Kitabı oku: «Anders Sein», sayfa 2

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4.

In der ersten Woche hatte Matthis oft neben dem Kranken gesessen, ihm vorsichtig Wasser gereicht, wenn dieser erwachte, seinen Puls gefühlt – Anna hatte es gezeigt und ihm aufgetragen, sie sofort zu rufen, sobald der Puls auffällig schnell würde.

»Ein Psalm Davids. Nach dir, Herr, verlanget mich.

Mein Gott, ich hoffe auf dich. Lass mich nicht zuschanden werden, dass sich meine Feinde nicht freuen über mich! Denn keiner wird zuschanden, der dein harret; aber zuschanden müssen sie werden, die losen Verächter

Matthis las den Psalm langsam, gleichwohl mit Betonung. Die altmodische Sprache der Bibel störte ihn nicht. Er liebte die Psalmen, obwohl er nicht immer verstand, was dort zu lesen war. Der Kranke rührte sich nicht, hatte die Augen geschlossen und atmete gleichmäßig, nur ab und zu hustete er.

»Herr, zeige mir deine Wege und lehre mich deine Steige! Leite mich in deiner Wahrheit und lehre mich; denn du bist der Gott, der mir hilft; täglich harre ich dein.« Wieder ein Hustenanfall, diesmal etwas heftiger. Der Junge legte die schwere Bibel auf den Hocker neben sich, holte ein feuchtes Tuch aus der Schüssel und wischte dem Patienten die schweißnasse Stirn ab. Als er sich zurück auf seinen Platz setzten, griff der Kranke nach ihm.

»Wie - alt - bist - du?«, fragte er, und seine Stimme war so kraftlos und leise, dass Matthis sich tief in den Alkoven hinein beugen musste.

»Ich bin im Januar vierzehn geworden«, antwortete er. »Ich bin Matthis, ich hab Sie am Bach gefunden«, erklärte er dann.

»Jakob - Sieker«, sagte sein Patient mit tonloser Stimme, er versuchte, sich ein wenig aufzurichten, aber das gelang ihm nicht.

»Bleiben Sie ruhig liegen! Sie brauchen viel Ruhe, hat Anna gesagt!«

»Mein Sohn …ich«, er hustete heftig. Matthis schob seinen Arm unter die Schulter des Kranken, stützte seinen Kopf mit seiner eigenen Brust und flößte ihm etwas Tee ein. Dann ließ er ihn zurück ins Bett sinken, nahm erneut das Tuch, wischte ihm erst den Mund und danach die Stirn ab und wusch anschließend den Lappen aus. Sieker hatte die Augen geschlossen und atmete wieder gleichmäßiger. Matthis betrachtete ihn eine Weile und fuhr schließlich mit seiner Lektüre fort.

»Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von der Welt her gewesen ist. Gedenke nicht der Sünden meiner Jugend und meiner Übertretung; gedenke aber mein nach deiner Barmherzigkeit um deiner Güte willen! Der Herr ist gut und fromm, darum unterweiset er die Sünder auf dem Wege. Er leitet die Elenden recht und lehret die Elenden seinen Weg. Die Wege des Herrn sind eitel Güte und Wahrheit denen, die seinen Bund und Zeugnis halten. Um deines Namens willen, Herr, sei gnädig meiner Missetat, die da groß ist!«

