Kitabı oku: «Im Westen gegen den Strom», sayfa 2
Sie zuckte ergeben mit den Achseln.
Sein Auto war ein hellblauer Renault vier, wie sie ewig keinen mehr gesehen hatte. Yohann hielt ihr die Beifahrertür auf, blieb selbst aber noch minutenlang ohne Schirm im Regen stehen, während er die auf der Rückbank sitzende Babou mit einem großen Tuch abrieb. Im Rückspiegel sah Lina, wie das Tier ihm brav eine Pfote nach der anderen reichte und sich dann wie ein Mensch direkt auf den Po setzte, den Rücken an die Rückenlehne gelegt, um ihrem Herrn Brust und Bauch zu präsentieren. Während er rubbelte, gab sie ihm Nasenküsse. Eine hübsche Szene, und auch beruhigend. In Paris wäre sie niemals mit dem erstbesten Fremden in die Karre gestiegen; aber etwas sagte ihr, dass das hier kein perverser Verbrecher war.
Das Einzige, was sie dann doch unangenehm fand, war der Geruch nach nassem Hund. Nur schwerlich überdeckte er noch etwas anderes: Irgendwie roch das Autoinnere - angeräuchert? Aber zum Glück war die Fahrt ins Dorf überraschend kurz. Der Renault vier kurvte schwungvoll ein enges Landsträßchen hoch, dann kam schon nach wenigen Minuten ein Ortsschild, Saint-Hernin, und die Landstraße mündete in eine Kreuzung. Yohann wollte eben fragen, wo sie nun hinmüssten, als Lina überrascht ausrief: »Ich glaube, das ist es schon. Genau vor uns. «
»Welches, das Linke der drei? Dann ist Jeanne Ihre Vermieterin?«, begriff Yohann.
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Pierre hat sich um alles gekümmert. Ich weiß nur, wie viel, oder besser, wie wenig Miete ich zahlen soll, wochenweise. « Sie verstummte. Das war schon mehr als sie hatte preisgeben wollen. Sie wollte doch nichts über sich erzählen.
Während er parkte, erklärte Yohann munter, dass die Dorfbewohner die drei Reihenhäuschen immer nur »die drei« nannten, seitdem sie 1898 von drei Geschwistern erbaut worden waren. Jeanne sei die letzte Nachfahrin dieser Geschwister, eine sehr kleine, sehr alte Dame, die zu ihren Enkeln in den Süden gezogen sei. Das mittlere Haus gehöre inzwischen Engländern, die seit Jahren nicht mehr kämen, und das rechte einer sehr sympathischen Autorin mit Hund, die drei- bis viermal im Jahr in Saint-Hernin sei, derzeit aber nicht.
Lina deutete ein Nicken an. Das klang eher gut, fand sie. Das klang nach Ruhe. Wenn sie nur erst den Stress mit dem Reinkommen hinter sich hatte.
Sie gingen zur Haustür; da lag ihr durchnässter Rucksack - aber die Tür war nach wie vor verschlossen.
Yohann meinte, in den Augen seiner Begleiterin einen Anflug von Panik zu lesen. Ruhig fragte er: »Und oben? Haben Sie bei der oberen Tür nachgeschaut?«
Lina schüttelte den Kopf. Warum sollte die obere Tür offen sein? Aber Yohann forderte sie mit einer Geste auf voranzugehen, und so stiegen sie hintereinander die enge Holztreppe zur Tür im ersten Stock hoch. Lina drückte die Klinke - abgeschlossen, natürlich. Doch Yohann rief aus: »Hat sie sich nicht bewegt? Vielleicht klemmt sie nur bei Feuchtigkeit.« Er drängte sich an Lina vorbei, drückte seinerseits die Klinke und stemmte sich mit der Schulter gegen die Tür, die ruckartig nachgab.»Voilà«, sagte er und machte eine einladende Geste.
Verblüfft trat Lina über die Schwelle.
Ein ganz kleines Zimmerchen mit übergroßem Kamin - der war allerdings mit breiten Bohlen verschlossen. Ein schön geschnitztes Bett, ein passender Nachttisch und ein Kleiderschrank mit Spiegeltüren; ein altes Schreibpult mit Stuhl. Das war sie, die Einrichtung. »Und wie soll man hier heizen?«, fragte Lina. Sie fand es hier drinnen fast kälter als draußen.
»Unten ist noch ein Kamin; vermutlich mit eingebautem Holzofen. Die heizen sehr gut, die Wärme steigt bis hier oben. Wollen wir nachsehen?« Yohann wies auf die Treppe zum Erdgeschoss.
