Kitabı oku: «Im Westen gegen den Strom», sayfa 5

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10. Reisen zu zweit

Am Bahnsteig eilten Reisende den langen TGV entlang. Die Freundinnen hatten Linas Waggon gefunden.

»Dann sehen wir uns erst am Himmelfahrtswochenende wieder«, klagte Estelle, nahm Lina bei den Schultern und bat sie: »Pass auf dich auf - iss ordentlich! Und, wenn ich dir noch einen Rat geben darf: Geh mehr unter Leute! Dieses ewige Alleinsein, das ist nicht gut für dich. - Ach, es ist schwer, dich nicht erreichen zu können! Komm her, Kleine!« Sie umarmten sich fest.

Als Lina sich aus der Umarmung löste und einen Schritt zurücktrat, stieß sie gegen einen Passanten. »Pardon«, entschuldigten sie und der Mann sich gleichzeitig, und dann, nach einem Moment der Sprachlosigkeit: »Lina?« - »Yohann?«

Estelle beäugte neugierig den Fremden.

»Ich wusste nicht, dass Sie die Bretagne verlassen haben«, murmelte Yohann im Versuch, Überraschung, Schreck und Verlegenheit zu überspielen.

»Habe ich nur vorübergehend, ich fahre zurück«, brachte Lina hervor. Sie blickte schnell um sich. Sein junger Lover war nirgends zu sehen.

»Ich bin Estelle, Linas Freundin«, schaltete die sich nun ein und machte Anstalten, Yohann die bises zu geben, die unter Bekannten und Bekannten von Bekannten üblichen Freundschaftsküsschen. War es Zufall? Yohann schien ihre freundschaftliche Geste zu übersehen und band sich den Schuh neu.

Lina warf Estelle ein leises Kopfschütteln zu, das die mit unschuldigem Achselzucken quittierte.

Nun kam er aus der Hocke wieder hoch, hatte sich gefangen und sagte höflich: »Verzeihen Sie - Yohann Kervigné, sehr erfreut.« Dann verbeugte er sich noch gentlemanmäßig.

»Leben Sie auch in Saint-Hernin?«, wollte Estelle wissen.

»So ist es; hm, ich muss los, der Zug fährt gleich . Au revoir!« Und weg war er.

»Estelle, der arme Yohann ist extrem schüchtern«, tadelte Lina.

»Süß, der hat was. Diese kleinen, geschmeidigen Männer können ganz schön attraktiv sein. Und diese Eleganz ...«

»Der ist doch gar nicht dein Typ!« Lina schüttelte perplex den Kopf.

»Wer ist er?«, fragte Estelle unbeirrt.

Lina überlegte kurz, bevor sie antwortete: »Der beste Mensch, der mir je begegnet ist, oder der abgründigste. Das habe ich noch nicht entschieden. Er arbeitet in der Mairie, als sécrétaire adjoint von Pierre. Ich glaube, er ist ein verkappter Rebell - und er hat Angst vor mir.«

»Was hast du dem armen Kerl angetan?«

»Ach, nicht so wichtig.«

»Ich mag Rebellen. Vielleicht sollte ich dich bald mal besuchen? Aber vielleicht mag er große Frauen nicht?«, befürchtete Estelle.

Lina sah ihn wieder vor sich, den jungen Mann an sich ziehend. »Körpergröße stört ihn nicht; aber er mag keine Frauen.«

»Wie bitte?« Estelle riss die Augen auf. Sie starrte eine Sekunde, dann spie sie aus: »Perlen vor die Säue, sage ich dir, Perlen vor die Säue!«

Diese Worte und vor allem die Grimasse, die Estelle dazu machte, waren zu viel. Es geschah etwas, das Lina seit vielen Jahren nicht mehr passiert war: Sie bekam einen Lachkrampf! Es schüttelte sie buchstäblich, und Estelle musste sie in den Zug schieben, den sie sonst verpasst hätte. Die Türen schnappten hinter ihr zu; sie wandte sich um und sah durch das Fensterglas und durch ihre Lachtränen hindurch noch eben Estelles Silhouette; dann rauschte der Bahnsteig immer schneller am Zug vorbei.

Sie seufzte, wischte sich die Tränen weg und betrat ihren Waggon. Und da saß er. Als sie an ihm vorbei musste, drehte sie sich von ihm weg, um nicht schon wieder an die Perlen und Säue und an Estelles Grimasse zu denken. Die Lachlust verging ihr jedoch sehr bald. Sie hatte einen Fensterplatz - und einen Sitznachbar, der überaus raumgreifend war, zumal, als er das Notebook öffnete. Sein dicker Arm drängte sich ungeniert auf die Armlehne zwischen den beiden Sitzen und Lina fühlte sich zunehmend unwohl und bedrängt. Sie bat den Mann, sie aufstehen zu lassen, und ging, ohne zu müssen, auf die Toilette.

