Kitabı oku: «Wo die wilden Maden graben», sayfa 2

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In der Zwischenzeit werden die Menschen besser an ihren Instrumenten, probieren neue Sachen aus, lernen Dinge wie Fotografieren oder Tauchen, haben tolle Körper, machen Sport, ziehen in fremde Städte oder erforschen ferne Länder, sie studieren Geschichte oder Biologie, machen außerordentliche Erfahrungen mit synthetischen Drogen, sie verlieben sich oder werden Sexprofis, erhalten Unmengen an Geld, Befriedigung oder Fans, und du machst einfach nicht mit. Während die Welt sich in atemberaubender Geschwindigkeit weiterdreht, liegst du, von ein paar spastischen Zuckungen abgesehen, vollkommen regungslos in deinen paar Quadratmetern und suhlst dich in deiner Lethargie. Du fühlst dich nicht gut dabei, du bist alles andere als glücklich mit diesem Einsiedler-Dasein, aber du kannst dich nicht aufraffen, etwas Neues anzufangen. Die Welt ist so schnell und gut drauf, alle sind so gut in ihrer Abteilung, dass du dich in ihrer Gegenwart blöd, lächerlich und alt fühlst und jeglichen Elan verlierst, an deiner Situation etwas zu ändern.

Wenn du auf der Straße entfernten Bekannten begegnest, versuchst du, ihnen aus dem Weg zu gehen. Du schaust auf den Boden, tust so, als würdest du telefonieren, oder kramst in deiner Tasche, als würdest du etwas suchen. Manchmal biegst du sogar in eine Seitenstraße ein und nimmst einen Umweg, nur um nicht in die Verlegenheit zu kommen, mit jemandem reden zu müssen. In den Supermarkt gehst du nur mit dem MD-Player in der Tasche. Die Musik auf den Ohren gibt dir einen Schutzschild, ohne den du nur ungern das Haus verlässt. Du guckst dir bewusst Phrasen von anderen ab, kopierst ihren Plauderton, übernimmst ganze Sätze, damit du beim von Zeit zu Zeit unvermeidbaren Smalltalk nicht auffällst, damit du dein Gegenüber schnell wieder los wirst, ohne ihm ein mulmiges Gefühl zu geben. Niemand soll dich fragen, was mit dir los ist. Du weißt es doch selbst nicht.

Mindestens fünf Mal fängst du an, »Moby Dick« zu lesen. Immer hörst du nach wenigen Seiten wieder auf, weil du aus Zwang, nicht aus Lust liest. Nichts macht dir Spaß. Du bist so einsam und verzweifelt, dass du nicht mal schreibst, liest, Gitarre spielst, Freunde besuchst oder irgendwen anrufst. Du hältst dich für durch und durch unzumutbar und möchtest nicht, dass dich jemand so sieht. Du schwankst zwischen Selbsthass und Selbstmitleid, zwischen Weltschmerz und Verachtung, zwischen Hass und Gleichgültikeit. Du kotzt dich selber an.

Dann fängst du an, mit dir selbst zu reden. »Schnauze«, sagst du, wieder und wieder. Fernseher an, »Schnauze, Arschgeburt«, Fernseher aus. Du singst Melodien von bekannten Songs mit einem einzigen Wort nach: Schnauze. Schnauze Schnauze Schnauze.

3.

Wir halten bei McDonald’s. Die Tourneeleitung findet das gut, weil es schnell geht und überall gleich schmeckt. »Überall gleich scheiße«, füge ich hinzu. Die Auswahl an vegetarischem Essen ist hier extrem begrenzt. Design und Geräuschkulisse sind unerträglich. Ich fühle mich jedes Mal wie ausgekotzt, wenn ich da rauskomme. Als hätte ich mich total gehen lassen. Eklig, aufgeschwemmt, übersatt und trotzdem noch immer hungrig. Ich würde lieber eine halbe Stunde eher losfahren und dafür an einer vernünftigen Pizzeria halten, wo man sich in Ruhe hinsetzen und einen Wein zum Essen bestellen kann. Ist das denn zu viel verlangt? Ist das etwa spießig, oder was?