Vorsichtig tastete Lina sich nach unten. Wie er gesagt hatte - im Erdgeschoss nahm der Kamin fast eine ganze Wandbreite ein; ein schwarzer Holzofen stand darin. Vor dem Kamin standen eine kurze Couch und ein kleiner Sessel; ansonsten blieb in dem Zimmerchen gerade mal Platz für eine Küchenzeile an der Rückwand, der Haustür gegenüber, und für ein Esstischchen mit zwei Stühlen.
»Für Hobbits. Sagte ichs doch«, murmelte Lina für sich.
»Wie bitte?«, fragte Yohann.
»Ach, nichts. Ich habe noch nie mit Holz geheizt. Und viel Brennholz sehe ich hier auch nicht.«
»Hinter dem Haus ist ein Schuppen, da könnte noch mehr Holz zu finden sein. Soll ich Ihnen ein Feuer machen?«
Überrascht hob Lina die Brauen. »Das kriege ich schon hin«, wehrte sie dann ab; in ihren eigenen Ohren klang es zu schroff. »Und was ist in dem geheimnisvollen Kasten da, in der Ecke neben der Haustür«, setzte sie daher in gespielt heiterem Tonfall nach.
»Vermutlich der Stromzähler«, antwortete er, ohne nachzudenken - und sah plötzlich wieder das brennende Haus der Meuniers vor sich, roch den beißenden Qualm. Es fröstelte ihn; er nahm sich zusammen und ging zu dem Kasten. Der war nur mit einem Häkchen verschlossen, er öffnete es, zog die Tür auf - und da war er, der alte Zähler.
Es war so dämmrig, so merkwürdig intim in diesem winzigen Zimmer, dass Lina eine gewisse Verlegenheit verspürte und das Bedürfnis, sie mit einer belanglosen Bemerkung zu überspielen; so sagte sie: »Bei uns in Paris ist letzte Woche der Stromzähler ausgetauscht worden, gegen einen digitalen.« Prompt biss sie sich auf die Lippen. Warum sprach sie von Paris?! - Falsches Thema!
»Ach ja?«, fragte Yohann sofort, und es lag ihm auf der Zunge, nun doch von dem Vorfall in Spézet zu erzählen; aber dann riss er sich zusammen. Sicherlich wollte die Durchnässte sich aufwärmen, ausruhen und allein sein, statt mit seinen persönlichen Sorgen belästigt zu werden! Er schaltete den Strom an. »Jetzt können Sie Licht machen. Bei dem Unwetter ist es dunkel wie am Abend, nicht?«
Sie fand den Lichtschalter. Im diffusen Licht der Deckenlampe sahen sich die beiden das erste Mal richtig an, in die Augen. Seine waren hellbraun, fast caramelfarben, mit durchdringendem und doch gütigem Blick. Sie hielten einen Moment Blickkontakt, dann lösten sie ihn und jeder tat so, als würde er das Zimmer genauer betrachten.
»So, ich sollte jetzt gehen«, kündigte er an, und als sie ihn nicht aufhielt, ging er zurück in den ersten Stock. Lina sah sich noch einmal kurz um, dann folgte sie ihm.
Er hatte den Schlafzimmerschrank geöffnet und zog eine Decke hervor. »Hier. Sie sind ganz durchgefroren. - Ah, ich meine, ein Auto gehört zu haben! Waren Sie mit Pierric verabredet? Das wird er sein. Also dann - willkommen in Saint-Hernin!« Er machte eine kleine Verbeugung und verließ hastig das Zimmer.
»Danke!«, rief Lina ihm hinterher, die Treppe hinunter, wobei sie bemerkte, dass der Regen aufgehört hatte.
Unten auf dem Bürgersteig kreuzten sich die Wege der beiden Männer.
»Yohann?«, rief der Ankömmling überrascht aus.
»Salut Pierric! Ich weiß nicht, ob du schon davon gehört hast, aber heute brannte es in Spézet...«
»Ach ja?« Pierric sah zum Linken der drei und war sichtlich mit den Gedanken bei einer anderen Sache.
»Reden wir morgen darüber? Deine Freundin ist oben«, informierte Yohann lakonisch, »schönen Abend noch.«
Pierric, den Haustürschlüssel in der Hand, sah ihm nach, wie er im Auto verschwand. »Und was machst du überhaupt hier? - Der ewige Helfer, hat doch wieder zugeschlagen«, murmelte er kopfschüttelnd. Dann blickte er auf. Im Rahmen der oberen Haustür stand eine vermummte Silhouette. Er atmete auf, freute sich auf die Begegnung. Lina!