Yohann saß offenbar allein, überlegte sie beim Händewaschen. Aber Yohann! - Sie hatte ihn wirklich nicht gerade freundlich behandelt, das letzte Mal, als sie sich sahen. Sie hatte ihn loswerden wollen, und das hatte perfekt funktioniert. Manchmal, wenn die Einsamkeit ihr besonders zugesetzt hatte, hatte sie sich allerdings gedacht, dass ihr Abschreckungsmanöver vielleicht sogar zu gut funktioniert hatte. An Estelles Rat, mehr unter Menschen zu gehen, war wohl etwas dran. Aber was nun? Nach dem Brückenabreißen von vor zwei Wochen jetzt wieder Brücken aufbauen? Und würde er überhaupt darauf eingehen? Andererseits - sie wüsste zu gern, wie er reagieren würde auf die Frage, was er in Paris gemacht hatte! Sollte sie es allein deshalb wagen und ihn ansprechen? Was hatte sie schon zu verlieren?

Durch diesen Gedanken ermutigt, strich sie den Gang entlang und blieb neben dem freien Platz stehen (Yohann saß am Fenster). Sie räusperte sich. Beim zweiten Räuspern sah er von dem Buch auf, hinter dem er sich verschanzt hatte.

»Verzeihen Sie«, hob Lina errötend an und fragte sich, warum sie schon genauso zu reden anfing wie er, »würde es Sie stören, wenn ich mich hierher setzen würde?«

»Hierher?«, entfuhr es Yohann mit hochgezogenen Brauen.

Sie zeigte stumm auf den leeren Sitzplatz. »Ich verfüge über dreißig Prozent eines Platzes, den Rest nehmen der Arm und das Notebook meines Sitznachbars ein, daher ...«

Es war an Yohann, sich zu räuspern. Er räusperte sich ziemlich lange. Dann sagte er zuletzt: »Nun, unter diesen Umständen .«

Wie immer höflich, dachte sich Lina; laut sagte sie aber: »Danke, ich hole schnell meinen Rucksack.« Und kaum war sie weg gewesen, war sie schon wieder zurück, ließ sich auf den Sitz fallen und schob den Rucksack zwischen ihre Füße. Sie passte sehr darauf auf, die Armlehne zwischen sich und Yohann freizulassen, damit er sie benutzen könne; Yohann passte sehr darauf auf, die Armlehne zwischen sich und Lina freizulassen, damit sie sie benutzen könne, und so blieb die Armlehne zwischen ihnen frei. Er las oder gab vor zu lesen, und sie versank in ihren Gedanken.

Irgendwann wurde ihr das zu langweilig. Zum Anschweigen hatte sie sich nicht zu ihm gesetzt. »Ich bin froh, neben Ihnen zu sitzen; ich mag es nicht, mit Fremden Smalltalk zu machen«, hob sie an.

»Ach?« Er sah kaum von seinem Buch auf.

»Yohann - ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen. Unser letztes Gespräch - das in der Mairie - es war, ich meine ...«

Er ließ das Buch sinken. »Sagen Sie nichts. Schnee von gestern, wie meine Großmutter zu sagen pflegte.« Er lächelte leicht und wandte sich wieder seiner Lektüre zu.

Doch sie fragte: »Hat sie es geschafft, Ihre Großmutter?«

»Bitte, was?«

»Den Schnee von gestern liegenzulassen - nicht mehr an Dinge zu denken, die vergangen waren.«

Er überlegte kurz. Dann antwortete er: »Ich denke, meine Großmutter konnte die Vergangenheit ruhen lassen, wenn sie es wollte. So lange, wie sie ihre Gedanken und Erinnerungen im Griff hatte. Aber sie wurde in ihren letzten Jahren dement. Da kam es vor, dass der Schnee von gestern sie als Lawine überrollte.«

»Oh. Das kenne ich jetzt schon, ohne Demenz«, sagte sie bitter.

Er sah überrascht auf. Er wurde nicht schlau aus ihr. Sie hatte ihn die letzten zwei Wochen lang ignoriert, nach dem Auftritt in der Mairie, und nun diese Annäherung. Er wartete ab, ob sie mehr sagen würde, doch sie tat es nicht. Behutsam schlug er das Buch zu. »Und Sie? Haben Sie noch Großeltern?«, fragte er schließlich.

