, stellte den Motor ab und dachte nach. Sein Nacken ruhte auf der Kopfstütze und die Augen hielt er geschlossen, kein Atmen hob seinen Brustkorb, kein Muskel regte sich an ihm. Wenn ein nächtlicher Besucher des Rastplatzes ihn entdeckt hätte, so wäre dieser schreiend davon gelaufen, nur um möglichst rasch die nächste Polizeistreife anzuhalten, und ihnen stotternd mitzuteilen, dass ein Toter in einem nagelneuen Mercedes liegt.
Aber zum Glück störte Samuels Gedanken kein noch so aufmerksamer Passant. Erst drei Stunden später wachte er aus seiner Lethargie auf und trat den Heimweg an.
Als er über die A13 in Richtung Paris fuhr, umspielte seine Lippen bereits ein leises Lächeln. Er lenkte den Wagen weiter auf der Rue de Normandie, schenkte den hellen Lichtern, wofür diese Stadt so berühmt ist, keinerlei Aufmerksamkeit.
Erst als er endlich in die Rue Denfert Rochereau einbog, war seine Laune wieder hergestellt.
Selbst die Garageneinfahrt, die sich so anfühlt, als führe sie senkrecht in die Hölle, kann ihn heute nicht verärgern.
Er freut sich auf einen schönen alten Whisky, der so wunderbar nach Holz und Rauch schmeckt und einem knisternden Feuer im Kamin.
Als er seine Wohnung im zweiten Stock aufschließt, schlägt ihm grausam laute Rockmusik, aber auch ein herrlicher Geruch nach Schweinebraten, Kartoffeln und einem süßen Dessert, entgegen.
»Ah, hier bin ich richtig«, sagt er leise und grinst nur noch breiter. So mies der Tag auch angefangen hat, umso besser scheint er zu enden.
»Charlie?«, ruft Samuel laut durch die große helle Wohnung.
»Hey, Alter«, erklingt es munter zurück. »Bin in der Küche.«
Samuel hängt seinen Mantel in die Garderobe, zieht die Schuhe aus und streckt sich kurz.
Bin ich froh, wenn ich aus den Klamotten rauskomme, denkt er und geht mit einem Lächeln in das große Esszimmer.
Überall sind Lichter eingeschaltet. Deckenfluter, Strahler, und Lichtbänder, die knapp unter der Decke verlaufen und ein diffuses, blassblaues Licht aussenden. In jeder Ecke scheint eine Lampe zu stehen, es gibt kaum einen Platz, der nicht grell erleuchtet wird.
Vor die riesige Fensterfront wurden gelbe Vorhänge geschoben. In einem schlichten, aber überbreiten Kamin, der in die Wand eingebaut wurde, knistert ein herrliches Feuer.
Der Fernseher läuft und gibt dröhnende Musikfetzen zum Besten.
Ein großer, sechseckiger Esstisch ist mit alten Tellern gedeckt, er wirkt wie eine altmodische Insel, in dieser hochmodernen Wohnung.
»Setz dich, Junge. Essen ist gleich fertig.«
Samuel dreht sich um und sieht in die Durchreiche, die den Blick auf eine lindgrüne Küche freigibt.
In ihr hantiert ein junger Kerl mit Töpfen und Pfannen und grinst ihn frech an.
»Wie lange habe ich noch, Charlie?«
»Hm«, der Junge öffnet den Backofen, wirft einen raschen Blick hinein und meint dann:
»Umziehen, Whisky einschütten, Kippe anmachen … Essen fertig.«
Samuel lacht laut auf. »Okay, dann weiß ich Bescheid.«
Er geht in sein eigenes Schlafzimmer, zieht sich den Anzug, die Krawatte und das Hemd aus, hängt alles sorgfältig zurück in den Schrank. Er schnappt sich ein altes T-Shirt und eine Jeans, darin fühlt er sich wohler, als in der steifen Garderobe.
Jetzt fehlt nur noch die Zigarette und der Schnaps, genau wie Charlie sagte.
Als Samuel zurück ins Wohnzimmer kommt, steht bereits ein gefülltes Glas auf dem kleinen Wohnzimmertisch, neben einer frischen Packung Gauloises Blau.
»Danke, Charlie«, ruft Samuel in Richtung Küche.
Umständlich holt er sich eine Zigarette aus der Packung, steckt sie sich zwischen die Lippen und zündet sie mit einem Zippo an. Er wirft einen Blick auf das Feuerzeug, das ihm unbekannt vorkommt. Es stellt den Ghostrider dar, der auf seiner Harley scheinbar aus dem Zippo heraus, auf einen zufährt.
