Kitabı oku: «Anders Sein», sayfa 4
7.
Am Morgen darauf regnete es in Strömen. Matthis hörte die dicken, schweren Tropfen ans Fenster prasseln, als er wach wurde. Er stand unwillig auf und zog sich nach einer kleinen Katzenwäsche für die Schule an. Regen, das hieß, klitschnass in der Schule ankommen, mit nassen Haaren im Unterricht sitzen und dann, wenn er nicht Glück hatte und es aufhörte, durch den prasselnden Regen wieder heimlaufen. Egal, er war es ja gewohnt, und lange dauerte es ja nicht, dann brauchte er diesen Weg nicht mehr bei Wind und Wetter zu laufen. »Dann muss ich nur ’rüber in den Schweinestall zum Misten. Na, ob das wirklich besser ist?« Er trabte in die Küche, brummte ein »Morgen« in Richtung seiner Mutter, die am Herd stand und in einem großen Topf rührte und setzte sich an den Tisch.
Nach dem Frühstück, das er allein eingenommen hatte wie jeden Morgen, holte er seine Schulsachen und den Regenmantel und wollte sich auf den Weg machen, als seine Mutter ihn zu sich rief.
»Heute Mittag kannst du nicht mit Sieker zu Hannah gehen, wenn es so regnet!«, sagte sie. Er sah, dass sie ungemein müde aussah, die Augen rot gerändert, die Haare, die sie sonst stets sorgfältig aufgesteckt hatte, fielen ihr strähnig ins Gesicht und über den Rücken. »Aber wenn du magst, kannst du nach der Schule noch bei Walter bleiben und mit ihm lernen oder so, also, wenn er Zeit hat natürlich.« Matthis schwieg verwundert und sah sie fragend an. Ihm fehlten die Worte.
»Tu es einfach. Ich regel das schon mit deinem Vater!« Sie setzte ihm die Kapuze auf den Kopf, drückte ihm die Schultasche in die Hand und schob ihn, wie ihre Schwester ein paar Tage vorher, aus der offen stehenden Tür. »Nun lauf, du kommst sonst noch zu spät!«, rief sie ihm hinterher, da war er aber schon fast vom Hof.
»Matthis? Schläfst du?« Matthis sprang auf, stolperte um ein Haar und versuchte, sich an seinem Pult festzuhalten. »Nein, Herr Lehrer!«, sagte er. Sein dümmlicher Gesichtsausdruck hieß ihn Lügen. Schließlich hatte sich jede Menge ereignet gestern und heute Morgen und überhaupt. Die anderen Jungen tuschelten, die Mädchen kicherten hinter vorgehaltener Hand. Matthis versuchte, sich an irgendetwas zu erinnern, das der Lehrer gesagt oder gefragt hatte, aber da war nichts. Werner raunte ihm was zu, aber er hörte ihn nicht, und dann klatschte es auch schon: Lehrer Hempelmann hatte sein schweres Lehrbuch aufs Pult fallen lassen. Matthis erschrak und riss sich zusammen.