Zu Ostern würde er, mit Abschluss seiner Schulzeit, konfirmiert werden, und die Lektüre der Bibel war für ihn nichts Ungewöhnliches. Er las im Gegensatz zu seinen Brüdern gern, wie auch immer, außer dem heiligen Buch und dem Katechismus gab es zu Hause kaum etwas zu lesen. Von eigenen Büchern träumte er. Der Pastor und der Lehrer liehen ihm mitunter Lesestoff, aber er hatte neben Schule und Hofarbeit ohnehin wenig Zeit. Seit er vier war, half er Mutter, die Hühner zu versorgen, mit sechs war diese Aufgabe seine allein. Er hatte gelernt, die Ställe auszumisten, die Schweine zu mästen, die Kühe zu melken - kurz, er war jetzt vierzehn und wusste alles über die Arbeit auf dem Hof. Er konnte ein Gespann lenken, durfte das aber nie, denn seine Brüder waren die Älteren, sie hatten eben ältere Rechte. Beim Ausbauen des Schweinestalls hatte er die Arbeit mit Holz gelernt, das hatte ihm gefallen, aber er durfte nur flicken und ausbessern und seine Zeit nur ‚nützlich‘ verbringen. Er hatte seit jeher Aufgaben auf dem Hof, mit jedem Jahr wurden diese mehr.

Gern wäre Matthis weiter zur Schule gegangen, aber dafür gab es weder Geld noch Gelegenheit, es war überhaupt nie darüber gesprochen worden. Nun, da er bald nicht mehr zur Schule gehen musste, war er für den Vater und die älteren Brüder endlich eine vollwertige Kraft. Aber wenn er sich nach getaner Arbeit mit einem Buch, das der Pastor ihm geliehen hatte, in eine Ecke am Ofen zurückzog, begann gleich die Spöttelei.

»Wahrscheinlich will er Pastor werden!«

»Unser kleiner Neunmalkluger!«

»Wie man die Mistgabel richtig hält, das weiß er nicht, nur die Bibel, die kennt er!«, veralberten die Brüder ihn, fast liebevoll, aber sein Vater fand diese ‚Unart‘ gar nicht lustig. »Ein Bauer braucht keine Bücher, draußen gibt es genug zu tun. Diese ganze Gelehrsamkeit ist weibisch und nichts für unsereins! Ein richtiger Junge würde jetzt draußen mit seinen Kameraden zusammen sein …«

Diese Zeit am Bett des Fremden war daher für Matthis etwas Besonderes.

Mittlerweile hatte er fast jede Scheu verloren, der Mann schlief ja meistens und er – Matthis – wurde gebraucht. Eines Tages in der zweiten Woche war der Patient wieder aufgewacht, wie schon beim ersten Mal, als Matthis ihm etwas vorgelesen hatte. Er hatte eine ganze Weile mit offenen Augen da gelegen und völlig unvermittelt zu reden begonnen. Seine Stimme war schon etwas kräftiger als zuvor, aber immer musste Matthis gut hinhören.

»Ich war Bäume kaufen. Jakobpeter … und dann … drei Männer …«, er hustete, Matthis gab ihm Tee.

»Soll ich jemanden rufen? Anna?« Matthis wollte aufstehen und seine Mutter oder seine Schwägerin holen, aber der Fremde hielt ihn zurück.

»Matthis, nicht?« Der Junge nickte. »Da waren drei Männer … Und dann … kalt …«

Wieder hustete er heftig, Matthis sah, dass er kaum Luft bekam und Schmerzen hatte. Er gab ihm erneut von dem Tee, dann aber öffnete er die Tür des kleinen Raumes und trat auf die Deele.

»Anna«, rief er, »schnell, er ist wach!«

Anna kam aus der Küche, langsam, behäbig, den großen, schweren Bauch haltend. Es dauerte jetzt nicht mehr lange, dachte der Junge, dann bin ich Onkel. Anna trat in die Kammer, aber Sieker war wieder eingeschlafen. Sie schaute erst ihn an, dann sah sie sich im Zimmer um.

»Du machst das richtig gut. Es scheint ihm besser zu gehen, aber den Schlaf braucht er weiterhin. Er hat ja einiges durchgemacht!«

Matthis lief wegen des Lobs rot an und nickte.

»Er ist wohl überfallen worden, er sprach von drei Männern, aber mehr hat er nicht gesagt. Er hustet so schlimm.«

»Das wird, das braucht seine Zeit. Gib ihm nur weiter Tee, kühl ihm die Stirn, wenn er fiebert und ruf mich, wenn was ist.«

Sie stützte mit der Hand ihren Rücken, streckte sich und watschelte davon.