Sie schüttelte den Kopf. »Das heißt, es ist kompliziert. Ich habe eine nervende Mutter, deren Eltern nicht mehr leben, und irgendwo auf der Welt einen biologischen Vater, über den ich nichts weiß, weil meine Mutter mir nichts über ihn sagen wollte. Wenn der noch Eltern hat, habe ich theoretisch gesehen noch Großeltern. - Es wäre spannend, sie zu kennen.«

»Ich habe auch nur meine Großeltern mütterlicherseits gekannt; zu denen auf der Vaterseite gab es keinen Kontakt. Und sonst? Haben Sie Geschwister?«

»Nein. Ich habe nur Sarah, meine Tochter. Meine Stieftochter, müsste ich genauer sagen, aber das Wort klingt so unschön. Und Sie, haben Sie Geschwister oder Ki - oder andere Verwandte?«, verbesserte Lina sich. Dass Yohann keine Kinder hatte, stand ja wohl fest.

»Ich habe einen Cousin, Philippe. Er und seine Familie, seine Frau Florence und ihre Kinder Paul und Virginie, sind für mich meine letzten Verwandten. Ich war eben bei ihnen, in Paris.«

Sie sah ihn ironisch an. Seine Verwandten. Dennoch musste sie kichern. »Sie heißen nicht wirklich so, die Kinder - Paul und Virginie?«

»Hm - doch «, beteuerte er.

»Wie dieses unglückliche Liebespaar aus dem alten Schinken? Wie war das, Virginie ertrinkt am Ende, oder?«

»Und Paul, der sie nicht retten konnte, stirbt vor Kummer, genau.«

»Ist es nicht etwas grausam, seine Kinder nach solchen Vorbildern zu benennen?«, spöttelte sie.

Er lächelte und zuckte mit den Schultern. »Philippe hat einen eigenartigen Humor«, urteilte er nachsichtig. »Der Vorteil ist, dass nicht viele Leute mehr Bernardin de Saint-Pierres Roman von 1788 kennen.«

Sie sah ihn schräg von der Seite an. »Sind Sie Literaturwissenschaftler?«

»Ich bin Leser«, gab er schlicht zurück.

»Soso. - Wo ist Babou?«, fiel ihr plötzlich ein.

Ein Strahlen glitt über sein Gesicht, seine hellbraunen Augen leuchteten. Das Lächeln stand ihm, dachte sie sich - was sie prompt an Estelles Gefallen an ihm und leider auch an die Grimasse und das geflügelte Wort mit den Perlen und Säuen denken ließ. Sie wandte sich schnell ab und gab vor zu husten.

»Ist Ihnen wohl?«, fragte er besorgt.

Sie hustete, räusperte sich, machte glucksende und krächzende Geräusche; die Reisenden, die um sie herum saßen, starrten schon.

»Geht wieder«, brachte sie endlich hervor und wischte sich die Tränen aus den Augen.

»Wie wäre es mit etwas zu trinken?«, schlug er vor.

Sie gingen Richtung Restaurantwagen, als ein junger Mann ihnen entgegen kam. Der TGV hatte seine Höchstgeschwindigkeit erreicht, man musste sich ein wenig wie auf einem Schiff fortbewegen, auf nicht ganz sicherem Boden. Der junge Mann ging zu schnell, wankte beim Gehen zur Seite und stieß Lina hart gegen die Schulter. Sie verlor das Gleichgewicht und meinte zu fallen, als sie sich von zwei Armen aufgefangen fühlte.

»Passen Sie doch auf! So geht das nicht«, hörte sie Yohanns empörte Stimme dicht an ihrem Ohr.

»Pardon, war keine Absicht«, brummte der junge Mann.

»Keine Absicht - Sie können nicht einfach so Ihre Körpermasse einsetzen, um leichtere Menschen umzuwalzen«, fuhr Yohann erbost fort, und dann sanft zu Lina, wobei er sie losließ: »Haben Sie sich weh getan?«

»Nein, alles gut. Kommen Sie.« Und sie zog ihn am Ärmel mit sich.

In der Warteschlange vor dem Tresen des Restaurantwagens wandte sie sich zu ihm: »Ich habe nicht gewusst, dass Sie so heftig werden können. Vielen Dank.«

»Gegen wen war ich denn heftig?«, wunderte er sich.

