Kitabı oku: «Dattans Erbe», sayfa 3
Von Januar 1919 bis Januar 1920
Bornecker schaute mich noch immer prüfend an. Ich kam mir vor, wie ein rettender Prinz im Märchen. Einer, der den Drachen in der Höhle besiegen musste, um die Prinzessin zu retten. Einer, der nur dann Zutritt zur Drachenhöhle erhielt, nachdem er die alles entscheidende Frage richtig beantwortet hatte.
Aber ich hatte keine Ahnung. Was sollte ich sagen? Was ich las, war belanglos. Es war banal. Ich schaute noch einmal auf die fünf Zeilen und dann ging mir ein Licht auf. Aber natürlich … Ich hatte gelesen, dass Adolph Dattan bereits im Januar 1915 verbannt worden war. Das war es, vor mir lag das Deckblatt vom vierten Teil. Es musste noch mindestens drei weitere Teile geben.
„Sie suchen Teil 1, 2 und 3, Herr Bornecker. Habe ich recht? Und ich soll sie Ihnen beschaffen, aus Russland, stimmt’s?“
Bornecker strahlte. Die Drachenhöhle öffnete sich und die Rettung der Prinzessin konnte beginnen.
Danach ging alles ganz schnell. Wir beredeten ein paar organisatorische Dinge und verabredeten ein nächstes Treffen. Als wir das Café verließen, wurde Siegfried Bornecker plötzlich wieder ernst.
„Wissen Sie Frau Stehr, Sie haben zwar gesagt, dass ich fit und jung aussehe. Das war sehr charmant, aber man weiß nie, was passiert. Im Oktober haben wir unser Familientreffen. Alle zwei Jahre kommen die Dattan-Erben zusammen, es ist mittlerweile ein Großereignis. Ich würde gern bis dahin die Sammlung abschließen. Und ich möchte gern eine Chronik der Unternehmensgeschichte in Auftrag geben.
Wissen Sie, das Jahr 2014 ist ein besonderes Jahr. Vor 150 Jahren begann alles, dort im wilden Osten, bei den vierundvierzig Holzhütten. Am 16. September 1864 erreichte die Meta mit der ersten Hamburger Warenladung den Hafen von Wladiwostok. Ich möchte ein Buch schreiben, aber dazu brauche ich Sie. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, glauben Sie mir, Anna.“
Was sollte ich dazu sagen? Ich wusste nicht, ob ich diesen Erwartungen je gerecht werden könnte. Was wäre, wenn ich nichts finden würde? Die Enttäuschung wäre größer denn je. Ich dachte plötzlich wieder an die Annonce: Bei zufriedenstellenden Rechercheergebnissen erwartet den Bewerber eine überdurchschnittliche Bezahlung. So ein Quatsch – zufriedenstellende Rechercheergebnisse … Was wäre zufriedenstellend? Nur das Tagebuch. Was wäre, wenn ich nichts oder etwas ganz anderes entdecken würde? Kein ernst zu nehmender Forscher konnte das Ergebnis vorhersehen. Kein seriöser Wissenschaftler konnte sich auf so etwas einlassen. Ich war Historikerin, kein Detektiv. Ich musste die Reißleine ziehen, auch wenn ich ihm gern geholfen hätte, auch wenn ich gern nach Russland gefahren wäre. Die Erwartungen waren einfach zu hoch.
„Es tut mir schrecklich leid, Herr Bornecker, aber es geht doch nicht. Ich kann den Auftrag nicht annehmen.“
Siegfried Bornecker sah mich entsetzt an. Es war, als ob ich ihm ins Gesicht geschlagen hätte.
„Ich kann Ihnen das nicht versprechen. Das Tagebuch kann überall sein, wenn es überhaupt noch existiert. Wer weiß, ob es nicht zerstört wurde, ob es überhaupt in Russland liegt. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich es finde, ist winzig klein. Vielleicht entdecke ich stattdessen Dinge, die nicht in Ihr Bild passen, von denen Sie lieber nichts wissen wollen. Vielleicht ist es besser, sich mit den Lücken abzufinden.“
Plötzlich lachte Bornecker. Ich wusste nicht, was es da zu Lachen gab, denn ich hatte ihm gerade eine Abfuhr erteilt.