4. Ziemlich beste Freunde
»Salut! Was gibt es Neues?« Pierric trat an den Schreibtisch seines sécrétaire adjoint, seines Stellvertreters, und griff nach der Post.
Yohann blickte von seiner Arbeit auf und erklärte: »Das sind die Kostenvoranschläge von drei Unternehmen für die Gestaltung des Gartens hinter der Mairie. - Hast du einen Moment Zeit?«
»Danke. Hast du reingesehen?«
»Ich würde Le Gall nehmen. Hast du Zeit? Wir müssen über den Brand in Spézet...«
Aber Pierric fiel ihm ins Wort: »Ich weiß über die Sache Bescheid. Jetzt sehe ich mir erst einmal diese Unterlagen an.« Er verschwand im Nebenzimmer, seinem Bürgermeisterbüro.
Yohann ließ die Finger nervös über die Schreibtischplatte trommeln. Sollte er ihm folgen? Aber dann wandte er sich doch vorerst wieder seiner Arbeit zu.
Die Dorfbibliothek war seine Idee gewesen. Sie nahm einen großen Teil des kleinen Rathausvorzimmers ein, das nicht viel Platz für Bücher und Filme bot. So hatte er mit dem bretonischen Bibliotheksverband die Lösung gefunden, den kleinen Bestand alle vier Monate zur Hälfte durch Leihgaben aus anderen Bibliotheken zu ersetzen. Die nächste Leihe bereitete er eben vor. Doch war er heute nur halb bei der Sache; er hatte einen großen Teil des Morgens an Recherchen zum Linky gesessen.
Hinter der offenen Tür des Bürgermeisterbüros hörte er Papierrascheln, ein Hüsteln, dann erschien Pierric im Türrahmen und fragte: »Sag mal, wie kam es gestern zu deiner Begegnung mit Lina?«
Pierric und seine Freundinnen. Yohann zuckte mit den Achseln und antwortete: »Sie ging im Regen spazieren, ich habe sie ins Dorf zurückgefahren.«
»Ja, aber was für einen Eindruck hat sie auf dich gemacht?«
»Einen durchnässten.«
»Scherzkeks. Du weißt schon, was ich meine.«
Er hatte durchaus eine Ahnung davon, worauf sein Freund und Vorgesetzter hinaus wollte, wollte darauf jedoch nicht eingehen. Er setzte die Brille ab, die er zum Arbeiten am Rechner trug, und lehnte sich zurück. »Sie war wirklich durchnässt. Und sie wirkte orientierungslos, ein wenig verloren .«
»Hm.« Pierric steckte die Hände in die Hosentasche und lehnte sich gegen den Türrahmen. »Ich war schockiert, als ich sie sah.«
Yohann hob fragend eine Augenbraue, doch widerwillig neugierig gemacht.
Durch Pierric ging ein Ruck und er begann, gleichzeitig zu gestikulieren und zu reden: »Das war nicht Lina! Wenn du sie gesehen hättest, vor zehn Jahren, du hättest sie jetzt nicht wiedererkannt! Ich habe sie nicht wiedererkannt! Sie war damals - unglaublich!« Er rang mit den Händen. »Sie war nicht nur schön, Lina hatte eine Aura! Einen Charme - sie war so mitreißend energiegeladen; sie war kreativ, intelligent, ja, und witzig: Sie hatte so einen eigenen, scharfsinnigen Humor.«
»Wo habt ihr euch kennengelernt?«, unterbrach Yohann Pierrics Redefluss.
»Wir waren in derselben Clique, an der Sorbonne .«
Yohann verdrehte die Augen. Er kannte diese Art, in der Pierric Sorbonne sagte, wie beiläufig und doch immer betont. Er selbst hatte nicht an der Pariser Elite-Universität studiert, und Pierric erinnerte ihn hin und wieder subtil daran.
»Sie war ein paar Jahre jünger als ich«, sinnierte der jetzt, »ich schon in der Abschlussphase und sie noch am Beginn ihres Studiums; aber der Kontakt hat noch gehalten, als ich mit dem Examen fertig war .« Er verstummte und schien ganz in seinen nostalgischen Träumereien zu versinken; dann setzte er abrupt nach: »Wir waren nie zusammen.«
»Nein?«, rutschte es Yohann heraus.