»Na, gegen den jungen Kerl, der das Pech hatte, mich anzurempeln.«

»Ach, das!« Er wurde rot. »Der war ein Rüpel! - Wollen Sie auch etwas essen?«

»Ich habe zwei köstliche, riesige Stücke Tarte au citron in meinem Rucksack, von meiner Freundin Estelle gebacken. Sie versorgt mich immer mit zu großen Portionen. Möchten Sie eines?«

»Liebend gern. Dann gehen die Getränke auf mich. Was nehmen Sie?«

»Übrigens - so wie Sie eben hat sich selten jemand für mich eingesetzt. Das weiß ich wirklich zu schätzen.« Sie sah ihn zerknirscht und dankbar an.

Er schluckte. Offenbar meinte sie es ernst. »Wie - wie wäre es mit Cappuccino?«, schlug er vor.

Später saßen sie an ihren Plätzen, prosteten sich mit ihren Cappuccinos zu und lobten Estelles Kuchen. Zu Linas Überraschung war Yohann seit dem Vorfall mit dem Rempler aufgetaut und gar nicht mehr schüchtern, und es entwickelte sich eine leicht dahinfließende, amüsante Unterhaltung, wie man so schön sagte, über Gott und die Welt oder in diesem Falle über essen und reisen, Bücher und Filme, Paris und Saint- Hernin.

Als die baldige Ankunft des TGV in Guingamp angekündigt wurde, waren beide verblüfft.

»Wirklich unglaublich, wie schnell der TGV ist«, rief sie aus. »Nicht mal drei Stunden für die Strecke, Wahnsinn!«

»Aber nicht nur der Zug, auch die Zeit scheint geflogen zu sein«, lächelte er.

Sie stiegen aus und wechselten den Bahnsteig. Zu Linas Verwirrung warteten zwei optisch identische Züge auf dem Gleis, doch Yohann erkannte an der Zugnummer, welcher der nach Carhaix war.

In den Zug eingestiegen, blieb er stehen und sah sie fragend an.

»Was denn?«, wollte sie wissen.

»Wollen wir uns nebeneinandersetzen oder möchten Sie lieber für sich sein?«

Es war eine dieser Fragen, die sie verwirrten. »Es würde mich freuen, auch weiterhin Ihre Gesellschaft zu genießen«, antwortete sie schließlich, wobei ihre Mundwinkel zuckten und sie hoffte, er möge es ihr nicht übel nehmen, dass sie seine Redeweise ein wenig parodierte. Aber das tat er nicht, sondern lud sie dazu ein, ganz vorne zu sitzen, weil man dort, über den Kopf des Zugführers hinweg, die volle Aussicht durch die Frontscheibe plus die durch die seitlichen Panoramascheiben des Zuges genieße. Dem konnte Lina nur zustimmen.

Es waren wieder die grünen Tunnel, durch die sie fuhren, nur war das Grün noch dichter, üppiger, bedrängender geworden, und nun, am letzten Tag des Monats April, blühte die Bretagne geradezu unbändig in vielfachen Farben; man sah es, obwohl es zu dämmern begann, und es passte dazu, dass der Zug erneut wie ein fröhlicher Elefant trötete.

Lina drückte ihre Freude an dieser Landschaft aus, die sie in den letzten Wochen mit dem Rad und zu Fuß erkundet habe, und Yohann sah sie aufmerksam von der Seite an. »Das Argoat, das Innere der Bretagne, ist wunderschön; aber es ist selten, dass Bretagne-Reisende nicht auch das Armor sehen wollen, die Küste«, meinte er.

»Das Meer, ja .« Eine unbestimmte Sehnsucht nach Salzluft und Möwenrufen und Wellenrauschen überfiel sie. Dann sah sie ihn offen an und gestand: »Es wäre schön, weitere Ausflüge zu unternehmen, aber - mein Aufenthalt in der Bretagne ist kein Urlaub. Ich muss mich in allem beschränken. Zurzeit lebe ich von Krankengeld. Deshalb war ich in Paris: um zu meinem Arzt zu gehen. In vier Wochen muss ich das nächste Mal hin, aber vier Wochen, das ist gar nichts .« Sie seufzte - und wunderte sich über sich selbst. Niemand anderem aus Saint-Hernin hätte sie das gesagt, sogar Pierre gegenüber hatte sie geschwiegen. Warum jetzt ihm? Es war ihr so rausgerutscht - am Ende dieser überraschend netten Zugreise.

Yohann nickte betroffen. Er ahnte, dass hier ein Tabuthema vorlag, und war darüber erstaunt, dass sie es überhaupt berührt hatte. »Ich war in Paris, weil ich eine Wohnung dort habe. Sie ist vermietet, und einmal im Jahr findet die Eigentümerversammlung statt«, erklärte er seinerseits seine Reise und setzte noch hinzu: »Aber dieses Mal hatte ich in Paris zusätzlich ein Rendezvous, das ich nicht hätte versäumen mögen.«

Sie fuhr zu ihm herum. »Ja?«

»Mit Annie Lobé, einer Journalistin.«

»Ach so.«

»Ich erfuhr einiges über den Linky - und über Menschen, die sich gegen das Ding organisieren. Die gibt es wirklich - auch wenn Sie ja nicht an den Protest gegen den Linky glauben«, zog er sie etwas auf, um zu sehen, wie sie darauf reagieren würde.