»Entschuldigung, aber ich habe die Frage nicht verstanden!«, stotterte er, alle lachten, nur Hempelmann erwiderte trocken: »Ja, das hab ich gemerkt! Vielleicht gehst du mal vor an die große Weltkarte und zeigst uns, wo Swakopmund liegt? Wir sprachen von den Missionaren dort, mein Bruder hat mir einen Brief geschickt, den ich vorgelesen hatte!«
»Es tut mir leid«, antwortete Matthis, versuchte zu lächeln und nahm den Zeigestock, den Hempelmann ihm hinhielt. »Hier in Deutsch Südwest liegt die Stadt Swakopmund, im Norden wird sie von der namibischen Wüste begrenzt, im Westen ist die Südatlantikküste. Es herrscht dort ein angenehmes Klima, im Durchschnitt ….«
»Ist ja gut. Da kann ich ja gar nicht böse mit dir sein, wenn du deine Lektion so gut gelernt hast! Egon, mach du mal weiter!«
Matthis genoss diese Schulstunde, obwohl er am Anfang seinen eigenen Gedanken nachgehangen hatte. Herr Hempelmann hatte schon zum wiederholten Male aus Briefen vorgelesen, die sein Bruder aus der Missionsstation in Swakopmund, schickte. Er berichtete darin anschaulich von dem ungewöhnlichen, harten Leben, von den Mühen, eine Schule aufzubauen und von den vielen Aspekten seiner Aufgabe dort. Missionar zu sein, das war etwas anderes, als tagein tagaus Ställe ausmisten, Schweine und Rinder verpflegen und auf dem Acker zu schuften. Sein Finger flog in die Luft, jetzt schon zum dritten oder vierten Mal, während der Lehrer las. »Ja, Matthis?«
»Woher genau bekommt denn die Missionsstation ihre Nahrung, baut der Missionar, also ihr Bruder, das selber an? Hat er auch einen Brunnen gebohrt? Afrika ist doch sehr trocken? Und halten sie dort auch Tiere?« »Matthis, gib doch Ruhe«, raunte Albert von hinten, »die haben doch Nilpferde und Seekühe«. Alle lachten, nur Lehrer Hempelmann verkniff es sich, und Matthis schlug sich mit der Hand vor die Stirn: »Klar, und so Kamele wie dich, nicht?« Damit hatte er die Lacher auf seiner Seite, aber er merkte, dass er es mit seinen Fragen übertrieben hatte, seine Mitschüler malten Kringel in ihre Hefte, schauten aus dem Fenster oder flüsterten leise mit ihren Sitznachbarn. »Ich gebe dir, wenn du willst, nachher den ganzen Brief, jetzt habe ich nur Ausschnitte vorgelesen. Da kannst du dann alles nochmal nachlesen«, versprach Hempelmann. »Lehrers Liebling!«, hörte Matthis von hinten rufen, ohne die Stimme zu erkennen. Er mochte seine Mitschüler, aber sie waren so uninteressiert. Sie warteten nur auf das Ende der Stunde, des Schultages und auf den Moment, wo sie nie wieder hier her zu kommen brauchten. Die meisten von ihnen blieben Bauern – Egon beispielsweise würde eines Tages den Hof seines Vaters erben, einen der großen Ackerbaubetriebe mit eigener Mühle. Die Mädchen seiner Klasse halfen der Mutter zum Teil zu Hause, bis sie verheiratet waren, andere gingen nach der Schule in Stellung. Alle hatten einen vorgezeichneten Weg und keiner von ihnen wollte etwas anderes oder konnte sich etwas anderes vorstellen. Nur er, Matthis, er hoffte darauf, dass er in seinem Leben eine Chance auf Veränderung hatte.
Nach Schulschluss blieb Matthis wie mit seiner Mutter verabredet bei seinem Freund Walter. Walter war der Sohn von Lehrer Hempelmann und der einzige, der nach der Konfirmation in die Stadt gehen würde. Dort würde er bei einer entfernten Cousine wohnen und das dortige Gymnasium besuchen. Walter wäre lieber auf dem Land geblieben, früher hatten sie oft über die Idee gelacht, schlichtweg zu tauschen. »Vater wäre glücklich, dass sein Sohn pariert und gern die Schweine füttert, und ich könnte in der Stadt was erleben!«
»Genau, ich bräuchte mir nicht nächtelang irgendwelchen Kram einbläuen, den ich nie verstehen werde, und du könntest nicht nur, nein du müsstest sogar jeden Tag lesen und lernen. Ich hingegen ginge jeden freien Tag zum Schmiedebach zum Angeln und machte mir um nichts mehr Sorgen. Alle wären glücklich und zufrieden.«
»Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Schade, dass wir jetzt erwachsen werden, nicht?«
Aber Matthis grinste dabei. Walter schubste ihn freundschaftlich und begann eine Balgerei. Die Jungen kugelten über die Wiese, boxten sich in die Rippen und tollten herum, als gäbe es kein Morgen.