»Sie war zu gut für mich - zu gut für uns alle. Und ich verstehe immer noch nicht, wie sie ihr Leben dermaßen verpfuschen konnte! Erst ist sie Sozialarbeiterin geworden, obwohl ihr Soziologieprofessor sie dazu aufgefordert hatte, an der Uni zu bleiben, Professorin zu werden - sie war sein Shooting Star, weißt du; und dann, ein paar Jahre später, hat sie diesen unsäglichen, arroganten Typ geheiratet, diesen Schwätzer und Besserwisser - er war zu alt für sie, hatte ein Kind aus erster Ehe ...«
Yohann hatte genug gehört. Er zog die Brille auf und begann zu tippen.
»Was?«, protestierte Pierric, »ich erzähle von einem tragischen Menschenschicksal und dich berührt das nicht? Hörst du mir zu?«
Er sah lächelnd auf. »Fragst du mich als Chef oder als Freund?«
Pierric stützte sich mit den Ellenbogen auf den Schreibtisch auf und sah Yohann tief in die Augen. Schöne Augen hatte Pierric, groß, tiefblau mit schwarzen Wimpern, und das wusste er. Er zwinkerte leicht, als er sagte: »Jetzt lass mal deine Feinheiten und sage mir lieber, wo ich ein Fahrzeug für sie auftreiben kann. Lina ist das Dorfleben nicht gewohnt, sie muss mal wegfahren können.«
»Aha, das hört sich gleich vernünftiger an«, lachte Yohann. »Ich werde mich umhören. - Übrigens, egal ob deine Freundin Eheprobleme oder andere Schwierigkeiten hat, sie wirkte auf mich so, als bräuchte sie Ruhe .« Er sah Pierric vielsagend an.
Der richtete sich auf und stützte die Hände in die Hüften. »Sehe ich da einen moralischen Zeigefinger, mein pragmatischer und diskreter Freund? Aber mach dir keine Sorgen. Sie hat mich seit Jahren das erste Mal kontaktiert, über Facebook, und gefragt, ob ich eine günstige Unterkunft für sie auftreiben könnte, bei uns in der tiefsten Bretagne. Das habe ich gemacht und keine Fragen gestellt. Jetzt ist sie hier, in dem Zustand . Also, ich verspreche dir, ich lasse die Finger von ihr. Sowieso, ich bin viel zu gestresst mit Nelly, um ...«
»Ich dachte, mit Nelly wäre es aus?«
»Das dachte ich auch, aber es ist kompliziert.«
»Wie immer«, murmelte Yohann.
Achselzuckend wandte Pierric sich ab und seinem Büro zu. »Irgendein Fahrzeug für Lina, ja? Das braucht sie ganz sicher«, sagte er, schon über die Schulter hinweg.
»Warte! - Wir haben noch nicht über den Brand gestern gesprochen und über ...«, begann Yohann hastig, aber Pierric sagte laut und plötzlich im Chef-Tonfall: »Später! Ich habe doch gesagt, ich weiß über den Brand Bescheid, ich habe längst mit meinem Kollegen Leroux telefoniert! Und jetzt habe ich weitere wichtige Telefonate zu erledigen, die ich auf keinen Fall bis nach Ostern verschieben kann«, und er zog die Tür hinter sich zu.
Yohann sah die geschlossene Tür vorwurfsvoll an. Dann murmelte er für sich: »Nein, Pierric, ich denke nicht, dass du über alles Bescheid weist. Aber gut; wer nicht hören will, lässt die anderen machen. Dann kümmere ich mich eben darum. Ist ja nicht das erste Mal. Und um ein Fahrzeug für diese Lina ...« Er sah sie vor sich, grazil und zerbrechlich in ihrer zu weiten Kleidung, ihren ausdrucksstarken dunklen Blick. Dieses ganze Gefasel eben von ihrer einstigen Schönheit - Pierric war blind, um nicht die weit anrührendere, innere Schönheit seiner geheimnisvollen Freundin zu sehen. Sie wirkte nur, ja, gefangen in sich; wie geknebelt durch etwas - Trauer? Wut? Und dann, ihre abrupten Stimmungsschwankungen . Sie wirkte angegriffen, ziemlich labil. Was hatte sie wohl durchgemacht?
Er schüttelte den Kopf, fuhr sich durch das Haar und machte sich wieder an die Arbeit. Das alles ging ihn im Grunde nichts an.