Prompt wurde sie rot und murmelte: »Ich glaube nur nicht daran, dass protestieren viel nützt - aber grundsätzlich bin ich auch nicht dagegen. Und Sie wollen das jetzt ernsthaft tun? Rebellieren?«

»Genau das.« Er grinste.

»Und was wollen Sie konkret tun?«

»Nicht sofort auf die Barrikaden gehen, wenn Sie das befürchten. Zuerst müssen die Leute überhaupt einmal aufgeklärt werden. Erst wenige haben die Ankündigung des Zählerwechsels erhalten; im Augenblick weiß noch niemand so recht, was das soll. Das muss sich ändern. Es muss eine Bürgerversammlung geben. Pierric muss alles erklären.«

»Pierric? Warum der? Meinen Sie, der wird mit Ihnen auf die Barrikaden gehen? Da wäre ich mir nicht so sicher. Im Reden, darin ist er gut, aber ... Und überhaupt, Sie haben sich zum Linky informiert, da sollten Sie auch die Leute im Dorf über das Ding aufklären, finde ich. «

Er schüttelte den Kopf und hob abwehrend die Hände. »Das muss schon Pierric machen, er ist der Bürgermeister! - Oh, wir sind gleich in Carhaix. Wie kommen Sie denn nach Saint-Hernin?«

Sie sah ihn halb bittend, halb schelmisch an. »Mit Ihnen?«

Er blinzelte. »Wenn Sie mich so ansehen, kann ich wohl kaum widerstehen«, sagte er und stand auf. Sie waren angekommen.

Lina, noch überrumpelt von seiner letzten Bemerkung, folgte ihm.

Er führte sie auf den Parkplatz seitlich des Bahnhofsvorplatzes, wo sein Renault vier parkte, und öffnete ihr galant die Beifahrertür.

Bevor sie starteten, wandte er sich noch einmal zu ihr. Seine Augen leuchteten, als er ankündigte: »Ich muss allerdings einen Haken fahren, über meine Freundin Sophie. Babou ist bei ihr.«

»Kein Problem«, gab Lina lächelnd zurück.

»Schön. Es ist auch wirklich nur ein kleiner Umweg.«

»Kein Problem«, wiederholte sie und dachte für sich: Merkwürdig, wie das so gekommen ist.

»Schön«, wiederholte er, lächelte vor sich hin und dachte für sich: Merkwürdig, wie das so gekommen ist.

11. Blaue Stunde

Lina fragte sich, ob der Umweg nach Saint-Hernin nicht doch größer würde. Die Strecke, die Yohann fuhr, war nicht ansatzweise die, die sie kannte. Ihre zweispurige Straße führte durch ein Tal; links von ihnen stieg eine ginsterbewucherte Felswand steil in die Höhe; rechts schlängelte sich ein Flüsschen, doch bei der zunehmenden Dunkelheit und dichten Vegetation konnte sie nicht viel davon erkennen. Erstaunt registrierte sie, dass sie unter einer hohen Autobahnbrücke durchfuhren.

»Sind Sie enttäuscht?«, fragte Yohann, ihrem Blick folgend.

»Worüber sollte ich enttäuscht sein?«

»Darüber, dass das Ende der Welt via Autobahn zu durchqueren ist. Auch wenn man nur mit Tempo hundertzehn darauf fahren darf. Dafür sind diese Autobahnen kostenfrei - hier, in der tiefsten Provinz.«

Sie hörte mehr sein spöttisches Lächeln, als dass sie es sah. Sie fühlte sich erröten und wusste nicht, was sie sagen sollte. Es war nun einmal so - für Pariser war Paris die Metropole, der Rest Frankreichs die Provinz; dass die Halbinsel im äußersten Westen als tiefste Provinz galt, konnte da nur einleuchten.

»Sind Sie in Paris geboren?«, fragte er.

»Ja, und Sie?«

»In Carhaix. - Da muss das hier ein richtiger Kulturschock für Sie sein.«

»Auf dem Mond ist es anders, und das ist sehr schön«, sagte sie, und sie meinte es.