Burger-Restaurants sind der reine Terror. Für die Gesundheit, für die Nerven. Ich beschließe, da nicht mehr reinzugehen, auch wenn ich das Wort »Boykott« nicht ausstehen kann. Zum ersten Mal habe ich es im Geschichtsunterricht in Verbindung mit dem 9. November 1938 gehört und seitdem ein gespaltenes Verhältnis dazu. Boykott erinnert mich außerdem an pubertären Aktionismus und gutmenschlerische Onanie. Aber egal wie man es nennt, ich versuche, es zu vermeiden, hier zu essen. Sollen die anderen sich doch ihren Scheißfraß holen, sind ja eh kaum noch Vegetarier an Bord. Alle eingeknickt, erst heimlich, dann ab und zu mal Fisch essen, und schließlich so richtig loslegen. Wie alle ehemaligen Vegetarier scheinen sie sich jetzt ausschließlich von Fleisch zu ernähren. Haben wohl einiges nachzuholen.

Sollen sie sich doch ihre schmierigen Fish- und Bigmäcs reinschieben, den pulvrigen Brei mit dickflüssigen Milkshakes runterspülen und sich als Dessert noch ein nur aus Zucker und Kälte bestehendes Eis hinterherzwängen. Ich gehe lieber mit Mario zur Tanke und kaufe mir eine Tüte Erdnussflips. Das ist nicht geil, kostet aber ein Zehntel, bei doppelter Nahrhaftigkeit.

Du willst euer neues Lied hören, das du bei der letzten Bandprobe auf Mini-Disc aufgenommen hast. Du musst es unbedingt laut hören, aber es ist schon spät. Aus Rücksicht gegenüber deiner Mitbewohnerin, die einen sozialen Beruf ausübt und morgen früh raus muss, hörst du es nicht über die Stereoanlage, sondern stopfst dir den MD-Player in die hintere Pyjamatasche und die Stöpsel in die Ohren. Ein guter Song, noch ohne Gesang, aber schon sehr mitreißend. Noch vorm ersten Refrain hast du deine Gitarre umhängen und stehst vor dem Spiegel. Je öfter und lauter du es hörst, desto besser siehst du dabei aus. Die Massen jubeln dir zu, du bewegst dich unheimlich cool und hast einen aggressiven Gesichtsausdruck drauf. In der Bridge, kurz vorm letzten Refrain, lächelst du einmal ganz leicht, das wirkt in diesem Zusammenhang ein bisschen irre, aber irgendwie auch süß. Auf einer Empore neben der Bühne entdeckst du vier oder fünf Mädchen, die du heiß findest, und bist dir sicher, dass keine von ihnen diesem Blick widerstehen kann!

Am Ende gibt es einen richtigen Showdown, eine derbe Steigerung, bei der die Gitarren heulen und kreischen, während Schlagzeug und Bass einen monotonen, lauter werdenden Beat spielen. Du wirbelst einmal um deine eigene Achse und denkst: »Boah, ich bin ein freshes Biest! Ich bin ganz schön …«

Du hast nicht bemerkt, wie der MD-Player aus der Hosentasche gerutscht ist, plötzlich reißt es dir die Stöpsel aus den Ohren und du hörst nur noch den Aufprall: ein großes BAZONG! Mit vielen kleinen SCHATENG!s hinterher. Die Batterieklappe ist aufgesprungen, die Batterie rausgekullert. Du willst sie wieder einlegen, aber die Klappe lässt sich nicht mehr schließen.

In Pyjamahose und T-Shirt sitzt du auf deinem Bett, die Gitarre auf den Knien, das Plektrum im Mund, und drückst und schiebst, aber die Klappe will einfach nicht einrasten. Du bist sehr ungeschickt in diesen Fummelarbeiten. Genau genommen bist du ungeschickt in allen Dingen, für die man Hände braucht. Aber schließlich erkennst sogar du das Problem. Ein kleiner Nippel vom Verschluss ist abgebrochen. Wird mit Batterie nicht mehr funktionieren, das Gerät.

Du könntest das Netzteil benutzen, dann allerdings nicht mehr dazu vor dem Spiegel rumposen. Du könntest das Lied über die Stereoanlage weiterhören, aber es ist spät, und die Dame nebenan hat doch diesen sozialen Beruf. Du könntest auch einfach ins Bett gehen.

Zum Einschlafen hörst du Pinback und ziehst dir die Decke ans Kinn. Nachdem alle zwölf Lieder durch sind und du die Augen noch keine Minute am Stück geschlossen hattest, stehst du auf, drückst auf Play, und hörst die CD nochmal. »I wish that you were here, we’d have a tea party to celebrate, drive a cop car into the lake, hold our breath for two long boring days«.