„Ich habe Sie richtig eingeschätzt, Anna. Ich wusste, dass Sie das sagen würden, ich wusste, dass Sie zweifeln würden, weil Sie die Sache ernst nehmen. Das beruhigt mich. Und trotzdem. Wenn ich suche, ist die Chance noch unvergleichlich viel kleiner. Sie fahren, Anna Stehr. Ich weiß, Sie sind die Richtige. Wenn jemand etwas findet, dann Sie. Den Test mit dem Deckblatt habe ich mit drei Historikern gemacht. Mit drei renommierten Historikern, wohlgemerkt. Der Erste hat minutenlang das Papier studiert und aus der Analyse der Fasern das Alter des Blattes geschlussfolgert. Der Zweite hat mir einen Vortrag über die Schrifttype der verwendeten Schreibmaschine gehalten und die Vorzüge der Erika Nr. 1, der ersten deutschen Reiseschreibmaschine, gepriesen. Und wissen Sie, was der Dritte gesagt hat? Dass der Narymer Kreis nach der Gebietsreform von 1918 genau genommen gar nicht mehr im Gouvernement Tomsk lag, sondern knapp hinter der Grenzlinie. Ich kann das alles nicht beurteilen Anna, aber auf das Naheliegende ist keiner dieser drei Experten gekommen, weil sie zu spezialisiert sind – Gefangene in ihrem Elfenbeinturm der Wissenschaft. Sie sind anders, Anna. Sie wissen auch viel, aber Sie sind trotzdem normal und haben einen klaren Blick. Sie denken logisch und trotzdem haben Sie sich die Neugier eines Kindes bewahrt. Ich weiß, das klingt schrecklich naiv und kitschig, aber es ist so. Und deshalb werden Sie fahren, Anna. Wenn Sie nichts finden, bin ich der Letzte, der damit nicht leben kann. Sie werden natürlich trotzdem angemessen bezahlt. Vergessen Sie die Annonce, das war wirklich Unsinn, was ich da geschrieben habe. Aber ich habe noch nie eine Anzeige aufgegeben und ich wollte, dass das jemand findet. Jemand wie Sie. Schlagen Sie ein, Anna!“
Bornecker hielt mir seine Hand hin. Ich wusste nicht, ob ich gerade einen Pakt mit dem Teufel schloss, irgendetwas warnte mich, aber plötzlich war meine Hand in seiner. Ursula freute sich wie ein Kind und umschloss herzlich unsere beiden Hände. Der historische Händedruck, dachte ich kurz …
Dann fuhren wir zum alten Familiensitz, den die Erben unlängst veräußert hatten. Eine riesige Villa, direkt an der historischen Stadtmauer. Im Nachhinein bereute ich es, nicht mit ins Haus gegangen zu sein.
Ursula und Siegfried hatten es mir angeboten. Aber ich hatte abgelehnt, weil sie einen Termin mit der neuen Besitzerin hatten. Da wollte ich nicht stören. Jetzt war mir klar, dass ich nie mehr so einfach in diese Villa kommen würde.