5. Auf dem Mond
Um zwölf Uhr verließ Yohann die Mairie; am Nachmittag würde Lucie, die Sekretärin, ihn ablösen. Pierric war schon vor ihm in die Mittagspause gegangen, er hatte noch Unterricht am Lycée Paul Sérusier in Carhaix. Er hatte sich heftig darüber aufgeregt, dass die Schüler am Karfreitag sowieso keine Lust mehr auf Schule hätten; und wenn Pierric sich aufregte ... Schmunzelnd bei dem Gedanken an die kleine Abschiedsszene schlenderte Yohann die Hauptstraße herunter. Er pflegte jeden Mittag seine Baguette in Elaines Laden zu holen. In Saint-Hernin gab es keine Bäckerei, aber die kleine Épicerie diente als Brot-Depot. So konnte man ziemlich sicher sein, vor einer der drei Mahlzeiten jemand anderem aus dem Dorf beim Brotkauf zu begegnen.
»Ah, da kommt er«, sagte im Ladeninneren Elaine, die Yohann durch das Schaufenster hindurch erspäht hatte.
Lina sah ihn auch. Sie tauschte mit der alten Dame, die ihr vorhin stolz unterbreitet hatte, seit sechsundfünfzig Jahren die Épicerie zu führen, einen verschwörerischen Blick; noch eben hatten sie über ihn gesprochen. Das Glöckchen an der Tür klingelte; Yohann sah Lina, blieb verblüfft stehen, lächelte, ging aber nicht auf sie zu, sondern zu den Brotregalen.
»Sehen Sie? Er ist schüchtern, wie ich gesagt habe«, flüsterte Elaine.
Lina sah zu Boden. Sie wollte nicht, dass Yohann mitbekam, dass sie über ihn tuschelten.
Nun kam er und machte eine kleine, höfliche Verbeugung. »Guten Tag«, grüßte er, »haben Sie gut schlafen können in der ungewohnten Umgebung?«
»So ist er, immer besorgt um die anderen«, nickte Elaine, als stünde Yohann nicht direkt vor ihr.
Er wurde rot. »Elaine, jetzt ist es aber gut! Lina, Sie dürfen nicht auf alles hören, was man Ihnen hier so erzählt.«
»Er meint, über sich, weil es nur Gutes ist«, erklärte Elaine unbeirrt.
»Gut, ich gehe«, entschied Yohann und legte das Geld für seine Baguette auf den Tresen.
»Ich wollte auch gerade gehen«, beeilte Lina sich zu sagen und hob ihre große Tüte auf. Sie hatte sich etwas Gutes für das lange Wochenende kaufen wollen und war immer noch erschrocken darüber, wie viel Geld sie ausgegeben hatte. In diesem kleinen Laden gab es lauter feine, qualitativ hochwertige Sachen, viele Bioprodukte. Das war schön; nur würde sie es sich auf Dauer nicht leisten können, davon zu leben. Im nahen Carhaix würde es natürlich Supermärkte geben - aber ohne Fahrzeug war Carhaix gar nicht so nah. Sie traten auf den sonnigen Bürgersteig, und Lina fragte Yohann schnell, bevor er davoneilen würde: »Pardon, aber - gibt es Busse von hier nach Carhaix?«
Er blieb stehen. »Aber ja. Allerdings fahren sie nicht sehr häufig, daher ...« Er verstummte; er sollte ihr lieber kein Fahrzeug versprechen, bevor er es nicht gefunden hatte.
Hm. Besonders hilfreich war das nicht. »Ich habe gehört, dass Sie in der Mairie arbeiten, mit Pierre«, sagte sie, als sie die Verlegenheit ihres Gegenübers bemerkte, jedoch nicht recht begriff.
Yohann sah sie kurz an. Sie hatte »mit Pierre« gesagt, nicht »für Pierre«. Er lächelte und antwortete: »Ja, dort arbeite ich. In der Mairie finden Sie übrigens alles Mögliche - von Busfahrplänen bis zu gelben Säcken und von Wanderkarten der Gegend bis hin zu Büchern und Filmen, die Sie ausleihen können. Heute Nachmittag ist die Mairie ab zwei Uhr wieder geöffnet; ansonsten erst wieder Dienstag, nach Ostern. Kommen Sie ruhig vorbei, wenn Sie Fragen haben!« Er sah, wie schwer ihre Tüte war, und griff unversehens danach. Als ihre Finger sich flüchtig begegneten, ließ sie die Tüte schnell los.
Auch er war leicht zusammen- und von ihr weggezuckt. »Ich begleite Sie die paar Schritte, wenn Sie wollen«, schlug er dann vor, als ob nichts wäre.
»Sie müssen meine Tüte nicht tragen«, protestierte sie.