»Komm, lass uns angeln gehen, nach einem solchen Regen beißen sie gut«, forderte Walter ihn nach einer Weile auf, und sie trabten hinunter zum Bach und versuchten, mit selbstgemachten Angeln einen der wenigen kleinen Fische zu erwischen. Er als sein Magen anfing zu knurren, sagte Matthis: »Ich muss jetzt heim, sonst gibt es Ärger. Ich weiß sowieso nicht, warum ich heute hier sein durfte, was in Mutter gefahren ist. Und -«, er grinste resigniert, »– wer die Schweine heute füttert, weiß ich auch nicht!«
»Dann grüß die Schweine!« Walter feixte.
»Noch sechs Wochen!«
»Ja, noch sechs Wochen!« Alle Jungs der letzten Klasse verabschiedeten sich seit Weihnachten mit der jeweiligen Wochenzahl, die es dauern würde, bis sie aus der Schule kamen.
8.
»Wir haben viel Zeit, in ein und einer halben Stunde sind wir da, und das ist immer noch vor Mittag!«
»Aber ich möchte stramm gehen, ich will sehen, ob ich es schaffe, schließlich will ich ja nach Hause zurück!«
»Anna hat gesagt, wir sollen es langsam angehen lassen und zwischendrin sogar rasten. Ich soll darauf achten, hat sie gesagt!« Matthis und Sieker waren am einem Samstag, morgens früh, aufgebrochen. Die Schule fiel heute für die Ältesten aus, Hempelmann gedachte, die Jüngeren vor Ostern gründlich zu examinieren. Anna hatte protestiert, Sieker sei bisher nicht gesund genug für diese Wanderung, er solle besser mit dem Wagen fahren, sie übernähme sonst keine Verantwortung. Der Tischler aber bestand darauf. »Die Luft wird mir guttun, nach all der langen Zeit, die ich gelegen habe, und meine Muskeln muss ich auch wieder anstrengen, damit sie sich ans Gehen gewöhnen«, hatte er entgegnet. Anna hatte achselzuckend eingewilligt, nicht ohne Matthis das Versprechen abzunehmen, darauf zu achten, dass der Patient nicht außer Atem geriete, genügend Wasser trinke und sich nur mäßig anstrenge. Matthis nahm diese Aufgabe ernst. Er hatte für den Weg zwei Stunden geplant, für die Strecke, die er allein leicht in einer schaffte, und sie waren im Augenblick schon eine halbe Stunde unterwegs. Der Tischler schritt weit aus, blieb aber manchmal stehen und schaute sich um. Er hustete.
Der Schweiß lief ihr in die Augen, der Rücken schmerzte, die Beine taten weh und Hannah hatte nur einen einzigen Wunsch, Ruhe. Eine Pause, ein paar Minuten still sitzen. Aber die Ziegen brauchten das frische Heu jetzt, außerdem wurde es Zeit, nach Paul zu sehen und das Abendbrot vorzubereiten. Sie liebte ihren Sohn so, wie er war, von ganzem Herzen. Trotz alledem träumte sie in geheimen Momenten, er würde eines Tages erwachsen werden und ihr bei der Arbeit helfen. Manchmal war ihr alles zu viel. Damals, bei Paulis Geburt, erst drei Jahre nach der Hochzeit, ach, da war sie so stolz auf ihn und auf sich gewesen. Paul, ihr Mann, hatte sich unbändig gefreut, endlich, ein Stammhalter! Zunächst hatte niemand gemerkt, dass mit dem Kind etwas nicht in Ordnung war, nur seine Augen standen etwas schräg, das war ausgefallen, aber auf seine Art eindrucksvoll. Er war damals schon schwer und groß gewesen, Hannah hatte nach der Geburt lange gebraucht, bis sie sich vollends erholt hatte. Im ersten Jahr war alles beinah normal gewesen, dann aber kamen die Bemerkungen der Frauen.