»So ein Blödsinn«, murmelt er vor sich hin und wirft das Feuerzeug zurück auf den Tisch.
Mit Genuss inhaliert er den Rauch tief und lässt ihn stoßweise wieder entweichen, dabei produziert er fast perfekte Rauchkringel, die sich nur zögernd auflösen.
Samuel greift nach dem Glas, lässt die Eiswürfel gegeneinander klicken und beobachtet den bernsteinfarbenen Whisky, wie er sachte hin und her schwingt. Erst nach einem weiteren, gewaltigen Zug an der Zigarette nimmt er einen großen Schluck Whisky. Ölig läuft der Alkohol ihm über die Zunge, löst einen kleinen Waldbrand in seiner Kehle aus.
»Ah …« Samuel streckt die langen Beine von sich.
Mit einem Mal steht Charlie neben ihm und nimmt sich ebenfalls eine Gauloises. Allerdings inhaliert er nicht so tief wie Samuel, die Erfahrung hat er einmal gemacht, auf eine Wiederholung ist er nicht scharf.
Kein Mensch sollte versuchen einen Sensenmann nachzuahmen, das kann nur schlecht enden.
Eigentlich sollte überhaupt kein Mensch dem leibhaftigen Tod zu nahe kommen, doch Charlie ist froh, dass er Samuel vor etlichen Jahren traf.
Er war von London nach Paris gekommen, der Liebe wegen.
Auf einem Ausflug lernte er ein junges Ding kennen, die bei einer Londoner Familie das Au-Pair-Mädchen spielte. Sie verliebten sich in einander und als die Kleine zurück sollte, zog Charlie einfach mit. Das Ganze ging nur ein paar Monate gut und das Mädchen setzte ihn wegen eines Anderen vor die Tür.
Da stand der Junge nun, ohne Wohnung, ohne Geld und ohne einen Funken Hoffnung. In England hatte er alle Brücken hinter sich abgebrochen, er konnte nicht zurück. In Paris hatte er noch nicht richtig Fuß fassen können. Zuerst zog er von Unterkunft zu Unterkunft, besorgte sich Hilfsarbeiterjobs und mogelte sich irgendwie durch. Dann endlich hatte er genug Geld zusammen, dass er die Kaution für eine Wohnung und die erste Miete aufbringen konnte.
Auf dem Weg zu seinem Vermieter, um den Vertrag zu unterzeichnen, wurde er überfallen. Die Kerle schlugen ihn Krankenhausreif und stahlen ihm seine gesamte Barschaft.
Nun sah Charlie wirklich keine Lösung und keine Hoffnung mehr. Beladen mit Krankenhausschulden, ohne Job und Dach über dem Kopf, gab es für ihn nur noch einen Ausweg: Er besuchte seine alte Flamme ein letztes Mal, doch sie warf ihn gleich aus der Wohnung.
Wie ein Sünder schlich er des Nachts zum Eiffelturm und stürzte sich von dem berühmten Bauwerk.
Sein Flug schien eine Ewigkeit zu dauern, er dachte in seinen letzten Sekunden nur darüber nach, wie es sich wohl anfühlen wird, wenn er auf dem unerbittlichen und harten Asphalt aufschlägt. Wird sein Körper aufplatzen, wie eine übervolle Tüte? Werden seine Gedärme umher spritzen und die Straße besudeln? Wird es sehr schmerzhaft sein? Er machte sich innerlich für den Aufprall bereit.
Was er aber dann spürte, verwunderte Charlie so sehr, dass er einen hohen Schrei ausstieß.
Er landete in den Armen von Samuel, anderthalb Meter über dem harten Boden, über den er schon sein Blut fließen sah. Der Tod stellte ihn wieder auf seine Beine, die ihn gar nicht tragen wollten, so zitterig und weich waren sie. In kurzen Worten erzählte Samuel, wer er ist und dass Selbstmord keine Lösung, aber vor allem eine Todsünde sei. Sie redeten die ganze Nacht und als der Morgen graute, war Charlie wieder so weit hergestellt, dass er zumindest einwilligte, bei Samuel mindestens eine Woche zu bleiben. Dann würden sie weitersehen.