»Ich tue es gerne«, gab er zurück.
Das passte ja so sehr zu allem, was sie von ihm gehört hatte! Als er sich zu ihr umwandte und ihren Blick fragend erwiderte, hob sie schnell an: »Warum nennen alle hier Pierre >Pierric<? Ist das ein Spitzname?«
»Pierric ist die bretonische Verkleinerungsform. Sie wird als Kosename benutzt, oder in diesem Fall als Freundschaftsname.«
»Dann ist Pierre wohl sehr beliebt?«
»Oh ja. Jeder kennt Pierric, und er kennt Gott und die Welt.«
Sie widersprach nicht. Dabei hatte die alte Dame in der Épicerie gesagt, dass eigentlich Yohann alle Welt kenne und dass ohne ihn gar nichts laufen würde im Dorf.
Schnell waren sie am Gartentor des Häuschens angelangt. »Wollen Sie reinkommen, etwas trinken?«, lud Lina ihren Begleiter zögernd ein.
»Aber nein, ich habe gar keine Zeit. Das heißt -« Sollte er sie doch noch auf den Linky ansprechen? Er ließ sich von ihr die Tüte abnehmen, und als sie ihn abermals einlud, begleitete er sie in den Garten, wo er auf sie warten wolle, sagte er. Die Sonne sei so schön.
Während sie also mit ihren Lebensmitteln im Haus verschwand, schlenderte er in die anheimelnde Ecke mit der Gartenbank und roch an der einen, schon voll erblühen Rose, die einen zarten Duft verströmte, der sich mit dem herberen des üppig blühenden Stechginsters daneben vermischte. Er setzte sich auf die Bank, lehnte sich zurück und lauschte dem Frühlingsgezwitscher der Vögel. Laut gurrten zwei Tauben vom Dach. Er schloss die Augen und wandte das Gesicht der warmen Sonne zu.
So fand ihn Lina, als sie mit zwei Gläsern zurückkam. »Es ist nur Orangensaft, ich habe keinen anderen Aperitif anzubieten«, entschuldigte sie sich.
»Orangensaft ist gerade richtig, danke!« Er nahm das Glas entgegen, darauf bedacht, sie nicht noch einmal versehentlich zu berühren wie vorhin.
Sie setzte sich und sah ihn aufmerksam an. Unwillkürlich rückte er ein kleines Stück weg von ihr, wobei er so tat, als wolle er mehr in den Schatten. »Blendet ganz schön«, murmelte er, ehe er etwas abrupt fragte: »Sie haben mir gestern erzählt, in Paris sei Ihr Stromzähler ausgetauscht worden?«
Sie verschluckte sich fast und sah auf ihre Knie. Warum musste er damit anfangen? Sie wollte nicht über Paris sprechen!
»Und - wie war das mit dem Linky? Nachdem er installiert worden war, gab es da Auffälligkeiten? Schwierigkeiten?«, hakte er jetzt auch noch nach.
»Aber nein, wieso denn?«, fragte sie abweisend.
Was hatte sie plötzlich, fragte er sich, erklärte ihr aber: »Vorgestern war ein alter Herr bei mir in der Mairie; Simon hatte die Benachrichtigung erhalten, sein Stromzähler solle gegen einen digitalen Linky ausgetauscht werden.«
Entnervt fragte sie: »Und der Linky ist ein Problem für den alten Herrn?«
Er sah sie ernst an. Dann betonte er: »Es könnte sein, der Linky ist ein Problem für uns alle.«
Zu dieser Zeit in Edern, vierzig Kilometer von Saint-Hernin entfernt, stiegen zwei Männer in gelben Overalls in einen Lieferwagen.
»Hast du gesehen, wie einfach es war?«, fragte der Ältere, der sich ans Steuer setzte.
»Es war okay«, nickte der Jüngere, der mit den Dreadlocks.
»Die haben doch nur Panik gemacht in der Firma«, meinte der Ältere verächtlich, »und dafür dieser ganze Kursus von wegen was ihr machen müsst, wenn die nicht wollen, und so weiter .«
Der jüngere Mann sah nicht überzeugt aus. »Das waren Engländer«, gab er zu bedenken, »und es war nur ihr Ferienhaus.«
»Die vorher waren alle von hier, und gab es Probleme?« Der Ältere startete.
Der Jüngere sah beim Vorbeifahren auf das Haus, in dem sie eben den Zähler ausgetauscht hatten. Ihm war nicht wohl bei der Sache; vor allem nicht seit dem, was am Vortag passiert war. Das bereitete ihm echte Bauchschmerzen. »Hör mal, Michel, hast du etwas von dem Feuer gehört, gestern in Spézet?«
Michel schüttelte den Kopf.