Versal & Flober
Die Fahrt in die Stadt mit dem Aeroexpress dauerte eine Dreiviertelstunde. Der Flughafen lag weit draußen. Wir fuhren am Meer entlang, durch kleine Dörfer. Alles schien wie vor zwanzig Jahren. Dann aber kamen die ersten Vorortsiedlungen – neu gebaute Häuser, darunter kitschige Villen und protzige Anwesen. Ein Sammelsurium verschiedenster Stile. Neureiche Hässlichkeit. Dann durchfuhren wir die obligatorischen Neubauviertel. Da war sie, die alt bekannte Sowjettristesse, gut konserviert. Schließlich erreichten wir das Zentrum. Der Bahnhof lag direkt oberhalb des Hafens. Von Weitem waren Verladekräne und Frachter zu sehen und schrille Lautsprecherdurchsagen zu hören. Offenbar koordinierten sie das Be- und Entladen. Auf Anhieb mochte ich die Nähe zum Meer und diese Geschäftigkeit. Es war eine spröde Schönheit. Nichts, das mit einem verwinkelten Küstenort an der Amalfi-Küste zu vergleichen war. Das, was da unten vor mir lag, war kein Touristenmeer. Ich sah riesige Containerschiffe. Hier löschte man Ladung, belud aufs Neue. Frachter wurden betankt und gewartet. Container auf Züge geladen. Ich dachte, dass die Gleise da unten nicht irgendwelche Gleise waren. Dort, am Hafen, endete die Transsibirische Eisenbahn nach knapp 10 000 Kilometern Strecke. Die Züge, die von hier auf die Reise gingen, hätten einen weiten Weg vor sich. Aber warum ans Wegfahren denken, ich war ja gerade erst angekommen. Ab ins Hotel, dachte ich. Gut, dass ich mir eine kleine Wegbeschreibung ausgedruckt hatte, denn weder auf dem Flughafen noch auf dem Bahnhof war ein Stadtplan zu bekommen. Zumindest das hatte sich nicht geändert. Das Hotel war nicht weit weg. Siegfried Bornecker hatte darauf bestanden, mich die ersten Nächte im Stadtzentrum unterzubringen. Aber nicht irgendwo. Nein, es sollte das Versal sein, wo er mich „mit allem Komfort und ein bisschen so wie früher“ einquartieren wollte.
„Wenn Sie erst einmal dort sind, Anna, können Sie unterkommen, wo es Ihnen beliebt. Machen Sie mit Ihren Spesen, was Sie wollen, aber ich möchte, dass Sie, wenn Sie ankommen, zumindest ein einziges Mal den Geist der alten Zeit atmen, auch wenn die Konkurrenz damals dort saß.“
Die Konkurrenz … Tschurin & Co. hatten damals ein Konditorgeschäft dort. Ich holte meinen Google-Plan aus der Tasche. Der Weg war einfach: einmal nach rechts, dann an der nächsten großen Kreuzung links. Ich musste zur Swetlanskaja Ulitza, damals wie heute eine Prachtstraße und gleichzeitig die Hauptschlagader der Stadt. Vom Bahnhof waren es zehn Minuten, höchstens eine Viertelstunde.
Als ich in das Hotel eintrat, wusste ich, was Bornecker gemeint hatte. Mich empfing ein Vestibül mit verschnörkelten, goldverzierten Stuckdecken, von denen ausladende Kronleuchter herabhingen. Die Säulen und Rundbögen an der Seite gaben dem Raum eine herrschaftliche Atmosphäre. An den Fenstern hingen edle Brokatvorhänge. Der Marmorboden spiegelte fast besorgniserregend. Ich ging zur Rezeption und erst da verstand ich, was der Name des Hotels eigentlich bedeutete. Ich kam darauf, als ich auf meinen Pass wartend, den Namen des Hotel-Cafés las: Flober. Komisch, dachte ich, was für ein ulkiger Name, klingt überhaupt nicht russisch. An der Wand hing ein Plakat, das für eine Lesung im Café warb. Das Flober schien ein Literaturcafé zu sein. Auf dem Tresen pries ein Schild Leckereien der hauseigenen französischen Patisserie an. Und plötzlich machte es Klick. Ich las noch einmal und musste lachen. Ich war im Hotel Versailles und das Café war das Flaubert. Das fing ja gut an. So eine Verballhornung … Versal & Flober.
Die Dame an der Rezeption versprühte den Charme einer Dezhurnaja aus fernen Sowjetzeiten. Damals saßen sie nicht nur an der Rezeption, sondern im Aufgang jeder Hoteletage. Rund um die Uhr hielten sie Wache, sorgten angeblich für den Gast, aber eigentlich für Ruhe und Ordnung. Doch der über Jahrzehnte in Fleisch und Blut übergegangene Kommandoton, der bei der ersten Begrüßung noch durchschimmerte, schien auf eigenartige Weise abgeschliffen. Offenbar hatte Marina – ein Schild neben dem Patisserie-Hinweis verriet mir ihren Namen – einen Kurs in „Wie begrüße ich Hotelgäste freundlich?“ absolviert. Sie mühte sich redlich. Schon wieder musste ich lachen.