Zwischen Soundcheck und Auftritt ist noch Zeit, im Hotel einzuchecken und dort ein wenig abzuhängen. Wir wussten vorher nicht, dass das vermeintliche Hotel ein ehemaliges Studentenwohnheim ist. Es ist bereits dunkel, als wir dort ankommen. Ein riesiges Gelände, auf dem kaum noch Menschen wohnen. Eine Geisterstadt. Unheimlich. Überall werden hier im Osten jetzt Viertel wie dieses abgerissen. Ich habe heute in einer Tageszeitung, die im Bus rumflog, gelesen, dass zum Beispiel Hoyerswerda seit der Wende mehr als ein Drittel seiner Einwohner verloren hat. Ganze Vororte werden da abgerissen. Was muss das für ein deprimierendes Wohn- und Lebensgefühl sein, wenn um einen rum alles zusammenbricht, ausdörrt, den Bach runtergeht. Wenn alle nur weg wollen. Mir tun die Leute leid, die aus beruflichen oder familiären Gründen dort bleiben müssen. Sie haben vielleicht einen Job, den sie hassen, müssen aber im gleichen Moment froh sein, überhaupt einen zu haben. Müssen froh sein, sich morgens aus dem Bett zu quälen und etwas zu tun, das sie nicht tun möchten. Wie absurd. Wie schrecklich. Und ich weiß ja selbst, wie es ist, in einer Stadt zu wohnen, aus der alle abhauen, sobald sie können. Ich habe so viel Zeit dort verbracht, komplette Freundeskreise verloren, weil ich immer der Jüngste war, während meine älteren Freunde irgendwann wegzogen. Die, die blieben, versanken in Lethargie, Drogensucht oder bürgerlicher Zweisamkeit.

Die Zimmer sind karg, hässlich und gammelig. »Funktional« nennt man das auch verklärend. Der Teppichboden ist abgewetzt und staubig, eine nackte Glühbirne baumelt von der Decke. Die Nachttischlampe ist gelb von zu viel Rauch und zu viel Zeit. Die Vorhänge sind schwer, speckig und braun. Es gibt keinen Fernseher und kein Radio. Keine Ahnung, wer auf die Idee gekommen ist, hierher zu fahren. Ich würde lieber bis zum Konzert im Club abhängen, ein paar Leute treffen oder lesen oder schreiben. Ich hänge meine Bühnenklamotten auf die Heizung, Hose, T-Shirt, Unterhose. Sie sind noch klamm, ich habe sie nicht trocken bekommen, weil der Heizkörper im Hotel letzte Nacht schon mit Marios Sachen belegt war. Ich drehe die Heizung auf volle Kanne, aber nichts passiert. Duschen wäre eine Idee, aber es kommt kein heißes Wasser. Nach der langen Fahrt wäre es ein gutes Gefühl, mal die Socken auszuziehen. Der schuppige, dreckige Boden sagt mir: Lass es lieber bleiben. Ich lege mich aufs Bett. Mario liegt auf seinem und döst. Ich lese ein paar Seiten in meinem Buch. »Fräulein Smillas Gespür für Schnee«. Smilla ist ein genauso eigenwilliges, toughes und beeindruckendes Frollein, wie ihr geheimnisvoller, wunderschöner Name andeutet. Aber bereits nach wenigen Seiten fallen auch mir die Augen zu.

Ich befinde mich gerade in einem nicht wirklich entspannenden Halbschlafzustand, als neben mir mein Handy piept. Eine SMS von der Tourneeleitung aus dem Zimmer nebenan. »Heißwasser lange laufen lassen!«, steht drin. Süß, wie er sich um uns kümmert. Ich probiere es. Nach ein paar Minuten wird das Wasser endlich warm. Danke, Tourneeleitung.

Am nächsten Morgen hasst du die Welt, als du siehst, dass du das Gerät vor genau einem Jahr und zwei Wochen gekauft hast. Dein Mitbewohner sagt dir allerdings, dass es dank irgendeiner neuen EU-Verordnung jetzt zwei Jahre Garantie auf technische Geräte gibt. Geil, danke, EU! Du hasst die Welt jetzt nur noch ein bisschen, und zwar, weil du zur Reklamation ein Karstadthaus betreten musst. Die Abteilung ist groß, überfüllt und unterbesetzt. Während du auf einen freien Verkäufer wartest und dich dabei anscheinend als Einziger nicht dreist vordrängelst, schlenderst du durch die Gänge und bist erstaunt über all die Geräte, von denen du noch nie gehört hast. MD-Player sind kaum noch im Angebot, dafür diese MP3-Player. Wahnsinn, in wie vielen verschiedenen Größen es die gibt. Du fragst dich, wer das alles kauft, und wer sich die Mühe macht, all die kleinen Unterschiede zwischen den diversen Ausführungen, Marken und Preisklassen herauszufinden. Große Auswahl schüchtert dich ein. Du willst haben, was du brauchst, und das dann für immer behalten. Deine Jeanshose ebenso wie deinen Verstärker, deine Gitarre wie deine Kaffeemaschine, deine Schuhe wie dein Minidiscdingens. Und dann all die neuen Geräte – wirst du langsam alt, wenn du nicht weißt, was das alles ist und es dich auch gar nicht interessiert?