»Echt nicht? Ich - ich fürchte, das war das Haus, in dem wir am Morgen einen Linky installiert hatten. Weißt du noch? Das Stromnetz war weit entfernt von den neuen Standards.«
Michel starrte ihn an. Dann zog er mit geübter Geste seinen silbernen Taschenkamm aus der Hemdtasche und sich damit zweimal durch das schütter werdende Haar, an jeder Schläfe vom Haaransatz nach hinten zurück.
»Wie kannst du dich ruhig frisieren, nach dem, was ich dir eben gesagt habe?«, platzte es aus dem jungen Mann heraus.
»Kämmen täte dir auch mal gut, Julien, weißt du«, grinste Michel. »Aber was Leute mit veralteten Stromleitungen betrifft - selbst schuld. Wo müssen wir als nächstes hin?«
»Selbst schuld? Hast du nicht gehört? Das Haus von den alten Leuten ist abgebrannt!«
»Hatte mit uns nichts zu tun.« Michel schüttelte entschieden den Kopf.
»Der neue Linky und das alte Stromnetz - Mensch, Michel, was ist, wenn es doch an uns lag?«
»Unmöglich. Die Dinger sind sicher.«
»Was, wenn nicht?«
»Julien. Wer ist hier der echte Elektriker, he?«
Julien rollte die Augen.
»Sag schon, wer ist hier der echte Elektriker?«
»Du bist Elektriker, Michel, okay, aber ...«
»Und wer hat nur den Schnellkurs zum Austauschmonteur gemacht, he, wer?«
»Ach, halt doch den Rand«, Julien schaute weg.
Michel lachte. »Nichts für Ungut, Kleiner. Du denkst zu viel. Kann ja sein, dass es in Spézet gebrannt hat. Das hat aber garantiert nichts mit uns zu tun.«
Julien gab keine Antwort.
»Hey«, Michel boxte ihn gegen die Schulter. »Siehs mal so. Das hier ist ein Start für dich. Auf jeden Fall gibts Knete.«
Julien antwortete noch immer nicht und starrte aus dem Wagenfenster.
»Also, wo müssen wir hin?«, wiederholte Michel seine Frage.
Widerwillig und langsam zog Julien seine Liste hervor.
»Und diese Meuniers meinten, der Linky wäre die Brandursache gewesen?«, wiederholte Lina zweifelnd.
Yohann versicherte: »Ja! Und wissen Sie, in anderen Regionen Frankreichs erschienen in verschiedenen Zeitungen auch schon Berichte zu Brandfällen in Häusern, in denen ein Linky installiert worden war. Kann das Zufall sein? Und das ist nicht das einzige, das mir Sorgen bereitet. Es könnte sein, dass der Linky weitere Nebenwirkung hat, wie höhere Kosten, den Verlust unserer Intimsphäre, Krebsrisiko.«
Lina starrte ihn von der Seite an. »Glauben Sie das?« Sie kniff die Augen zusammen. »Davon müssten wir längst etwas wissen.«
»Man kann es ja erfahren, via Internet.«
»Aber Sie wissen doch, wie das ist, jeder Idiot kann irgendwelchen Quatsch ins Netz setzen .«
»Es wären immerhin Idioten aus den USA, Großbritannien, Österreich, Italien und Frankreich - nur um einige Beispiele für Länder zu nennen, in denen digitale Stromzähler bereits laufen.«
Lina schüttelte den Kopf. Was er da sagte, regte sie auf, und sie hatte wirklich in der letzten Zeit, und genauer seit acht Jahren, genug Aufregung gehabt! Daher rief sie scharf abwehrend aus: »Das ist Panikmache, das ist ausgedacht!«
»Aber warum sollte jemand das tun?«, ereiferte auch er sich, verletzt durch ihren Tonfall.
»Um sich wichtig zu machen?« Sie sah ihn herausfordernd an.