Mein Zimmer war nicht halb so glamourös wie die Lobby, aber egal, ich hatte ein Dach über dem Kopf und konnte den schweren Rucksack abwerfen. Endlich duschen. Nach dem langen Flug war das dringend nötig.
Als Allererstes wollte ich das Kaufhaus sehen, schließlich das Ziel meiner Reise. Kunst & Albers, das erste Haus am Platze, lag natürlich auch auf der Swetlanskaja. Ich hatte es also nicht weit. Das Kaufhaus war immer noch Kaufhaus, schon von Weitem sah ich die Leute hineinströmen und mit Einkaufstaschen bepackt hinauskommen. Es war komisch. Für mich war es ein mythisch aufgeladener Ort. Bornecker hatte so viel darüber erzählt, ich hatte Unmengen dazu gelesen. Für mich war es viel mehr als einfach nur ein Kaufhaus. Davor stehend fragte ich mich, ob die Passanten eine Ahnung davon hatten, was hier vor über hundert Jahren passiert war. So ein Quatsch, dachte ich.
Eigentlich war schon der erste Blick von außen ernüchternd. Ich weiß selbst nicht, was ich erwartet hatte. Vielleicht lag es daran, dass vieles von dem, was ich gelesen hatte, die Anfangszeit beschrieb. Damals war das stattliche Gebäude das einzige Bauwerk aus Stein und Eisen weit und breit. Die Baumaterialien hatte man extra aus Hamburg per Schiff herangeschafft. Das Kaufhaus thronte wie ein Monolith über der Innenstadt. Ringsherum gab es nur Holzhütten, die Straße war nicht einmal befestigt. Heute sah alles anders aus. Kunst & Albers, das seit der Verstaatlichung unter dem Namen GUM firmierte, war komplett umbaut. GUM war die Abkürzung für „Staatliches Kaufhaus“. Es markierte in jeder sowjetischen Stadt den zentralen Einkaufspunkt. Das berühmteste stand in Moskau, direkt am Roten Platz.
Als ich ins Innere trat, dachte ich, dass der Einkaufstempel zwar immer noch GUM hieß, es aber kein Kaufhaus mehr war, ein staatliches schon gar nicht. Ich bemerkte, dass von den großzügigen Hallen kaum noch etwas geblieben war. Der einstige Glanz war verschwunden. Offenbar hatte man das Gebäude an verschiedene Händler verpachtet und die Mietfläche dementsprechend aufgeteilt. Dafür hatte man umbauen müssen. Was ich sah, war übel: ein Kiosk neben dem anderen, Miniboutiquen, winzige Läden – abgehangene Decken, dazwischen Rigips-Wände. Die prächtigen Räume mit den edlen Holzvertäfelungen, den Regaleinbauten, den Säulen und Stuckverzierungen gab es nicht mehr. Geblieben war nur noch die Hülle. Nur zwei Relikte konnte ich ausmachen: einen Raum im Erdgeschoss mit den schönen Hamburger Mosaikfliesen, mit denen die Fußböden kunstvoll ausgelegt waren, und zwei gusseiserne Heizkörper in einer Nische im Eingangsbereich. Wahrscheinlich hatte man beides bei den Renovierungsarbeiten übersehen. Nur deshalb hatten sie als Überbleibsel einer längst vergangenen Ära überlebt.
Ich ging schnell raus, wollte ich mir nicht gleich den ersten Tag verderben. Der Nebel über der Bucht war verschwunden, herrlichster Sonnenschein empfing mich. Auch wenn ich todmüde war, weil der Jetlag an mir zehrte, wollte ich noch ans Meer. Ich schlenderte die Flaniermeile hinunter zur Strandpromenade und setzte mich ans Ufer. Ja, hier konnte man es aushalten. Die Stimmung war viel entspannter als in Moskau, die Menschen saßen auf Bänken, aßen Eis und flanierten, statt mit Tunnelblick und ausgestreckten Ellenbogen aneinander vorbeizuhetzen. Festpavillons an der Promenade kündigten ein Filmfestival in den nächsten Tagen an.