Der Kranke schlief weiterhin die meiste Zeit und war in seinen wachen Stunden äußerst wortkarg. Er starrte an die Decke, schaute kaum auf, wenn jemand in den Raum kam und nickte nur dankbar, wenn ihm Wasser oder Brei gereicht wurde. Matthis half ihm beim Essen und Trinken, kämmte ihm Haar und Bart, leerte fast ohne Murren die Bettpfanne, die Sieker ihm verschämt hinhielt und fühlte sich wichtig. Erst am Ende der dritten Woche begann der Kranke, seinen jungen Pfleger öfter mal leicht gequält anzulächeln und mehr als »Bitte« oder »Danke« zu sagen. Matthis erfuhr, dass Sieker Tischler war, und bald führten sie Gespräche über die Bearbeitung von Holz. Das heißt, Matthis sprach und sein Patient nickte, lächelte, schüttelte den Kopf und ließ nur selten eine Frage hören. Neben dem Lesen war die Arbeit mit Holz immer Matthis stille Leidenschaft gewesen, die er vor seiner Familie aber wohlweislich so gut wir möglich verborgen gehalten hatte. Die Brüder hätten ihn mal wieder ausgelacht und so mit anderer Arbeit vollgepackt, dass er Säge, Holz und Nägel in den nächsten Jahren nicht mehr zu sehen gekriegt hätte.

»Immer geben sie mir Aufgaben, die jeder Trottel erledigen kann oder für die selbst der Knecht sich zu schade ist«, berichtete er seinem Patienten. »Als ich noch sehr viel kleiner war, hat Anton mir das Schnitzen beigebracht, aber seit der weg ist, nimmt keiner mich hier ernst!«

Wie fast immer nickte der Genesende nur.

An diesem Abend durfte Sieker das erste Mal aufstehen, die Kammer, die man für ihn gerichtet hatte, verlassen und am Abendessen seiner Gastgeber teilnehmen.

Matthis trat ein bisschen verlegen und mit rotem Kopf in das Krankenzimmer und hielt etwas hinter dem Rücken versteckt. Er fand es anmaßend, dem Fremden so ein Geschenk zu machen, aber Mama hatte gesagt, das sei in Ordnung, eine nette Geste sogar. Trotzdem war es dem Jungen peinlich und er glaubte, er würde gleich stolpern, da lächelte der Patient das erste Mal.

»Was hast du denn da?«, fragte er, seine Stimme klang ein wenig heiser und so, als hätte er die Worte mühsam suchen müssen. Diese Unsicherheit machte Matthis Mut, er streckte die selbstgebauten Krücken, die er in den vergangenen Tagen gefertigt hatte, Herrn Sieker entgegen.

»So können Sie sich besser bewegen, in der ersten Zeit«, murmelte er mit gesenktem Kopf. Der so Beschenkte nahm die erste Krücke in die Hand, strich über das Holz, hielt sie hoch, und legte sie nahezu behutsam zur Seite. Dann nahm er die Zweite genau so unter die Lupe.

»Hast du die gemacht?«, fragte er dann in der gleichen, etwas schleppend wirkenden Sprechweise. Matthis nickte.

»Ja«, antwortete er schüchtern, »ich dachte, Sie könnten sie gebrauchen, wenigstens am Anfang. Anna meint, Sie werden irgendwann wieder richtig laufen können, aber es braucht Zeit!«.

»Die sind richtig gut!«, staunte Sieker und tat dabei so, als hätte er die letzte Bemerkung gar nicht gehört. Wieder nickte der Junge, bevor er auffordernd die Tür der Kammer ein Stück aufstieß.