Auf dem Mond, das hatte er damals in ihrem Gespräch gesagt, sie saßen im Garten, vor ihrem Haus, bei den Rosen. Die Sonne beschien ihr blasses, ausdrucksstarkes Gesicht. Damals hatte er gedacht, sie könnten Freunde werden. Yohann erinnerte sich, lächelte und schwieg.

»Da! Wir müssen wenden, da war das Schild nach Saint-Hernin«, rief sie aus.

»Wir nehmen den nächsten Abzweig«, beruhigte er sie, »wir fahren über Moulin-Neuf.«

Lina wurde bewusst, wie sehr sie sich in den vergangenen Wochen in Saint-Hernin und in sich selbst verschanzt hatte. Nicht einmal einen Blick auf eine Landkarte der Region hatte sie geworfen. Moulin- Neuf, das sagte ihr gar nichts! »Sie könnten mich wirklich ans Ende der Welt entführen und ich würde es nicht merken. Ich habe keine Ahnung davon, wo wir sind«, gestand sie.

»Die Idee einer Entführung finde ich grundsätzlich nicht schlecht, aber Babou wartet auf mich und wir sind gleich da.«

Tatsächlich verließen sie kurze Zeit später die zweispurige Landstraße, kurvten hügelaufwärts und bogen dann in einen noch engeren Weg ein. Vor ihnen zeichnete sich schwarz vor dem tiefblauen Abendhimmel die Silhouette einer Häuserreihe ab, links ein großes Haus, rechts daran gebaut ein niedrigeres, ganz rechts ein noch kleineres Gebäude. »Wohnhaus, Atelier, Ausstellungsraum«, erklärte Yohann. »Sophie ist Töpferin.«

Töpferin, das weckte Linas Neugierde.

Er hielt an und betrachtete einen Moment lang den Abendhimmel, der dunkel und doch transparent blau war - tintenblau, noch nicht schwarz. »Blaue Stunde«, murmelte er und stieg aus. Dann hörte Lina einen Aufschrei, hoch und schrill, und begriff im nächsten Moment, dass es ein hündischer Laut gewesen war, denn Babou sprang winselnd und zärtlich bellend an ihrem Yohann hoch. Auch er lachte glücklich, während er die Hündin zu beruhigen suchte. Er hockte sich hin, sie stieg mit den Vorderpfoten auf seine Knie und näherte sich mit der Schnauze seinem Gesicht; er zog sie an sich und flüsterte ihr Zärtlichkeiten zu.

»Die große Liebe. Ich muss immer fast heulen, wenn ich die beiden so sehe.«

Lina fuhr herum. Sie war so fixiert auf Yohann und seine Babou gewesen, dass sie das Herantreten der Frau nicht bemerkt hatte. Yohanns Freundin stellte sich nun als Sophie vor und gab ihr selbstredend die bises. Sie roch nach Heu, Tabak und Seife. Dann wurde Lina von einer feuchten Nase angestupst; es war nicht Babou, sondern ein großer und schwerer Hund. »Komm, Tatar«, rief Sophie ihn, und dann: »Kommt alle rein, es ist frisch!«

Sie betraten das Haus; schüchtern und doch auch neugierig sah Lina sich um. Ein großer offener Raum, aber mit Wohnnischen. Links die Kaminecke - mit gusseisernem Ofen, in dem ein Feuer flackerte. Vor dem Ofen, auf einem Kuhfell, ein niedriger Tisch und darum herum Couch, Sitzsack und Sessel. An der Wand der Couch gegenüber, auf der Haustürseite, eine leise tickende Standuhr und ein Regal mit Büchern und Fernseher. Das war Sophies Wohnbereich. Die Treppe zum ersten Stock teilte ihn von Küche und Essecke ab, die wiederum durch einen Tresen mit Barhockern getrennt wurden. Unwillkürlich blieb Linas Blick an dem schönen alten Büffet hängen, das an der Kopfseite des rustikalen Esstisches stand, ehe er weiterglitt zur Fensterbank - von der aus eine braungetigerte Katze sie scharf beäugte.

»Setzt euch. Wollt ihr etwas trinken? Einen weißen Porto?«, fragte Sophie und fügte entschuldigend hinzu: »Ich hoffe, es ist euch nicht zu warm; ich fand es kalt für Ende April und musste heizen.«