»Müssen wir einschicken«, sagt der Verkäufer, »kann aber dauern, drei Wochen oder vier, ist bei Sharp normal, was soll ich tun, kann ich ja auch nichts dran machen.«

Als hättest du nach dieser Entschuldigung verlangt, als du ihm das Ding mit den Worten »Ist mir runtergefallen, müsste noch Garantie drauf sein«, in die Hand gedrückt hast. Du scheinst irgendetwas an dir zu haben, das Menschen das Gefühl gibt, du willst ihnen was. Dabei pocht in dir doch ein großes Herz für arme Leute wie Karstadtverkäufer, Pommesbudenfrauen oder Aldikassiererinnen, die sich Tag für Tag rabiate, boshafte »Kunde-ist-König«-Mentalitäten gefallen lassen und dabei dann noch freundlich und geduldig bleiben müssen.

Drei Wochen ohne Musik auf den Ohren. Das heißt drei Wochen ohne Schutzschild in den Supermarkt. Es macht dir Angst.

4.

Werner fährt schon wieder seit Stunden. Er setzt sich einfach morgens ans Steuer und fährt los, hält ab und zu zum Rauchen an und fährt danach weiter. Ich glaube nicht, dass es immer gut für ihn ist, denn er braucht viel Schlaf. Abends ist er oft müde und verspannt. Aber wenn er mal nicht fährt, langweilt er sich sofort. Er kann während der Autofahrt nicht schlafen, also liest er ein bisschen. Dann kriegt er Bierdurst und sitzt angeödet herum, vollends damit beschäftigt, sich das Saufen zu verkneifen. Ich kann mich ohnehin nicht beschweren, ich profitiere wie alle anderen davon, dass er uns die ganze Zeit durch die Gegend kutschiert. Meistens würde ich mich gar nicht trauen, selbst zu fahren, aus Angst vor dem Restalkohol in meinem Blut.

Die Heimfahrt von der Grillparty ist nicht lang, maximal zehn Minuten. Du hast eine Flasche Wein und mehrere Schnäpse getrunken, fährst aber ganz normal. Zumindest bis du kurz vor deiner Wohnung an einer roten Ampel einen Blick in den Rückspiegel wirfst: Ein Polizeiwagen ist hinter dir. Absoluter Zufall zwar, aber er macht dich nervös. Als die Ampel auf grün umspringt, drückst du panisch aufs Gaspedal. In einer Kurve gerätst du kurz auf die Fahrbahn neben dir und ziehst ruckartig wieder rüber. Mein Gott, so eine Ente hat aber auch wirklich eine komische Lenkung. Vielleicht ist es ja auch ein bisschen windig, stürmisch gar, in dieser lauen Sommernacht Mitte Juni …

Es ist Benjas Ente, sie sitzt neben dir und sieht dich entgeistert an. Du wirfst einen Blick auf den Tacho und bemerkst, dass du bei siebzig km/h bist. Das nächste, woran du dich erinnern kannst, ist die »Bitte folgen«-Anzeige auf dem Dach des Polizeiwagens, der euch überholt. Sie fahren rechts ran, du hinterher. Langsam steigen die Beamten aus. Du weißt später nicht mehr, was dir durch den Kopf ging. Totaler Blackout.

»Haben Sie was getrunken?«

»Nein. Na ja, ein Glas Wein.«

»Steigen Sie bitte mal aus.«

Du steigst aus, hauchst dem Kerl vorsichtig ins Gesicht, worauf der das Pustegerät holt. Es sagt »1,0 Promille«. Auch Benja muss pusten. Sie hat genau wie du eine Flasche Wein und ein paar Schnäpse getrunken, ist einen Kopf kleiner und mindestens zwanzig Kilo leichter als du, und das Gerät zeigt bei ihr nur 0,2 Promille an. Sie hat sich nicht mehr fahrtauglich gefühlt, wollte aber auch nicht nach Hause laufen, und als Zeichen deiner Liebe, na ja, vielleicht eher als Beweis deiner Tollkühnheit, hast du gesagt: »Okay, ich fahre«, womit du ausdrücken wolltest: Baby, mach dir keine Sorgen, wenn ich bei dir bin, musst du niemals laufen, ich bin ein tougher Typ und hab alles im Griff, lehn du dich nur an meine starke Schulter und schlummere sanft dahin, während ich dich durch die dunkle Nacht geleite!