»Sind Sie bereit? Die Familie wartet!«

Mühsam stemmte sich der Patient hoch, aber die Krücken passten so gut zu seinem Körper, dass er es schaffte, die paar Schritte bis zum Küchentisch der Familie zu schaffen. Mit stolzgeschwellter Brust folgte Matthis ihm. Es wurde still, als sie eintraten. Fürsorglich rückte Matthis einen Stuhl vom Tisch ab, Papa sah auf und sagte: »Willkommen an unserem Tisch!«, dann wartete er, bis der Gast sich mit Matthis Hilfe hingesetzt hatte. Er schaute in die Runde, faltete die Hände und sprach das Tischgebet.

5.

Hannah Ahrendt wohnte in einem Kotten, genau zwischen dem Hof ihres Schwagers und der kleinen Stadt Berghausen. Zu diesem Häuschen gehörte eine alte Schmiede, die seit etlichen Jahren nicht mehr in Betrieb war, der Schmied aus S. kam alle paar Monate mit dem Wagen über Land, um die Pferde zu beschlagen. Außerdem stand ein großer Schuppen daneben, in dem Hannah ihre Ziegen hielt. Er beherbergte im Winter die Hühner und bei schlechtem Wetter auch mal die kleine Herde. Allerlei Zeug stand darin herum, das Matthis zum Spielen angeregt hatte, als er jünger war. Früher war er mindestens zwei, dreimal die Woche hier gewesen, hatte seiner Tante in ihrem großen Gemüsegarten hinter dem Haus geholfen, beim Trocknen der vielen Kräuter und bei den Ziegen, beim Käsen und allem, was dazu gehörte. Trotzdem hatte Tante Hannah ihm und seinem Vetter Paul immer Zeit gelassen, miteinander zu spielen, zu stöbern und zu toben. Anna, Peters Frau, war oft mit ihm hierhergekommen. Sie hatte vor ihrer Heirat in Berghausen gewohnt, ihre Mutter war Hannahs Freundin gewesen. Alles, was Anna über die Heilkunst wusste, hatte sie hier gelernt. Sie hatte den Kräutergarten mit angelegt und dabei Peter kennengelernt, bei einem der seltenen Male, in denen er seine Tante besuchte.

Seit ein, zwei Jahren aber spannte Matthis Vater ihn immer mehr im elterlichen Betrieb ein, und Hannah musste sehen, wie sie allein zurechtkam. Matthis hatte nie gefragt, warum Vater so entschieden hatte, obwohl er sich hier draußen immer wohlgefühlt hatte, war das Wort seines Vaters Gesetz. Er kam nur noch ein paar Mal im Monat her, wenn die Mutter ihn schickte, um ihrer Schwester etwas zu bringen. Seit dem Tag, an dem er auf dem Weg hierher Herrn Sieker gefunden hatte, wusste er ja, dass es um Ansehen, Anstand und Tugend ging, Werte, die seinem Vater außerordentlich wichtig waren. Vater konnte Tante Hannah nicht leiden, aber er hätte es trotzdem lieber gesehen, wenn sie bei ihnen auf dem Hof wohnte – Matthis verstand das nicht hinreichend. Sicher, er würde sich freuen, schließlich liebte er Hannah und ihren Sohn ja.

Matthis lief langsamer und hatte den Kotten fast erreicht, als er seine Tante aus dem Ziegenstall kommen sah. Noch halb in Gedanken platzte er heraus:

»Tante Hannah, warum wohnst du hier allein, nur mit Paul, und nicht bei uns?« Matthis hörte selbst, dass seine Frage wie die eines Kleinkinds klang, aber er wollte die Antwort endlich wissen.