»Ich finde das sehr angenehm«, versicherte Lina und besah sich bei Licht Sophie genauer, während die von hinter dem Tresen eine Flasche mit gelber Flüssigkeit hervorholte. Mit ihrer Kurzhaarfrisur, dem ausgelutschten Öko-Wollpulli und der verblichenen Kargohose wirkte Sophie auf den ersten Blick burschikos. Doch lag in ihren Augen etwas Verletzliches, und das passte zu der Bemerkung, die sie vorhin gemacht hatte: sie müsse fast weinen, wenn sie Yohanns und Babous große Liebe sehe. Das fand Lina sympathisch. Ja, diese Sophie war ein vollkommen anderer Typ Frau als sie, Lina - vor allem ein anderer Typ Frau, als sie noch vor wenigen Wochen gewesen war. Vor einem Monat hätte sie in figurbetonter Designerkleidung hier gestanden, mit hochhackigen Schuhen und raffinierter Hochsteckfrisur - das heißt, nein. Hier gestanden hätte sie eben nicht. Doch jetzt stand sie hier, Chemie ließ sich nicht erklären und sie wusste einfach, dass sie und Sophie sich bestens verstehen würden.

»Im Büffet neben dir sind Gläser«, sagte Sophie ihr nun, als wäre sie ein vertrauter Gast. Sie nickte und holte drei Gläser aus dem schönen Büffet; Bechergläser, sie sah nur diese. Sophie nahm sie entgegen und schenkte großzügige Portionen aus. Yohann hatte es sich unterdessen auf dem Sessel gemütlich gemacht, und Babou lag quer über seinem Schoß.

»Es ist nicht gut, was du machst; du bringst ihr bei, dass sie auf den Sessel darf«, tadelte Sophie.

»Aber sie ist nicht auf dem Sessel, sie ist auf mir«, gab er zurück, träge und zufrieden.

»Sie ist schlau und weiß, dass dein Schoß die Vorstufe ist. Das nächste Mal, wenn du nicht hinsiehst, springt sie auf deinen Sessel, du wirst schon sehen.«

»Ach«, winkte Yohann ab und sah weg.

»Er sieht weg. Sie tut es schon«, sagte Sophie zu Lina.

»Sieht ganz danach aus«, stimmte die zu.

Yohann hob eine Augenbraue und sah zu den Frauen. »Genau, verbündet euch gegen uns. Siehst du, Babou, so sind sie. Dabei bist du nie auf meinem Sessel, wenn ich heimkomme, nie. Du bist immer ganz brav im Körbchen, und wieso der Sessel so warm ist, das weißt du doch nicht, hm?« Er kraulte die langen weichen Ohren und Babou schenkte ihm hechelnd ein hündisches Lächeln.

»Da hast dus«, wandte Sophie sich an Lina. »Also, Tatar bleibt immer in seinem Korb.«

»Soso«, sagte Yohann spöttisch.

»Klar doch!«, behauptete Sophie, bekam aber rote Ohren.

»Nur gut, dass außer Tatar, Minette und Chamalot nicht auch noch Noisette, Léla und Eglantine ins Haus dürfen. Sonst würde es auf deiner Sitzgarnitur zu eng«, witzelte Yohann.

»Er spricht von meinen anderen Tieren, von meiner Familie eben. - Und woher kennt ihr beiden euch?«

Sie tauschten einen Blick.

»Wer in Saint-Hernin kennt nicht Yohann?«, fragte Lina dann leichthin und erklärte, dass sie seit Ostern im Linken der drei wohne. Sie kamen ins Gespräch über Saint-Hernin, doch als Sophie nach Linas Bretagne-Eindrücke fragte, geriet die ins Stocken. »Ich habe bisher nicht viel gesehen, außer dem Dorf und seiner Umgebung«, gestand sie und warf Yohann einen unsicheren Blick zu. Der würde doch jetzt nicht ausplaudern, was sie ihm vorhin im Zug über ihre Situation verraten hatte?

Nein; er fragte Sophie, um das Thema zu wechseln: »Machst du noch deine Töpferkurse?«

»Du bist Töpferin?«, hakte Lina gleich dankbar nach.

Sophie zeigte ihr einige ihrer Objekte, die sie im Haushalt benutzte - eine main de sei, ein großer, kugelförmiger Behälter mit einem Loch in der Vorderseite, für Kochsalz; einige mugs, große Tassen, und bols, die landestypischen Trinkschalen; eine filigrane, fast japanisch anmutende Vase, in der eine weiße Orchidee stand. Die Gegenstände zeichneten sich durch die schlichte Eleganz ihrer Form aus sowie durch ihre Farben, überwiegend Blautöne, unter denen aber Grün, Violett und Ocker durchschimmerten. Mineralische Farben, erklärte Sophie, während Lina bewundernd über die glatte Glasur eines bols strich.

»Hast du schon einmal getöpfert?«, fragte Sophie.

»Nein, noch nie.«

»Magst du es ausprobieren?«

Lina war überrascht über das Angebot - das sie so gerne angenommen hätte, aber ablehnen musste! »Ich habe momentan leider nicht genug Geld für einen Kurs«, erklärte sie nach einem befangenen Zögern.