Ich musste an Zuhause denken. Martin und Paul waren nicht sonderlich begeistert von dieser Reise. Verübeln konnte ich es ihnen nicht, war ich doch erst vor einem Jahr völlig überstürzt auf eine schottische Insel aufgebrochen und drei Monate dort geblieben. Martin beobachtete diese Rastlosigkeit mit Sorge. Doch eigentlich gab es keinen Grund dazu, denn genau genommen war die Tour hierher ein ganz normaler Job und alles war wohlgeordnet. Außerdem wusste er nur zu gut, dass es überhaupt keinen Sinn hatte, mir Dinge auszureden, weil ich es dann erst recht machen würde. Manchmal tat er mir leid. Andererseits … er selbst arbeitete zwölf Stunden am Tag, hatte nie Zeit. Was sollte er sich also aufregen? Vielleicht würde ich nicht lange bleiben, wer weiß, was mich hier erwartete. Dieses Tagebuch konnte sonst wo liegen. Eigentlich war es wahrscheinlicher, dass ich es in Kolpaschewo oder in Tomsk finden würde. Dort, wo sich Dattan während seiner Verbannung aufgehalten hatte. Warum also ausgerechnet Wladiwostok? Warum hätte er es hier lassen sollen? Wenn er die Aufzeichnungen auf dem langen und beschwerlichen Weg von Kolpaschewo bis Wladiwostok mitgenommen hatte, warum sollte er dann nur einen Teil der Unterlagen mit in seine Heimat, nach Naumburg, genommen und einen Teil hier zurückgelassen haben? Das war vollkommen unlogisch. Mittlerweile war ich der Ansicht, dass die Suche in Deutschland oder bei den Angehörigen, die nunmehr über die ganze Welt verstreut lebten, viel sinnvoller wäre. Es war grotesk, denn ursprünglich war ich diejenige, die unbedingt hierher wollte. Aber irgendwann war ich von der Suche nach dem Tagebuch so eingenommen, dass ich jede Fährte verfolgte, egal, wohin sie führte. Mein herbeigesehntes Russlandabenteuer geriet dabei fast ins Hintertreffen. Doch Bornecker mochte nicht auf mich hören, er wollte unbedingt, dass ich dort begann, wo auch damals alles begonnen hatte. Er bestand darauf, weil er felsenfest daran glaubte, dass die Suche nach der Nadel im Heuhaufen nur dann gelänge, wenn allem Anfang ein besonderer Zauber innewohne. Und dieser Zauber konnte sich nur am authentischen Ort entfalten. Ich tat ihm den Gefallen. Schließlich war ich diejenige, die unbedingt nach Russland wollte, für die die Recherche anfangs nur willkommener Anlass war. Bornecker war es, der dieses Abenteuer bezahlte. Außerdem war er jemand, dem man nichts abschlagen konnte. Jetzt fand ich, dass er richtig gelegen hatte. Ich war froh, diesen weiten Weg auf mich genommen zu haben.
Im Archiv des Fernen Ostens
Am nächsten Tag ging ich ins Archiv. Es befand sich mitten im Zentrum, nur ein paar Minuten zu Fuß. Zu Hause hatte ich mir über meine Kontakte zu verschiedenen Dozenten ein paar Empfehlungsschreiben ausstellen lassen. Ohne ein amtliches Schreiben ging in Russland nichts. Stempel waren wichtig. Und ich hatte meinen Besuch und den Grund meiner Recherche angekündigt. Natürlich hatte ich das Tagebuch nicht erwähnt. In Russland erwähnte man das, was man wollte, besser nie sofort und nie direkt. Man umkreiste die Dinge behutsam.
Der Wachhabende am Eingang kontrollierte meinen Pass, notierte sich die Daten und schickte mich direkt in den Lesesaal. Meine Sachen sollte ich einschließen. Im Lesesaal begrüßte mich eine hagere Dame um die fünfzig. Auch dort der obligatorische Eintrag ins Besucherbuch und die Frage nach dem Empfehlungsschreiben, das mich berechtigte, dort zu recherchieren. Ich wusste es. Auf meine erste Anfrage hin hatte man mir mitgeteilt, dass ich nichts dergleichen bräuchte und einfach so kommen könne. Ich wollte mich darauf nicht verlassen, weil ich wusste, dass in Russland Stempel verehrt, gefürchtet und geliebt wurden. Wer einen Stempel hatte, hatte das Sagen, wer etwas Gestempeltes vorzeigen konnte, hatte recht. Eine Unternehmung war erst dann von Bedeutung, wenn sie durch ein Schreiben unterfüttert war. Je gewichtiger der Absender, umso bedeutungsvoller das Vorhaben. Ich war froh, meinen Erfahrungen vertraut zu haben.