Die Tante lächelte, antwortete aber nicht. »Komm mal erst herein und verschnaufe, bist ja bestimmt wieder die ganze Strecke gerannt?«

Er nickte und sie fuhr fort: »Setz dich drinnen an den Tisch!«, und folgte ihm ins Haus. Sie holte einen großen Krug aus der Speisekammer und einen kleinen Vorratsbehälter aus dem Schrank und redete vor sich hin. »Für eine Milch mit Zucker bist du noch nicht zu alt, oder? Auch wenn du ja jetzt beinah erwachsen bist? Warst ja eine Ewigkeit nicht mehr hier.« Sie fuhr dem Jungen mit der Hand durchs Haar – nur bei ihr duldete er das, bei seiner Mutter schon längst nicht mehr. Dabei musste Hannah sich recken, wenn er saß, und wenn er stand, erreichte sie seinen Kopf gar nicht. Sie war klein, rundlich, trug ihr langes, dichtes Haar in einem dicken Dutt auf dem Hinterkopf, darüber ein unter dem Kinn geknotetes Tuch, sodass man nur in der Stirn und über den Ohren ihre dunkelbraunen Haare sehen konnte. Das Kopftuch nahm sie jetzt jedoch ab.

»Paul und ich waren im Stall«, erklärte sie und setzte sich auf einen Hocker, um die schweren Holzschuhe auszuziehen. »Dorchen hat ein Zicklein bekommen. Magst du es sehen? Paul konnte ich gar nicht aus dem Stall fort bekommen!«

Matthis hatte Mühe, nicht sofort aufzuspringen und loszurennen. Er war schließlich schon vierzehn und sollte bald aus der Schule kommen, da ging das doch nicht, dass er wegen eines Zickleins …

»Na, lauf schon«, zwinkerte die Tante ihm zu, »die Milch kannst du später trinken. Ich erzähle es auch keinem weiter!«

Im Stall war es dunkel, aber Matthis hatte keine Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden. Er war früher oft hier gewesen, erst in den letzten Jahren hatte er nicht mehr sooft Zeit gehabt. »Der Vater hat nicht gewollt, dass ich gehe«, dachte er. »Zeit hätte sich schon gefunden.« Im Ziegenabteil saß ein Junge, etwas größer und schwerer als er, die dunklen Haare lagen wirr und feucht auf seinem Kopf. Er hatte beide Beine ausgebreitet und zog mit sanfter Gewalt das neugeborene Tierchen zu sich heran.

»Vorsichtig, du tust ihm ja weh!« Der Junge - sein Vetter Pauli – drehte sich um, strahlte über das ganze Gesicht. »This! This ist gekommen! Sieh mal, Zicklein!« Der Junge hatte scheinbar Mühe, alles deutlich auszusprechen, es klang so, als hätte er etwas im Mund. Matthis aber verstand ihn problemlos.

»Hallo, Pauli! Deine Mama hat es mir schon erzählt, was ist es denn, ein Mädchen oder ein Junge?« Paul hatte das Kleine losgelassen, als er sich zu seinem Vetter umgewandt hatte. Jetzt klopfte er auf den Boden neben sich, streckte dann die Hand aus, als wolle er nach Matthis greifen und sagte: »Komm, This, sieh mal das Zicklein!« Er lachte über das ganze Gesicht, seine Hände waren ständig in Bewegung, aber er grapschte unbeholfen nach dem jungen Tier, das sich zu seiner Mutter geflüchtet hatte. Matthis setzte sich neben ihn und legte ihm den Arm um die Schulter. Sofort kuschelte sich der Andere an ihn und drückte ihn fest. »Mensch, Paul, du bist ja noch stärker geworden!«, stöhnte Matthis lächelnd auf und versuchte sich, aus der stürmischen Umarmung zu lösen.

»Guck mal, da kommt das Tierchen auf uns zu. Ein kleiner Junge! Was meinst du, wie willst du ihn nennen?«

Paul legte den Kopf schief und die Finger seiner rechten Hand an den Mund. »Brauner?«, nuschelte er und Matthis grinste. »Nee, der ist doch gar nicht braun! So heißt doch das Pferd von Schulze! Denk dir was Anderes aus!«

»Wolfi?« Jetzt musste Matthis laut lachen. »So heißt der Hund von Kramers. Das Zicklein braucht doch einen eigenen Namen! Was hältst du von Flecki? Schau, er hat ganz viele Flecken auf dem Rücken!« Er deutete auf die Stellen, das Gesicht seines Vetters strahlte.