»So, dann setzen Sie sich mal ans Steuer und fahren hinter uns her zur Wache«, sagt der Bulle zu Benja. Verdattert schaut sie erst ihn, dann dich, dann wieder ihn an, setzt sich aber schließlich hinters Steuer.

»Scheiße, ich bin total breit, ich kann doch jetzt nicht fahren!«, flucht sie im Wagen. »Und ich krieg bestimmt voll einen an ’n Arsch, weil ich Fahrzeughalterin bin und einen Betrunkenen habe fahren lassen!«

Dass das unwahrscheinlich ist und du außerdem weitaus beschissener dran bist, sagst du ihr nicht. Du sitzt nur schweigend da und hoffst, deinen Alkoholspiegel auf der fünfminütigen Fahrt durch bloßen eisernen Willen auf unter 0,5 Promille senken zu können.

Was dir nicht gelingt. Ihr verbringt eine halbe Ewigkeit auf der Wache. Nachdem deine Personalien aufgenommen und einige Lauf- und Koordinationstests gemacht sind, wartet ihr auf den Arzt, der dir Blut abnimmt. Es stellt sich später heraus, dass du genau 1,06 Promille hast. 0,04 Promille mehr, und es wäre eine Straftat gewesen. Gut, dass du das letzte Glas nur halb ausgetrunken hast. Das nennt man Glück im Unglück, worüber du dich aber nicht wirklich freuen kannst, denn du hast den Führerschein erst seit einem halben Jahr, bist also noch in der Probezeit, und jetzt ist er weg. Erst nach neun Monaten, der Bezahlung einer Geldbuße und dem Absolvieren eines idiotischen Kurses mit zehn anderen Verkehrssündern und einer Psychologin wirst du ihn wiederbekommen.

Irgendjemand traut sich, den Satz zu sagen: »Können wir mal anhalten, ich muss pissen!«

Vier oder fünf Leute denken: Jaaaa, rauchen, rauchen, rauchen!

Zur Antwort gibt es nur das alte Zitat aus »Superstau« – »Nix da, im Fernsehen wird auch nicht gepinkelt!«

Schließlich steuert Werner eine Raststätte an. Wir müssen tanken. Vier oder fünf Leute denken: Jaaaa, rauchen, rauchen, rauchen!

Werner tankt den Wagen voll, die Tourneeleitung stellt sich schon mal zum Bezahlen an. Das habe ich früher gern gemacht. Es war immer super, mit der verbeulten Bandkasse dazustehen, aus der die Scheine nur so hervorquollen, wenn man sie öffnete. Manchmal fielen welche heraus, und man musste sie zwischen Schokoriegeln und Flachmännern wieder einsammeln. Die Tankwarte wussten nicht, dass kaum etwas davon uns gehörte. Sie hatten ja keine Ahnung, dass wir alles wieder abdrücken mussten, für Busmiete, Gitarrensaiten und Sprit. Sie sahen nur den etwas dreckigen, verpennten oder restbetrunkenen Hallodri mit dem großen Haufen Bargeld und dachten: Warum stehe ich hier für einen Hungerlohn, und diesem Bunken fällt die Knete bündelweise aus der Kasse! Oft waren sie merklich irritiert. Drogendealer? Zuhälter? Dieb? Einmal, noch vor der Einführung des Euros, hatte ich einen Fünfhundert-Mark-Schein, und obwohl die Kasse voll war mit Kleingeld vom Merchverkauf, konnte ich es mir nicht verkneifen, mit dem großen Schein zu bezahlen. Die Augen des Tankwarts funkelten vor Hass und Sozialneid.

Seit wir nur noch per Karte zahlen, macht es keinen Spaß mehr, und ich überlasse das Bezahlen gerne der bankkartenverwaltenden Tourneeleitung.