»Er sollte langsam mal anfangen zu krabbeln, nicht?«
»Sagt er wenigstens schon Mama?«
»Wieso bekommt er immer noch Milch und Brei, so langsam kannst du doch umstellen?«
»Ja, ja, späte Mütter verwöhnen ihre Kinder!«
Sie selbst hatte sich kaum Gedanken gemacht, obwohl ihr als Hebamme auffiel, dass Pauli mit allem spät dran war. Er war so ein liebes, zufriedenes Kind, und sie fand ihn wunderbar. Dann geschah der Unfall und sie stand plötzlich allein mit dem Jungen da. Sie hatte just mit Pauli gespielt und endlich, mit fast 18 Monaten, hatte Pauli es geschafft, sich hochzuziehen und einen Schritt auf sie zuzumachen. Da hatte sie von weitem durch das geöffnete Fenster Rufe gehört. Sie erinnerte sich genau, wie sie das Kind auf den Arm genommen hatte und mit ihm gescherzt hatte, »komm, wir gucken mal, was da los ist!«, hatte sie gesagt und war mit ihm vor das Haus gegangen. Zwei Männer trugen auf einer Art Trage ihren Paul. Ihren kraftstrotzenden, lebenslustigen, liebevollen Mann. Sie brachten ihn gleich in die Kammer. Man sah ihm kaum etwas an, nur ein wenig Blut im Mundwinkel. Und blass war er, beinahe weiß. Sie hatte Pauli abgestellt, das war jetzt nicht wichtig, sie musste sehen, was mit Paul geschehen war.
»Georgs großer Hengst«, sagte einer der Träger mit zitternder Stimme. Hannah erkannte Willi, Georgs Nachbarn.
»Er hat ausgetreten, Paul hat den Huf direkt in die Brust gekriegt.« Er brachte das tonlos vor, war selbst blutleer und den Tränen nah.
»Jemand muss meine Schwester holen, sie soll Pauli zu sich nehmen, bis ich seinen Vater gesund gepflegt habe!«, hatte sie gesagt, und einer der Männer ging gleich los, aber da trat Georg auf sie zu, legte ihr die Hand schwer auf die Schulter und fragte: »Gesund?«
»Gesund! Und jetzt lasst mich in Ruhe, alle! Raus!« Sie hatte geschrien, hatte die Nachbarn hinausgeschmissen, aber geweint hatte sie nicht. Sie hatte sich warmes Wasser gemacht, Paul so behutsam wie möglich ausgezogen und angefangen, ihn zu waschen. Der riesengroße blaue Fleck direkt unter der linken Brust am Herzen hatte sie nicht abgeschreckt, sie war schonend, aber mit fester Hand vorgegangen. Sie hatte ihm Tee eingeflößt, der den Schmerz nehmen sollte und hatte dann den Oberkörper bandagiert. Immer wieder hatte sie Tee gekocht, ihm die Stirn gewischt, leise mit ihm gesprochen, zugesehen, wie sein Brustkorb sich hob und senkte, auf – ab – ein – aus. Solange der Mensch atmet, besteht Hoffnung, das hatte ihre Großmutter damals gesagt, als sie Hannah gezeigt hatte, wie man Wunden versorgt und sich um Kranke kümmert, und für Hannah war dieser Satz jetzt die Beschwörungsformel. Er atmet, ich habe Grund zur Hoffnung. Sie versuchte, zu beten, aber die richtigen Worte fielen ihr nicht ein. Irgendwann mussten ihr die Augen zugefallen sein, denn als sie aufschreckte, war es stockdunkel draußen. Sie zündete ein Licht an und warf zögernd einen Blick auf ihren Mann. Auf – ab. Er atmete. Sie begann die Prozedur von vorn, waschen, Tee einflößen, trösten. Am Morgen kam der Pastor vorbei, er hatte seine Frau mitgebracht, und die werkelte in der Küche, während der Geistliche seine Gebete sprach. »Wie geht es?«, hatte er mit mitleidigem Gesicht gefragt, und sie hatte erwidert: »Er atmet. Solange der Mensch atmet, besteht Hoffnung.« Frau Decius kam herein, einen Teller Suppe tragend. Sie stellte ihn auf ein Tischchen neben dem Bett, legte einen Löffel daneben, eine Serviette, ein Stück Brot. »Du hilfst ihm nicht, wenn du hungerst!«, sagte sie und drückte Hannah das Essgerät in die Hand.