»Ich will doch kein Geld von dir«, erwiderte Sophie schroff. »Komm ruhig vorbei, wenn du mal drehen willst. - So, habt ihr Hunger?«

Diese Frage stellte sich im Grunde kaum mehr, denn sie hatte in den letzten Minuten nebenher ein Abendessen zubereitet, den Mengen nach für mehr als eine Person. Wie zur Antwort, klopfte es an der Tür und ein großgewachsener Mann mit pfeffer- und salzfarbenem Haar und Brille trat ein. »Salut, Sophie«, grüßte er laut. »Ah, Yohann. Guten Abend, ...?« Fragend sah er Lina in die Augen. Die streckte die Hand aus und nannte ihren Namen; der Mann nahm ihre Hand und gab ihr die bises.

»Willst du mitessen, Bernard?«, fragte Sophie, wartete aber keine Antwort ab, sondern bat Yohann, vier Teller und Besteck aus dem Büffet zu holen.

»Wie heißt du nochmal? Ich habe dich eben nicht ganz verstanden, ich muss meine Hörgeräte ersetzen«, erklärte Bernard Lina, begann aber dann, ohne eine Antwort abzuwarten, umständlich von seinem letzten Arztbesuch zu erzählen, während er den Hunden, die ihn beschnüffelten, die Hälse kraulte. Sophie putzte Salat, wendete die Makrelen und ließ die Kartoffeln abtropfen, um sie mit einem ordentlichen Brocken Butter wieder auf kleine Flamme zu setzen. »Yohann, machst du die Salatsauße?«, bat sie, als Bernard mit seinem Bericht geendet hatte, und kurz darauf stellte sie den Fisch auf den Tisch. »A table!«, rief sie aus.

Lina setzte sich. Sie fragte sich, wie sie unversehens zu diesem geselligen Abendessen gekommen war. Allein in ihrer Unterkunft, hätte sie getoastete Weißbrotreste und Käse geknabbert.

»Bedient euch«, forderte Sophie alle auf.

Lina griff zu. Sie sah in die Runde. Keiner hatte sie gefragt, warum sie die Mütze zu ihrer übergroßen grauen Funktionskleidung trug, warum sie so kaputt aussah, warum sie hier war. Lag es an Gleichgültigkeit? Nein; sie wurde auch jetzt, bei den Tischgesprächen, immer wieder nach ihren Ansichten gefragt, sie wurde nicht außen vor gelassen. Aber es würden keine unangenehmen Fragen kommen, begriff sie; sie wurde so akzeptiert, wie sie war. Sie atmete auf, begann, sich zu entspannen. Und so ließ sie es zu, dass sich unerwartet und beiläufig etwas wie von selbst klärte, das sie gar nicht gewollt hatte. Sophie war es, die fallen ließ, es sei doch unpraktisch, dass Lina kein Fahrzeug habe; wie solle sie da zum Töpfern kommen? Worauf Bernard erwiderte: »Dann nimmt sie den weißen Volvo«, und zu Lina: »Er hat über vierhunderttausend Kilometer drauf, aber er fährt. Das ist Qualität gewesen.«

»Aber - du willst mir dein Auto leihen?«, meinte Lina zu begreifen. Sie wurde von Sophie und Bernard geduzt und tat es ihnen gleich; nur von Yohann wurde sie weiterhin gesiezt, respektvoll und höflich. Sophie und Bernard wunderten sich vielleicht darüber, gaben aber keine Kommentare dazu ab. Dann protestierte sie: »Aber das geht doch nicht.«

»Das ist schon in Ordnung, Bernard hat drei Volvos«, grinste Sophie.

»Ich habe drei Volvos«, wiederholte Bernard. »Wann wollt ihr den weißen holen? Jetzt gleich?«

»Oh nein.«, wehrte Lina erschrocken ab.

»Lass sie das Auto bei Tageslicht abholen«, meinte Sophie, und ehe Lina wusste, wie ihr geschah, hatten die anderen einfach so geregelt, dass Yohann sie am morgigen Nachmittag gegen drei Uhr zu Bernard fahren würde, um den weißen Volvo in Empfang zu nehmen.

Überrumpelt schüttelte sie den Kopf. Und doch - ein Auto würde ihr Unabhängigkeit geben. Sie würde jederzeit in Carhaix einkaufen und wirklich mal einen Ausflug machen können. Vielleicht sogar ans Meer? - Aber. Ein Auto. Wann war sie überhaupt das letzte Mal Auto gefahren?

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