Auf dem Klo trifft man sich und tauscht sich aus: »Na, hast du die ganze Zeit gepennt? Ach, was liest du denn? Wir könnten auch mal wieder einen Film gucken, mal Simon fragen, ob er noch irgendwas Gutes dabei hat. Wie weit ist es eigentlich noch?«

Und: »Ach Mist, ich hab mein Geld vergessen, kannst du mir fünfzig Cent für die Klofrau leihen?«

Ich fühle mich mies, wenn ich an dem Tischchen der Klofrau vorbeigehe und ihrem Blick ausweichen muss, vom schlechten Gewissen geplagt, weil ich kein Geld in die Untertasse lege. Vor einer halben Ewigkeit sind wir mal von Prag nach Wien gefahren, und als wir kurz vor der österreichischen Grenze zum Pissen anhielten, hatte ich keine Münzen dabei. Die Klofrau rannte hinter mir her, hielt mich am Ärmel fest und schrie hysterisch: »Dee-Mark! Dee-Mark!!!« Ich geriet in Panik und rief flehend Mario um Hilfe: »Mario, hast du Geld dabei!« Mario saß auf dem Scheißhaus und schob mir sein Portemonnaie unter der Tür durch. Ich fand ein Zwei-Mark-Stück darin und gab es der keifenden Dame, erst dann ließ sie meinen Ärmel los. Seitdem bin ich etwas traumatisiert und gebe immer was. Seit Neuestem gibt es an immer mehr Raststätten dieses Sanifair-Dingens, wo man fünfzig Cent in einen Automaten werfen muss, bevor die Schranke sich öffnet. Für die fünfzig Cent gibt es einen Gutschein, den man auf den Kopf hauen kann. Pissen für ein Hanuta. Geil. Seit Einführung dieser demütigenden Konstruktion freue ich mich jedes Mal über den Anblick einer guten alten Klofrau.

Und dann: Hunger. Er kommt zur falschen Zeit. So ist das eben, man will immer was, wenn es nichts gibt. Das ist nachts, nach dem Konzert, wenn das Catering längst weggeräumt wurde und die Imbissbuden schon geschlossen haben. Oder eben nachmittags, während der Fahrt, wenn man als Vegetarier zwischen pappigen Raststätten-Pommes und belegten Tankstellen-Brötchen entscheiden kann, beides zu happigen Preisen, beides serviert von unfreundlichen, biestigen Rastplatzangestellten. Sepp bunkert jeden Tag beim Catering Schokoriegel in seiner Tasche und bietet mir während der Fahrt welche an, aber ich kann das Scheißzeug nicht mehr sehen. Also entscheide ich mich für das Brötchen, an dem der Käse dunkelgelb und steinhart raushängt. Es ist eiskalt und schmeckt nach gar nichts. Genausogut könnte ich die Plastikverpackung essen.

Die anderen stehen draußen um einen Coca-Cola-Schirm und saugen schweigend an ihren Zigaretten. Dr. Menke raucht direkt zwei nacheinander. Er ist Anhänger der Theorie, dass man im Voraus rauchen kann. Wenn er jetzt zwei hintereinander wegdampft, überlistet er damit seine Lunge und schlägt mindestens fünfzig Kilometer Fahrt mehr raus, bis sie sich wieder meldet. Wenn er weiß, dass wir in Kürze anhalten, holt er den Tabakbeutel raus und dreht schon mal vor. Während er die Erste raucht, dreht er schon die Nächste.

»Erst mal schön ’nen Böller aufn Zahn rollen!«, raunt er leise, und ich weiß, dass er gerade sehr glücklich ist.

Mit gehörigem Mauldampf wachst du in der Transe auf, eurem eigenen Bandbus, ein zwanzig Jahre alter Ford Transit, der fünfzehn Liter Super mit Bleizusatz schluckt und euer ganzer Stolz ist. Werner liegt neben dir. Ihr wart in der Nacht vorher auf einer Bootsparty, mit der eine befreundete Band ihren neuen Tonträger feierte. Eine schöne Fete. Zweihundert Gäste sind in schicker Abendgarderobe erschienen, das Boot tuckerte ein paar Stunden den Rhein entlang, und es gab einiges zu trinken. Nachher spielte die Band auf dem Boot, und als die ersten Töne ihres derben Hardcoregebretters erklangen, fing eine Bedienstete am Tresen vor Schreck an zu weinen.

Auch ihr seid mit einer stattlichen Anzahl an Leuten angereist. Die meisten nahmen heute Morgen den ersten Zug zurück in die Heimat. Werner und du hattet den Kanal allerdings noch nicht voll und begabt euch auf eine Kneipentour. Irgendwer muss ja schließlich auch die Transe nach Hause fahren, also seid ihr dageblieben und spät nachts zum Bulli gewankt. Im Kofferraum gibt es immer einen großen Vorrat an Schlafsäcken und Decken, die so gammelig sind, dass niemand sie nach einer Tour mit nach Hause nehmen will. Es ist also gar nicht so ungemütlich da hinten.