»Iss!«, befahl sie und blieb neben ihr stehen, bis der Teller leer war. Hannah aß, obwohl sie kaum schmeckte, was. Dann waren der Pastor und seine Frau fort, nicht ohne zu versprechen, wieder zu kommen. Hannah kochte Tee und schaute weiter zu, wie Paul atmete. Ab und zu kam jemand vorbei, Nachbarn, Verwandte, der Pastor wieder. Hannah bemerkte es kaum, tat, was sie konnte. Paul stöhnte kaum, lag nur da, mit geschlossenen Augen, aber er atmete. Erst nach vier Tagen und fast fünf Nächten hörte Paul damit auf. Er hatte die Augen und den Mund kurz geöffnet, hatte etwas sagen wollen, aber dann kam nur dieser eine Atemzug, schwer, röchelnd – und dann die Stille.
Selbst jetzt weinte Hannah nicht. Sie wusch den toten Körper ihres Mannes mit schweren, müden Bewegungen, trank einen Schluck Tee und legte sich zu ihm, so nah wie immer. Sie dachte nicht, sie grübelte nicht, sie war jenseits von Trauer und Schmerz, zutiefst erschüttert. Nach vier Tagen Wachen war sie unendlich müde und suchte beim ihm ein letztes Mal Halt, wo es keinen mehr gab. Sie schlief ein. So fand sie am Morgen ihre Schwester.
Die Trauerfeier gab ihr keinen Funken Trost, die Rituale halfen ihr nur, den Tag zu überstehen. Wochenlang lebte sie wie im Nebel, nichts drang an sie heran, außer ihrem Kind nahm sie niemanden wahr. Martha und Karl waren häufig bei ihr, und immer hatte ihr Schwager nur das eine Thema: »Ich muss jetzt für euch sorgen, und das werde ich auch, wenn du endlich zusammenpacken und mit uns kommen würdest. Was willst du denn noch hier in der alten Schmiede? Paul ist tot!« Martha versuchte, ihren Mann zum Schweigen zu bringen, aber der ereiferte sich immer mehr.
»Nimm doch endlich Vernunft an, du kannst doch so allein hier nicht leben. Wie sieht das denn aus? Und wovon willst du leben?« Aber Hannah antwortete nicht. Sie sprach überhaupt nicht in dieser Zeit und war am liebsten mit Pauli allein. Der Pastor kam ebenso immer wieder.
»Es wird der Tag kommen, an dem du nicht mehr weinen musst«, versprach er, »du bist doch eine junge Frau, es wird eines Tages ein anderer Mann kommen, und dann wirst du wieder glücklich werden.« Die Nachbarn kamen und gingen, Hannah war nicht unfreundlich, sie reagierte schlicht nicht auf die Ansprache und den Trost, den man ihr zu bieten versuchte. Sie schwieg und beschäftigte sich mit ihrem Sohn. Eines Tages kam dann Georg, der Nachbarn, dessen Pferd Paul erschlagen hatte. Sie kannten sich seit langer Zeit, sie hatten zusammen gespielt, gelernt und waren im selben Jahr konfirmiert worden. Georg hatte sich seit der Beerdigung nicht blicken lassen, aber am Abend davor hatte er mit ihr die Totenwache gehalten. Sie hatten wenig geredet und trotzdem spürte Hannah, dass Pauls Tod schwer auf Georg lastete.
»Ich weiß, dass ich nichts wieder gut machen kann, aber ich habe dir etwas mitgebracht«, hatte er gesagt.