Aus der Woche sind inzwischen zehn Jahre geworden. Charlie hat einen guten Job als Koch in einer Kantine. Zuerst blieb er bei Samuel wohnen, aber nach zwei Jahren zog er mit seiner neuen Freundin zusammen. In der Zeit blieb er dennoch immer mit dem Tod in Kontakt, sie wurden gute Freunde. Erst als nach fünf Jahren auch diese Beziehung in die Brüche ging, zog er wieder bei seinem alten Freund ein.
Es ist schwierig, in Paris ein gutes und bezahlbares Zuhause zu bekommen und Sam ist nicht abgeneigt, von seinen Aufträgen in eine aufgeräumte Wohnung zurückzukehren und wenn es noch ein gutes Essen gibt, ist er mehr als erfreut.
Charlie nimmt die Fernbedienung und dreht Alice Cooper mitten im Satz den Saft ab. Nun rockt der alte Musiker nur noch stumm über die Mattscheibe.
Fasziniert starrt Samuel auf den Fernseher, obwohl er nichts mehr vom Coop hört, so wäre er doch in der Lage, jede Textzeile von Feed my Frankenstein mitzusingen, wenn ihm danach zu Mute ist.
»Hey, der Song war gut.«
Charlie zeigt mit dem Daumen hinter sich.
»Essen ist fertig, Sam. Kommst du, oder soll ich es … an Frankenstein verfüttern?« Er grinst breit.
»Okay.«
Ächzend erhebt sich Samuel und gemeinsam setzen sie sich an den gedeckten Tisch.
Sein Geruchssinn hat ihn nicht getäuscht, Charlie hat Schweinebraten, Kartoffeln und dazu einen Salat angerichtet, nur das süße Dessert fehlt noch auf dem Tisch.
Mit Heißhunger fällt der Tod über das köstliche Nachtmahl her, er hatte ganz vergessen, dass er so einen großen Hunger hatte.
»Schmeckt köstlich, Charlie«, meint er irgendwann zwischen zwei Bissen.
Der Junge beobachtet ihn genau, er kennt Samuel nun schon eine geraume Zeit, aber mit so einem Appetit hat er ihn selten essen sehen.
»Ist es heute nicht so gut gelaufen?«, erkundigt er sich, als er schon lange satt ist und Samuel sich seine dritte Portion aufdeckt.
Mit vollem Mund schüttelt er nur den Kopf, spült mit einem Mineralwasser den Rest hinunter.
»Nein, Charlie, nicht wirklich. Selbst bei Francesco hatte ich das Gefühl, als läuft irgendwas furchtbar schief.«
Der Junge zündet sich eine Zigarette an.
»Was hat der alte Pfaffe denn gesagt?«
Ein strafender Blick aus Samuels feurigen Augen trifft ihn. Aber auch wenn der Tod es wollte, so könnten seine höllischen Augen dem Jungen nichts anhaben – Der ist längst für die Hölle bestimmt, nur den Zeitpunkt kennt niemand, noch nicht einmal der Tod selbst.
Um einer gottesfürchtigen Diskussion aus dem Weg zu gehen, fragt Charlie rasch:
»Lust auf einen Nachtisch, Sam?«
»Was hast du denn anzubieten?«
Grinsend steht Charlie auf, nimmt die Teller mit und werkelt in der Küche herum.
»Lass dir Zeit«, meint Samuel. »Ich rauche erst noch eine.«
Gerade als er die Zigarette wieder ausdrückt, kommt Charlie zurück und serviert einen riesigen französischen Eierflan.
Die Lampe, die knapp über dem Esstisch hängt, spiegelt sich in der glänzenden, karamellisierten, Schicht des Flans. Die Vanillecreme biegt sich unter der dicken Karamelldecke.
»Wow«, sagt Samuel. »Wie kommst du denn darauf?«
Charlie zuckt mit den Schultern.
»Hab ich im Internet gelesen, ich wollte es mal ausprobieren.«
Mit einem scharfen Messer schneidet er ein großes Stück für seinen Freund ab und legt es auf einen Teller.
Sein eigenes Stück ist um ein vielfaches kleiner.
»Willst du mich mästen?«, fragt Samuel empört und schlägt sich selbst auf den flachen Bauch.
»Quatsch nicht. Los! Probieren!«
Samuel schiebt sich unter Charlies aufmerksamen Augen den ersten Löffel Eierflan in den Mund. Die Karamellmasse kracht und knackt, er hört es sogar in seinen Ohren, die Vanillemilch läuft cremig über seine Zunge. Zusammen ergibt das eine herrliche Komposition.