Es muss gegen Mittag sein. An eurem Parkplatz am Straßenrand rauscht der Verkehr vorbei. Du kannst nicht mehr schlafen. Unterm Rücksitz findest du eine Flasche Cola ohne Kohlensäure, egal, besser als nichts, und sitzt eine Weile da, beschäftigt mit dem Versuch, die letzte Nacht zu rekapitulieren, bis du schließlich Werner aufweckst.

»Ey Alter, wach auf, ich kann nicht mehr pennen!«

»Wass los …?«, murmelt Werner.

»Ich kann nicht mehr pennen. Ist schon zwölf durch, lass uns abhauen hier!«

Nach kurzer Aufweckphase ist Werner zwar prinzipiell einverstanden, sagt aber, dass er noch total besoffen sei und auf keinen Fall fahren könne. Du bist dir deines restalkoholisierten Zustandes durchaus bewusst, aber ein ungeduldiger Typ.

»Na gut, dann fahr ich.«

»Meinst du, dass das so ’ne gute Idee ist?«, fragt Werner. Aber du sitzt schon am Steuer und spulst dein Lieblingsmixtape zurecht. »Little Light« von Jets to Brazil läuft. »Flip the tape, hit rewind …«

Es geschieht hundertfünfzig Meter weiter an einer Kreuzung. Vor dem Verkehrsschild steht ein Baum, sodass du zu spät entdeckst, dass es rechts Richtung Autobahn geht. Die Ampel ist rot, du wirfst einen Blick in den Rückspiegel. Hinter dir scheint niemand zu sein, also setzt du zurück auf die Rechtsabbiegerspur. Du hast nur den Golf übersehen, der dort steht. Toter Winkel, weißt du noch?

Blake Schwarzenbach singt gerade die Zeile »… it’s my turn to drive«, als deine Stossstange krachend auf dem Kotflügel des Golf zum Stoppen kommt. Kein großer Schaden, war ja nur Schrittgeschwindigkeit. Aber als du aussteigst, um den Schaden zu begutachten, hat der Fahrer schon sein Mobiltelefon am Ohr.

»Kein Problem!«, sagt er, »die Polizei ist gleich da!«

»Äh, können wir das nicht auch ohne regeln«, stammelst du, »ich äh, ich habe nämlich getrunken.«

Du wirst dich noch lange fragen, was dich zu dieser Aussage bewogen hat. Vielleicht erschien dir kompromisslose Ehrlichkeit angesichts deiner desaströsen Lage als letzte Möglichkeit, das drohende Unheil abzuwenden. Der Fahrer allerdings setzt sich sofort wieder in seinen Wagen, kurbelt das Fenster hoch und verriegelt die Tür. Du hast gerade Werner losgeschickt, um dir irgendwo Kaugummis zu besorgen – »Oder irgendwas anderes für den Atem!« –, da biegt auch schon der Streifenwagen um die Ecke. Die Polizistin stellt dir eine Frage zum Tathergang, und als du antwortest, rümpft sie die Nase und holt sogleich den Alkometer. Du pustest so sanft wie möglich in das Röhrchen. Es nützt nichts. Sie will dir das Ergebnis nicht mitteilen, hebt aber erstaunt die Augenbrauen und sagt, dass du zum Bluttest mit auf die Wache kommen musst. Wieder einmal.

Ihr sollt im Streifenwagen mitfahren, aber weil die Transe noch halb auf der Straße steht, muss sie weggefahren werden. Zu diesem Zweck wird auch Werner gebeten, einmal zu pusten, und anders als dir wird ihm das Ergebnis sofort mitgeteilt: 0,0 Promille. Du kannst es nicht fassen – erst Benja, jetzt Werner, dazu die dutzenden Geschichten von Bekannten, die volltrunken pusten mussten und anschließend weiterfahren durften – funktionieren diese Dinger denn nur bei dir? Werner erzählt dir später, dass er noch nie so breit am Steuer gesessen hat. Trotzdem schafft er es, den Bulli ohne Auffälligkeiten auf einen nahen Parkplatz zu bugsieren.

Die Prozedur auf der Wache ist dir bereits bekannt.

Du kommst dir vor wie ein alter Hase, ein Ex-Knacki, ein Profiverbrecher. Dein Führerschein wird dabehalten, nach der Blutabnahme könnt ihr gehen. Das heißt, zum Auto gehen, wo ihr eine Weile warten müsst, bis Werner sich nüchtern genug zum Fahren fühlt.