»Ich bin nicht böse auf dich«, hatte Hannah erwidert, und auf sein beredtes Schweigen platzte sie mit einem Mal heraus: »Gott! Ich bin böse auf Gott! Ich habe so eine Wut auf ihn, dass ich den ganzen Tag laut schreien, Dinge kaputtmachen könnte. Es ist so ungerecht!« Sie schrie, heulte, Wochen nach dem Unfall brach endlich der Damm, brachen alle Dämme, und sie weinte, weinte, weinte. Georg sagte nichts und tat nichts. Er hatte keinen Trost für sie, Paul war ebenso sein Freund gewesen, er fand es selbst nicht in Ordnung, dass dieses junge lebenslustige Nachbarmädchen, das er von früher kannte, eine verzweifelte hoffnungs- und freudlose Witwe war. Sie hatte sich neben den Herd gekauert, um ein bisschen Wärme zu spüren, jetzt, wo es so kalt in ihrem Leben geworden war. Er nahm sie am Arm und führte sie zu dem bequemen Sessel, schenkte eine Tasse Tee ein und setzte sich neben sie, wie in jener Nacht vor der Beerdigung sprach er kaum ein Wort, er war nur da. Sie weinte, erst laut, aufgebracht, mit voller Kraft, dann immer leiser, verzweifelter. Als sie einschlief, holte er die Decke vom Bett und deckte sie zu, dann holte er den Jungen, der vor sich hin brabbelnd in seinem Bettchen gesessen hatte und nahm ihn mit hinaus.
»Schau mal, die Ziegen! Dies ist Kalle und das ist Dora. Sie gehören jetzt der Mama und dir!« Er hob den Jungen auf einen Strohballen und begann, den Schuppen in einen Unterstand für die Tiere zu verwandeln.
Als Hannah erwachte, war es längst dunkel. Sie saß in der Stube im großen Sessel, zugedeckt, und sie fühlte sich frisch. So tief hatte sie lang nicht geschlafen. Aus der Küche drang Licht durch die wenig geöffnete Tür, sie hörte Pauli lachen. Sie stand auf und sah nach. Georg hatte dem Jungen einen Becher Milch hingestellt und ein Brot belegt, dieses in Stückchen geschnitten und fütterte damit ihren Sohn, in dem er die kleinen Häppchen von weitem auf Paulis Mund zubewegte.
»Achtung, da kommt noch eins geflogen!«, rief er und zwitscherte wie ein Vogel. Pauli sperrte vor Staunen den Mund auf und zack, verschwand das Brotstück.
Die beiden schauten kaum auf, als sie hereinkam, und erst nachdem das Brot aufgegessen und die Milch getrunken war, kletterte der kleine Junge von seinem Stuhl herunter und auf ihren Schoß. »Mama«, flüsterte er, schmiegte sich eng an sie und schlief ein.
»Du bist ja immer noch da«, sagte sie zu Georg.
»Es musste sich doch jemand um den Kleinen kümmern, nicht? Und um eure Ziegen.«
»Ich habe doch gar keine Ziegen«,
»Doch, seit heute schon. Weißt du noch, wie gern ich deinen Ziegenkäse gegessen habe? Du brauchst eine Arbeit, die dir Geld einbringt, wenn du nicht zu deinem Schwager auf den Hof ziehen willst. Eine, die es dir erlaubt, bei Pauli zu sein. - Was ist das mit ihm?«, er stellte die Frage sachlich und ohne Scheu, daher war sie in der Lage, darauf genauso zu antworten: »Der Lehrer sagt, man nennt es mongoloid. Die Mongolen sind ein asiatisches Volk, die alle solche Augenform haben. Mongoloide Idiotie, so hat er es genannt. Aber Pauli ist kein Idiot, er kann lernen. Schau, er läuft, und er sagt Mama!«
»Er ist aber auch schon fast zwei, oder?«
»Ja, das stimmt. Es dauert alles viel länger.« Sie zuckte mit den Achseln. »Er ist mein Kind, Pauls Sohn. Ich liebe ihn und finde ihn großartig. Er ist so fröhlich, so zärtlich. Aber ich habe Angst vor dem Tag, wenn die Frauen das merken.«
»Umso besser, dass du jetzt die Ziegen hast.«
An diesem Tag hatte sich etwas für Hannah geändert. Unter Umständen, weil sie ihre Wut, ihre Trauer nicht mehr verbergen wollte, möglich, weil sie tagaus, tagein soviel Arbeit hatte, dass sie zum Grübeln keine Zeit mehr fand. Sie kümmerte sich um die Ziegen, hatte übers Jahr schon ein paar Zicklein, die nach angemessener Frist wieder für Milch sorgten, und stellte Ziegenkäse her, den Georg mit zum Markt nahm, wenn er dort einmal die Woche seine Ware anbot. Pauli hatte sie immer und überall dabei, sei es im Stall, in der Küche oder auf der Weide, die sie gleich hinter der alten Schmiede angelegt hatte.