»Genau. Flecki!« Aus seinem Mundwinkel lief ein wenig Speichel. Matthis griff, einer alten Gewohnheit folgend, in Pauls Latzhose, holte sein Taschentuch heraus und wischte ihm die Spucke ab.

»This, kann ich Flecki schreiben?«

»Klar, Junge. Ich zeig’s dir! Siehst du«, er zeichnete die Buchstaben in den Staub, »F wie Feder, L wie Leder«, Paul fing an zu kichern, er liebte Reime, »E wie Erde, dann das schwere ck und noch ein I wie Igel, Flecki ist fertig. Jetzt du.«

Paul konnte schreiben, wenn er auch weitaus mehr Zeit brauchte, und Matthis übte gern mit ihm. Jedes Mal, wenn der Junge ein Wort fertigbrachte, wurde ihm warm ums Herz und er war irrsinnig stolz, weil er, Matthis, ihm das beigebracht hatte. Jetzt freute er sich über die ungelenken Buchstaben im Dreck. »Toll, das hast du gut gemacht!«

»This?« Paul kuschelte sich enger an ihn.

»Hmm?«

»Bleibst du jetzt bei mir?«

»Bis nach dem Abendessen, wie immer, denke ich.«

»Nein, immer!« Pauls Babygesicht lachte, der ganze Junge strahlte. Matthis schüttelte den Kopf.

»Du weißt doch, dass das nicht geht!« Sofort verschwand das Strahlen. Paul kämpfte sich unbeholfen hoch, das Zicklein und Dorchen hatte er längst vergessen. Als er endlich stand, stemmte er die Hände in die Seite und schimpfte, immer lauter werdend: »Ich bin sauer! Du sollst bleiben! Mama hat es gesagt!« Er stampfte mit dem Fuß auf und ging davon.

Kopfschüttelnd folgte Matthis ihm. Er wusste, Paul würde zu seiner Mutter gehen, weglaufen täte er nicht. Er kannte den Jungen in- und auswendig und er liebte ihn mindestens genauso wie seine eigenen Brüder, obwohl Paul so … anders war. Ein Trottel, Idiot, Wechselbalg, Monstrum, Missgeburt. Es gab viele, bitterböse Bezeichnungen für ihn, die Dorfkinder waren oft hinter ihnen her gerannt und hatten Paul verspottet und ihn, Matthis, beschimpft.

»Was gibst du dich mit so einem ab? Bist selber ein Idiot!«, das war noch das freundlichste, was er zu hören bekommen hatte. Aber er hatte immer zu Paul gehalten, seine Hand genommen, wenn der Junge sich vor den Kindern fürchtete, und hatte ihnen nach gerufen: »Haut ab, geht, und fragt den Pastor. Paul ist etwas ganz Besonderes!«

Aber Paul vor den Nachbarskindern verteidigen, war nur das eine. Selbst sein Vater und die älteren Brüder sprachen voller Abscheu und Hass von ihrem Neffen und Vetter, schimpften über Tante Hannah und zogen ihn, Matthis, auf.

In dem kleinen Kotten saß Paul am Küchentisch und trank die Zuckermilch, die Matthis hatte stehen lassen. Er grinste zufrieden und unbekümmert vor sich hin, den Ärger hatte er längst vergessen. »Matthis bleibt heute bis abends, dann geht er heim, kommt aber immer wieder!«, erklärte er seiner Mutter gerade. Hannah nickte und ergänzte:»Ja, Matthis ist dein Freund und Vetter, und er wird dich nicht im Stich lassen.«

»Die bösen Jungs …«

»Matthis passt auf dich auf und Mama passt auf, Anna passt auf. Der Pastor …«

»…und alle!« Paul klatschte in die dicken Hände, lachte und forderte Matthis auf: »Komm, erzählen!«