Ungeduldig wartest du in den folgenden Tagen auf das Ergebnis des Bluttests. Mehrmals rufst du bei der Polizeiwache an, bekommst aber nie eine eindeutige Aussage. Nach mehr als einer Woche erreichst du schließlich den zuständigen Beamten.

»0,6 Promille, da haben Sie gerade nochmal Glück gehabt! Der Führerschein ist schon in der Post, unterwegs zu Ihnen!«, bellt er dir freundlich ins Ohr. Du verstehst die Welt nicht mehr. Die Kombination Unfall-unter-Alkoholeinfluss / Immer-noch-Probezeit / Schon-mal-mit-Alkohol-aufgefallen ist doch eigentlich eindeutig: Der Lappen muss mal wieder abgegeben werden.

»Aber das verstehe ich nicht!«, flüsterst du, doch du hast Glück, der Polizist ist offensichtlich in Eile und geht nicht weiter darauf ein. So kommt es, dass du einerseits den Führerschein zurückgeschickt bekommst und somit weiterhin Auto fahren kannst, andererseits aber zu einer saftigen Geldbuße und einer MPU verdonnert wirst.

Die Tourneeleitung kommt vom Bezahlen zurück und ruft: »Dienstbesprechung!«

Fast jeden Tag gibt es kurz vor der Ankunft eine Besprechung, in Businesssprache: ein Briefing, damit zumindest theoretisch jeder auf dem gleichen Wissensstand ist und niemand sich beschweren kann, dass ihm Informationen vorenthalten würden.

»Wenn wir ankommen: sofort ausladen. Der Club ist in einer Fußgängerzone, wir packen die Backline raus und fahren gleich darauf den Bus weg. Nehmt auch eure Taschen mit, der Pennplatz ist um die Ecke. Zwei Viererzimmer, einmal Raucher, einmal Nichtraucher. Ich geh ins Nichtraucher. Verpedert wird woanders. Dann Soundcheck bis um sieben, danach Essen. Zocken ist um zehn, Curfew um zwölf. Nach dem Konzert ist angeblich noch Indie-Disco.«

»Yeah, Disco!«, ruft Kowalski und fängt an, den Moonwalk zu tanzen. Der Rest der Band applaudiert.

»Ey, Punkt neun!«, brüllt die Tourneeleitung. »Ich hab noch zwei Interviews, eins macht Mario, für das andere brauche ich noch ’nen Freiwilligen.«

»Was mache ich?«, fragt Mario.

»Ein Interview. Dieses Radioding, haben wir gestern drüber geredet.«

»Aha, wirklich? Wie heißt das Radio?«

»Radio Schieß-mich-tot, was weiß ich. Die Interviewerin heißt Sonja Hufschmied. Klang nett am Telefon. Ist um halb acht.«

»Okay.«

»Das andere ist um neun.«

»Da muss ich anfangen, mich warmzusingem!«, sage ich erleichtert.

Ich habe nichts gegen Interviews, im Gegenteil, ich begrüße es, dass Menschen an unserer Band interessiert sind und versuche immer, mir viel Mühe dabei zu geben. Aber ich habe im Vorfeld der Tour schon sauviele Interviews gegeben und bin froh, wenn ich als Sänger mich auch mal drücken kann.

»Okay. Also Kowalski und Werner.«

»Also, ich sag eh nix«, nuschelt Kowalski kaum hörbar in seinen Dreitagebart. Er hat diesen Spruch schon so oft gebracht, dass wir wissen, was er gesagt hat, auch ohne ihn akustisch verstanden zu haben.

Werner verdreht die Augen und sagt: »Jaja, ich mach das sowieso lieber alleine.«

»Also Werner. Das wars. Sonst noch Fragen?«

»Haben die einen Raum zum Warmsingen?«

»Weiß ich noch nicht.«

»Spielt die andere Band über unsere Backline?«

»Keine Ahnung.«

»Wo ist der nächste Massagesalon?«

»Es ist nicht meine Aufgabe, das zu wissen.«

»Weißt du überhaupt irgendwas?«

»Leck mich am Arsch. Weiterfahren!«

Wir trotten zum Bus und fahren weiter.

MPU, das heißt »Medizinisch-Psychologische Untersuchung«, eine Untersuchung, die beim TÜV durchgeführt wird und besser unter dem Begriff »Idiotentest« bekannt ist. Der Idiotentest muss vom Teilnehmer selbst bezahlt werden, er kostet über tausend Mark und genießt keinen guten Ruf. »Da fallen fast alle durch«, hört man immer wieder, »beinahe unmöglich, den zu schaffen!«

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