»Warum damit?«
»Um Aufmerksamkeit zu bekommen?«
»Da gäbe es bessere Mittel!«
»So? So einfallsreich sind die Leute nicht! Lesen Sie keine Posts auf Facebook? Aber nein, Sie sind nicht auf Facebook, stimmt's?«
»Nein, kein Facebook.«
»Twitter?«
»Ich heiße nicht Trump.«
»Whats app?«
»Auch nicht, und?«
Sie sahen sich fest in die Augen. Ihre Gesichter waren sich beim Schlagabtausch unmerklich näher gekommen. Yohann war der erste, der sich zurückzog. »Ich lebe nicht auf dem Mond, wenn Sie das meinen. Zugegeben, Saint-Hernin ist manchmal wie der Mond, doch im positiven Sinne. Vermutlich verstehen Sie das nicht; aber sollten Sie länger hierbleiben«, er machte eine fragende Pause, die Lina nicht füllte, »sollten Sie länger hierbleiben, dann würden Sie erkennen, dass die Menschen hier durchaus mit der Zeit gehen, aber dass manches erfrischend langsamer oder provinzieller ist, wie Sie wohl sagen würden.«
Sie wurde rot. Das Wort »provinziell« hatte sie sich natürlich gedacht, ihm gegenüber aber nie fallen lassen. »Ich wollte Ihr Dorf und Ihre Lebensweise nicht angreifen«, versicherte sie, »aber wenn hier der Linky eingeführt werden soll, werden Sie das nicht aufhalten können.«
Etwas blitzte in seinen Augen. »Sie wissen nicht, wozu Bretonen fähig sind.« Er trank seinen Orangensaft auf einen Zug aus, reichte ihr das Glas, verbeugte sich und ging.
Amüsiert sah sie ihm nach. Amüsiert und nachdenklich. Sie hatte wieder Pierres Stimme im Ohr. Er hatte sie zu sich zum Essen eingeladen, gestern Abend; sie hatten einigen Rotwein getrunken und dabei ein langes Gespräch geführt. Es war ihr gelungen, seine Fragen nach den Gründen ihres Hierseins weitgehend abzublocken; dafür hatten sie viel von der gemeinsamen Vergangenheit gesprochen, ehe er ausführlich sein jetziges Leben und seine Tätigkeiten als Bürgermeister von Saint-Hernin beschrieben hatte. So waren sie auch auf seinen Stellvertreter gekommen - den »ewigen Helfer«, den »letzten der drei Musketiere«, den »hochintelligenten, sensiblen, einfallsreichen« und »übrigens stockschwulen« Yohann. - Es hatte ihr nicht gefallen, wie abfällig Pierre das Letzte gesagt hatte.
»Lina?«
Sie schreckte zusammen. Da war er schon wieder!
Vom Gartentörchen rief er ihr zu: »Ich habe vergessen zu sagen, dass Pierric ein Fahrzeug für Sie auftreiben wird. Damit Sie hier nicht festhängen.«
Ein Fahrzeug? »Ich - wieso - danke; aber ich habe um kein Fahrzeug gebeten«, wehrte sie erschrocken ab. Was sollte das jetzt? Über die Miete für das Häuschen hinaus konnte sie sich keinesfalls eine Mietgebühr für ein Fahrzeug leisten!
»Es wird allerdings nichts Grandioses sein«, meinte Yohann, um keine falschen Erwartungen zu wecken, »die Leute hier sind sehr hilfsbereit, aber nicht unbedingt wohlhabend; dementsprechend wird sich vielleicht ein klappriges Auto oder ein altersschwacher Roller auftreiben lassen. Und das sicherlich erst nach den Feiertagen. - Sind Sie versorgt über Ostern? Möchten Sie an einem der Feiertage irgendwo hin?«
»Nein - nein, danke«, stammelte sie.
»Dann bis bald«, er lächelte und ging diesmal wirklich.
Bis bald! - Nein danke!! Er hatte es sicherlich gut gemeint, aber ... Es war schon unangenehm, überaus unangenehm, Pierre ihre Unterkunft zu verdanken; sie hatte eben keinen anderen Ausweg gesehen. Doch darüber hinaus wollte sie weder Pierre, noch Yohann, noch sonst jemandem irgendetwas schuldig sein - und erst recht nicht über ihren Kopf hinweg zu Ausgaben gezwungen werden, die schlichtweg unmöglich für sie waren! Sie wollte keine aufgedrängte Hilfe, und diese Art von Hilfe, die in Wahrheit keine war, schon gar nicht!
Den ganzen Tag über verfolgte sie dieser Gedanke - wie sie nicht die Ruhe finden würde, die sie so dringend brauchte; wie sich andere anmaßen würden, sich in ihre Angelegenheiten einzumischen. Sie versuchte, sich nicht in diese Befürchtungen hineinzusteigern, doch sie ließen sie nicht los; auch in den nächsten Tagen nicht. Nach Ostern wusste sie, sie musste etwas unternehmen.