»Ja, erzähl mir von Anna. Wann kommt das Baby? Du musst mich holen, wenn es kommt, ja?«

Auf dem Heimweg ließ Matthis sich jede Menge Zeit, er rannte nicht, er schlenderte. Er nutzte den Fahrweg, statt über die Wiesen zu laufen und zottelte, tief in Gedanken versunken, am Rand der breiten Fahrspur. Nur ab und zu hob er den Kopf, wenn ein Vogel vor ihm aufflog oder ein Feldhase über den Acker sprang. Alles war noch leer, nur die Obstbäume und Hecken zwischen den einzelnen Parzellen wurden langsam grün.

Er hatte seiner Tante alles erzählt, von Sieker, wie er ihn gefunden hatte und Anna bei seiner Pflege geholfen hatte, und dass ihm das Freude bereitet hatte. »Ich helfe gern im Stall und auf dem Feld, ehrlich, Tante, ich bin nicht faul« – sie hatte den Kopf geschüttelt, nachdem er sie fragend angesehen hatte – »aber dabei zu sein, wie ein Mensch gesund wird, ihm dabei zu helfen, zu unterstützen …«, ihm hatten die Worte gefehlt, er redete selten viel. Die Tante hatte in seine glänzenden Augen gesehen und verstanden. Sie kannte dieses Glücksgefühl ja selbst. Sie hatte ihm – und unzähligen anderen Kindern – in die Welt geholfen, hatte den Alten Kräutertees gegen ihre Schmerzen gebracht und sich um die kleinen Verletzungen ihrer Nachbarn gekümmert. Allerdings nur bis … ja, bis sie Paul bekam. Niemand beanspruchte eine Hebamme, die ein Wechselbalg geboren hatte, niemand nahm Arzneitee von einer, die ein Monstrum großzog. Sie erschrak und wurde rot, als sie merkte, dass sie all dies laut ausgesprochen hatte. »Anna sagt, sie will, dass ich komme. Aber ob Peter und dein Vater das erlauben werden? Ich müsste ja Paul mitbringen, du weißt ja, dass man ihn nicht allein lassen kann!«

Matthis war in höchstem Maße erschüttert. »Tante Hannah, es tut mir so Leid. Ich wollte nicht….«

Nie zuvor hatte sie so mit ihm geredet, von sich.

Sie hatte ihn abgelenkt, ohne auf seine tröstenden Worte einzugehen. »Sieh mal, Paul!«, hatte sie gerufen, und gelacht, weil der große, schwere Junge wie ein Kätzchen zusammengerollt vor dem Küchenherd eingeschlafen war. Dann hatte sie gesagt: »Das ist die Antwort auf deine Frage. Aber jetzt wird es Zeit, dass du nach Hause kommst, du weißt, der Vater wird sonst wütend! Ich komme in den nächsten Tagen vorbei, ich helfe deiner Mutter bei den Vorbereitungen. Nun lauf!« Sie hatte ihm quasi die Jacke angezogen und zur Tür hinausgeschoben, ehe er bemerkt hatte, wie ihm geschah.

Der Fahrweg bog hier nach rechts ab und führte direkt ins Dorf, Matthis aber wendete sich nach links in den schmalen Pfad zwischen den Feldern. Man gelangte geradeso auf dem breiten Weg zum Hof, – die Fuhrwerke und Heuwagen, und natürlich die Sonntagskutsche benötigte einen befestigten Weg - aber der Fußweg war kürzer. Noch zehn Minuten, vielleicht fünfzehn, und er wäre zu Hause. Er verlangsamte sein Tempo, betrachtete eingehend den Löwenzahn auf dem Weg. Wieso erkannte er das Besondere, das Gute in Paul, und die meisten anderen, allen voran sein Vater, sahen nur mit Abscheu und Ekel auf seinen Vetter?

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