Sie hatte das bewegliche Werkzeug verkauft, aber die Werkstatt selbst ließ sie leer stehen. Ihrem Schwager, der weiterhin meinte, es gehöre sich nicht, dass sie mit ihrem Sohn alleine lebt, erteilte sie regelmäßig eine Absage, bis er es aufgab, zu fragen.
»Käse!«
»Käse!«
»Ja, genau. Toll, du bist ein guter Junge!«
»Guter Junge!« Paulis Sprachbemühungen glichen einem Echo, er sprach gutwillig alles nach, was seine Mutter ihm vorsagte, aber eigene Sätze bildete er nicht. Martha, ihre Schwester, kam des Öfteren vorbei, häufig mit Anton und Matthis, ihrem Jüngsten. Matthis war fast fünf Jahre älter als Pauli, trotzdem gaben die beiden ein großartiges Paar ab. Sie hatten einander sehr gern, umarmten sich ständig, der Große schleppte den Kleinen unentwegt mit sich herum und zeigte ihm seine Welt. Der damals neunjährige Anton behandelte Pauli nicht anders als seinen kleinen Bruder, er lehrte die beiden Jungen allerlei, vor allem Unsinn.
Bald kamen die ersten Dorfbewohner wieder, um Hannah bei ihren alltäglichen gesundheitlichen Problemen um Rat zu fragen und sich ihren Tee abzuholen. Hannah war schon immer zurückhaltend gewesen, hatte sich nie um das Gerede gestört, das in einem Dorf an der Tagesordnung war. Auch jetzt dauerte es ein paar Wochen, bis sie merkte, dass die Leute tuschelten. Sie kamen, oft mit den fadenscheinigsten Wehwehchen und berichteten ihr von irgend welchen Beschwerden, während sie mit herumstreifenden Augen Pauli beobachteten und versuchten, mit ihm zu reden. Sie starrten den Kleinen an, bedrängten ihn buchstäblich, wenn er auf seiner Spieldecke saß und hatten für seine Mutter und ihre Ratschläge kaum ein Ohr. Eines Tages erfuhr Hannah zufällig, dass die Frau des Krämers, Elisabeth, schwanger sei. Die Hebamme wunderte sie sich ein wenig, dass Elisabeth nicht nach ihr gerufen hatte, meist hatte sie vor alle anderen im Dorf Kenntnis von einer Schwangerschaft. Sie stellte eine Kräutermischung gegen die morgendliche Übelkeit zusammen und bat Anna, Georgs Tochter, sie möge dies doch der Bäckersfrau bringen, mit einem freundlichen Gruß, und ausrichten, dass sie gern persönlich einmal vorbeikommen dürfte. Die kleine Anna war damals so neun oder zehn Jahre alt und besuchte Hannah häufig, um ihr im Kräutergarten und bei den Ziegen zu helfen und von ihr zu lernen. Sie war ein resolutes, ehrliches Kind, eine, die wusste, was sie wollte. Darum wunderte sich Hannah, dass das Mädchen rot wurde und zu Boden schaute. »Ich, äh, gehe nicht zum Bäcker, äh, tut mir leid, aber äh …«
Hannah setzte sich hin und zog die Kleine zwischen ihre Knie. Bedrückte das Kind irgendetwas?
»Was ist los?«, fragte sie behutsam, trotzdem wurde Anna nervöser.