Nachdem ich eine Reihe von Papieren ausgefüllt hatte, wurden mir sogleich die ersten Akten gebracht. Sie hatten das aufgrund meiner E-Mail-Anfrage schon vorbereitet. So etwas hatte ich in Moskau nie erlebt. Dort musste man grundsätzlich erst einmal zwei Tage warten.
Das war es also, das Archiv des Fernen Ostens. Es hörte sich groß an. Groß und sagenumwoben. Was ich sah, war alles andere als das. Der Lesesaal war unwesentlich viel größer als unser Wohnzimmer. Dennoch beherbergte er sechzehn kleine Arbeitstische, in vier Reihen aufgestellt. Auf der rechten Seite des Raumes gab es ein paar Computerarbeitsplätze und in der Ecke stand der Schreibtisch von Ljudmila Petrowna. Ich setzte mich in die zweite Reihe. Ein bisschen fühlte ich mich wie in der Schule. Vielleicht lag es auch am strengen Blick der Aktenverwalterin. Aber immerhin saß sie mit uns in einem Raum, war Teil des Ganzen. In Moskau bekam man seine Akten aus einer Luke herausgereicht. Der Lesesaal war durch eine Wand von den Akten und den Archivmitarbeitern getrennt. Nur das unscheinbare Fenster bildete die Verbindung zu den dahinter befindlichen Aktenregalen. Doch der Aktenbereich war tiefer gelegen, weil er offenbar zu einem anderen Gebäudeteil gehörte. Jeder, der etwas bestellen wollte oder eine Frage an die Archivare hatte, musste sich in Bückhaltung begeben, weil die Mitarbeiter wegen des Höhenunterschiedes ansonsten nur die Bäuche der Archivnutzer gesehen hätten. Man hätte in die Hocke gehen können, weil die Ausgabeluke ohnehin niedrig war. Doch um etwas Würde zu behalten und dies zu vermeiden, hing man schräg oder kopfüber. Ich hatte es gehasst damals, weil die Archivare ohnehin in einer Machtposition waren und diese nun auch noch mit der körperlichen Erniedrigung der Nutzer Tag für Tag feierten. Und ich hatte eine Theorie aufgestellt: Je wichtiger die Angelegenheit war und je weiter man in den Osten kam, umso niedriger und kleiner wurden die Fenster. In Zentralasien gab es auf Bahnhöfen winzige vergitterte Fahrkartenverkaufsfenster, vor denen Menschentrauben hingen. Hier war ich nun am östlichsten Ende angekommen. Nach meiner Theorie hätte ich am Boden liegend mit der Lupe das Fenster suchen müssen, aber nichts dergleichen. Es gab kein Fenster, nicht einmal eine Trennwand. Man begegnete sich auf Augenhöhe, auch wenn vor Ljudmilas Augen eine großformatige Brille saß. Es war so ein ehemaliges Sowjetmodel aus jener Zeit, als große Brillengläser noch ein Zeichen vorbildlicher Gesundheitsfürsorge waren. Das Archiv des Fernen Ostens war mir sympathisch.
Vor mir lag ein Aktenstapel und schon ein flüchtiger Blick verdarb mir die Laune. Das meiste waren handschriftlich verfasste Dokumente, zudem noch in alter Schreibweise. Irgendwelche Schriftwechsel der Stadtverwaltung. Ich bräuchte eine Ewigkeit, wenn ich das alles durchackern wollte. Deshalb entschied ich mich sofort, es gar nicht erst zu versuchen. Die nächsten Stunden verbrachte ich mit Blättern. Ab und zu fand ich mal eine Seite, die entfernt etwas mit Dattan zu tun hatte, aber alles war belanglos und brachte mich nicht weiter. Egal. Ich hatte ein paar Wochen Zeit. Morgen würde ich mir ein paar Findbücher kommen lassen, für heute war es genug.