»Ich soll es dir nicht sagen, hat Papa gesagt. Mama meint aber, du sollst es wissen, sie wollte mich heute hier abholen und es sagen, aber ich darf nichts sagen, das haben beide verboten!« Sie sprudelte in ihrer Not und Aufregung die Worte nur so heraus, holte kaum Luft, ihre Stimme überschlug sich fast und dann riss sie sich los und rannte weinend hinaus – direkt in ihre Mutter hinein. So erfuhr Hannah an diesem Abend, dass man ihren Sohn im Ort für ein Monstrum hielt, eine Missgeburt, ein Scheusal. Keines der aufdringlichen Weiber hatte sich getraut, ihr das ins Gesicht zu sagen, aber es wurde an jeder Ecke weitergetratscht: Die Hebamme zog das Pech an, ihr Kind war ein Idiot, und das Beste für alle wäre, sie würde mit dem Balg verschwinden. Niemand wollte mehr Hilfe von ihr, die Tees hatten man fortgeschmissen. Auf gar keinen Fall durfte sie in die Nähe einer Schwangeren kommen, man ahnte ja nur, welch schreckliches Schicksal das Baby erwartete, das sie auf die Welt holte!
Georgs Frau Maria trottete an diesem Abend tief bedrückt mit ihrer Tochter nach Hause. Hannah war am Boden zerstört. Am liebsten würde sie ihr Pauli nehmen und weit, weit fort gehen – aber wohin? Hier hatte sie wenigstens ein paar Menschen, die zu ihr hielten und ihr halfen. Sie kam gut über die Runden mit dem Geld vom Käse. Ihre Schwester lebte in der Nähe, Georg und Maria, der Pastor und seine Frau unterstützten sie, wo immer es möglich war. Sie alle hatten ihren Pauli genauso gern wie sie. Aber das gemeine Getratsche traf sie trotzdem bis ins Mark. Diesen Menschen hatte sie ihre Zeit gewidmet, hatte sie, wenn nötig, mitten in der Nacht besucht, um Wunden zu versorgen, Kinder auf die Welt zu holen, kleine Blessuren und Unpässlichkeiten zu behandeln. Sie hatte ihnen vertraut, hatte gedacht, hierher und dazu zu gehören. Unter diesen Umständen aber war alles anders.
Beinahe zehn Jahre lag das jetzt zurück, Hannah war im Ort geblieben, hatte weitergemacht, weil es keinen Ausweg gegeben hatte. Jeden Sonntag, wenn sie mit Pauli die Kirche besuchte, hatte der alte Geistliche das Kind auf den Arm genommen und geküsst, hatte eines Tages sogar seine Enkel mit ihm spielen lassen, als diese zu Besuch waren. Anna, Anton, Matthis, Peter und Erich waren für ihren Sohn immer Spielkameraden, wenn auch die beiden großen Jungs bald ihrem Vater nachplapperten, was für ein Idiot der Kleine sei. Sie waren stets liebevoll, sobald sie ihn trafen, und spielten geduldig mit ihm. Karl war eben Karl. Hannah hielt ihn im Grunde für einen netten Kerl, der aber eine Menge auf die Meinung der anderen gab. Feste Regeln, stures Einhalten von Verhaltensvorschriften und bloß nichts Neues begreifen müssen, dann ging es ihrem Schwager gut. Immer wieder schimpfte er lauthals darüber, dass sie als Witwe allein lebte und dass dieses Kind eine Schande sei. Trotzdem hatte sie schon oft beobachtet, dass er Pauli die größte Scheibe vom Honigbrot oder ein besonders gutes Stück Schinken zuschob, wenn keiner hinsah.
Nach und nach hatten die Nachbarn vergessen, dass Pauli anders und fremd war, doch Hannah vergaß nie. Selbst als sie wieder als Hebamme angefragt wurde, lehnte sie ab und sagte nur, sie habe so viel mit den Ziegen zu tun, da ginge es eben nicht. Aber sie lehrte Anna alles, was sie wusste und freute sich, dass dieses anständige Mädchen die neue Hausfrau auf dem Meyerhof werden würde. Sie selbst träumte weiter von einem neuen Anfang, irgendwo, wo sie niemand kannte.